Tour Efele
30

 

Wie eine Besessene rase ich durch Paris, schäumend vor Wut. Ich trete zu hart aufs Gas, wenn die Ampeln auf Grün umspringen, endlich - ich schlage mit der Hand auf die Hupe, haue aufs Lenkrad, fluche laut. Das Gefühl der heiteren Gelassenheit hat mich genauso schnell verlassen, wie es in mir erwacht war. Ich stelle mir Carlo vor, male mir aus, was die beiden zusammen in der Wohnung treiben - wie sie sich lieben, duschen, die Spuren ihres Beisammenseins abwaschen. Benutzt er etwa meine Sachen, mein Shampoo, meinen Kamm? Rubbelt er sich mit meinem Handtuch trocken?

Lachen sie über mich?

Ich fühle mich betrogen. Ich komme mir so dumm vor, so unendlich naiv! Dieses Mädchen, diese Frau, die ich schon so lange kenne, der ich vertraut habe - meine beste Freundin! Mir schwirrt der Kopf, als ich versuche, die Teile dieses grotesken Puzzles zusammenzusetzen.

Ich denke daran, wie Carlo mich damals aus Italien angerufen hat. »Komm nach Florenz, Anna!« Und wie Beattie mit verschränkten Armen in der Tür zu meinem Schlafzimmer stand, ärgerlich, und mir beim Packen zusah. »Und die Arbeit, Annie?« Die Stimme der Vernunft. Mein Gewissen! Und ich hatte geglaubt, sie mache sich ernsthaft Gedanken um mich!

Ich Dummerchen, ich hatte mich einfangen lassen vom Wirbelwind seiner Launen und Versprechungen, von seinem Lächeln und dem Entzücken in seinem Blick. Für vernünftige Überlegungen oder Beatties Warnungen hatte ich kein Ohr mehr gehabt, so berauscht, so fasziniert war ich von Carlos Unberechenbarkeit. »Die Arbeit kann mich mal«, erwiderte ich lachend.

»Sag das mal der Schneekönigin! Da wird sie bestimmt begeistert sein.«

»Ich rufe sie an und sage, ich hätte eine schlimme Erkältung.«

»Hm. Von deinem Krankenbett in Italien aus?«

Und als ich am nächsten Morgen, einem frischen, bewölkten Dezembermorgen, in der Stazione Centrale aus dem Zug kletterte, stand Carlo auf dem Bahnsteig und erwartete mich. Wir fuhren endlos durch die Stadt, Einbahnstraßen entlang, die uns dorthin zurückzubringen schienen, wo wir gerade hergekommen waren. Aber nein, schließlich kamen wir doch an, vor seiner Wohnung in der Nähe der Piazza del Duomo.

Carlo in Italien hatte Ähnlichkeit mit Charlie, als er klein war und buchstäblich jedem, der gerade zufällig vorbeikam, seine Spielsachen zeigen wollte. Italien war Carlos Spielplatz - die Uffizien, die Statue des David auf der Piazza della Signoria, der Ponte Vecchio, die zahllosen Cafés. Mit alldem wollte er vor mir prahlen - mit seinem Italien. »Bleib doch noch!« Also blieb ich länger als geplant - aber eigentlich hatte ich ja gar nichts geplant. »Vergiss deinen Job, Anna! Ich besorg dir einen Neuen.« Seine Versprechungen - er versprach mir das Blaue vom Himmel herunter. Und so wurde meine erfundene schwere Erkältung zur Grippe und dann zur Lungenentzündung.

»Mmm«, sagte die Schneekönigin kalt und legte auf.

Beatties Warnungen am Telefon: »Du verlierst deine Stelle, Annie!«

Während ich jetzt an der Ampel warte, mitten in Paris, denke ich zurück, aber dieses Mal nicht wie eine Mondsüchtige. Ich denke ganz bis an den Anfang zurück, siebzehn Jahre, bis zu dem Tag, an dem ich sie kennengelernt habe. Ich war zum ersten Mal in der Sprachenschule Colangue, und die Schneekönigin wollte mir die Schule zeigen. Sie hetzte mich von einem Raum zum nächsten, als wäre sie das weiße Kaninchen - »Ich habe so viel zu tun. ich erkläre das später« -, sodass sie mir schließlich gar nichts zeigte. Ich folgte ihr durch den Flur, bemüht, bei ihrem Tempo mitzuhalten, als Beattie erschien. Sie kam auf uns zu.

Beattie trug Bücher, einen hohen Stapel, den sie mit dem Kinn festhielt. Das rote Haar hatte sie lose zu einem strubbligen Knoten hochgesteckt. Die Schneekönigin teilte mir gerade über die Schulter mit, ich könne am Montag anfangen. Ihr blondes Haar flog, ihre langen Beine bewegten sich schnell - die Effizienz in Person. Daher bemerkte sie Beattie erst, als es schon zu spät war, als die beiden mit den Köpfen voran zusammenstießen und die Bücher verstreut zu ihren Füßen lagen.

»Ach, Beattie! Sie sollten wirklich aufpassen, wo Sie hinlaufen!«

Beattie musterte mich mit ihren grünen Augen, während wir gemeinsam auf dem Fußboden knieten und ihre Bücher aufsammelten. Über uns schwebte wartend die Schneekönigin. Sie war ungeduldig, ihre langen, gestählten Beine waren immer noch in Bewegung, sie trat von einem Fuß auf den anderen, als wäre sie ein Fohlen, das am liebsten die Flucht ergreifen wollte. »Wissen Sie, Beattie, Sie kommen mir wie gerufen ...«

Beatties Grinsen, als sie mir in die Augen schaute. »Lassen Sie mich raten, Murielle - Sie möchten, dass ich der Neuen alles zeige?«

Da hatte ich ihr zugelächelt.

»Wunderbar!«, rief die Schneekönigin noch zurück, indem sie schon wieder davonstürmte. »Dann überlasse ich das ihnen!«

»Sagen Sie, hat die Neue auch einen Namen?«, rief Beattie noch hinter ihr her.

Aber die Schneekönigin war schon um die Ecke gesaust, schneller als das Licht, während wir immer noch voreinander im Flur hockten.

Ich streckte die Hand aus. »Ich bin Annie - aus Australien.«

Beatties Händedruck war fest. »Freut mich, Annie. Aus Australien, sagst du? Das hätte ich ja nie vermutet.«

Ich mochte sie sofort. Sie sprühte vor Temperament und hatte einen boshaften Sinn für Humor, mit dem sie andere zum Lachen oder auch zum Weinen bringen konnte, je nachdem, wie sie gerade gelaunt war.

Ich weine, als ich jetzt vor Marcs Wohnung parke. Er ist wach, beim Hereinkommen höre ich ihn in der Küche. ich werfe die Schlüssel auf das Schränkchen, knalle meine Sporttasche auf den Boden und bleibe im Flur stehen. ich höre, wie das Wasser durch die Kaffeemaschine gurgelt, atme den Duft des Kaffees, der durch den Filter läuft. Die Croissants habe ich ganz vergessen. Am liebsten würde ich wieder ins Bett kriechen und mir die Decke über den Kopf ziehen.

»Wo warst du?« Marc lächelt mir zu, als ich in die Küche trete.

Aber mein Kopf tut weh. ich fuchtle mit der Hand vor meinem Gesicht herum. Nein, heißt das. ich brauche Kaffee. Ich muss darüber nachdenken! Ich schnappe mir eine Tasse aus dem Regal. Marc nimmt sie mir ab. Wortlos schenkt er mir ein, und ich nehme den Kaffee entgegen, ohne mich zu bedanken. Ich muss mich hinsetzen, muss über Carlo nachdenken, diesen geheimnistuerischen Scheißkerl, und über beattie.

Beattie!

Ich sitze am Küchentisch und starre auf die Straße hinaus. ich spüre Marcs Hand auf meiner Schulter, er hebt mein Haar, drückt mir einen Kuss auf den Nacken, als er sich zu mir setzt, presst die Knie gegen mein Bein. Ich überlege, wann es begonnen hat, ab wann beattie immer wieder mal verschwunden ist. Aber ich kann mich nicht daran erinnern. Nur eins ist sicher - ich weiß genau, dass es in derselben Zeit war, in der ich mich mit Carlo getroffen habe. Und in all den Jahren, die seither vergangen sind, in all den Briefen, die sie mir aus Frankreich geschrieben hat, hat sie es nie erwähnt, nicht einmal andeutungsweise, und auch keine Spur von schlechtem Gewissen durchblicken lassen.

Dieser Betrug macht mich fassungslos; wie vor den Kopf geschlagen bin ich von beatties so gut gehütetem Geheimnis. Ich möchte sofort ihre Briefe herauskramen und mich darin vertiefen, nach einem Hinweis auf ihren Betrug suchen, zwischen ihren handgeschriebenen Zeilen lesen. Entdecken, was ich in all den Jahren übersehen habe. Aber das geht natürlich nicht. Der dicke Packen Briefe, Geburtstagskarten und Postkarten, den ich als Tribut an unsere Freundschaft zu Hause in Lherm auf dem obersten Bord meines Kleiderschrankes in einem Schuhkarton verstaut habe, ist noch nicht geschrieben.

Endlich breche ich das Schweigen. »ich hab's rausgekriegt.« Aber ich spreche mehr mit mir selbst als mit Marc - meine Stimme ist heiser und tonlos.

Marc streichelt mein Bein. »Quoi? Was hast du rausgekriegt?«

Doch ich gebe keine Antwort. Ich kann nicht. Ich erinnere mich an Dinge, die beattie im Laufe der Jahre zu mir gesagt hat. Und selbst neulich noch: »Warum hast du Carlo nicht einfach gesagt, dass es aus ist?«

»Was hast du rausgekriegt, Annie?«

Ich dachte, sie mache sich Sorgen um mich! Wie konnte ich nur so blind sein! Ich hatte tatsächlich geglaubt, ihr ginge es um mich - als sie mich zum Shoppen mitnahm, als sie mich drängte, diese albernen Stilettos zu kaufen, als sie mich fragte, warum ich Carlo nichts von Marc erzählt hatte. Aber nein, mein Wohlergehen hatte beattie überhaupt nicht interessiert - ich sollte bloß von der Bildfläche verschwinden.

»Annie?«

Ich wende mich Marc zu. Er beobachtet mich über seinen Kaffee hinweg. beattie hat die Armbanduhr gesehen. Was hat sie bloß gedacht, als sie Carlos Geschenk an meinem Handgelenk entdeckte? War sie eifersüchtig, oder hatte er ihr auch eine Uhr geschenkt? Und ich hatte ihr alles erzählen wollen, hatte mich ihr anvertrauen wollen, wie ich es immer getan hatte - ich hatte ihr sogar von Charlie erzählen wollen!

»O Gott, was war ich bloß für ein Trottel!«, stöhne ich.

Marc legt mir die Hand auf die Schulter. »Mais, Annie, qu'est-ce que tu as? Dis-moi!«

Also sage ich es ihm: »Ich weiß jetzt, wer es ist.«

Offensichtlich hat Marc keine Ahnung, wovon ich spreche. Er hebt eine Augenbraue, sieht mich an, wartet. Und ich frage mich: Wofür hat Beattie in La Madeleine gebetet? Hat sie gebetet, dass ich mich einfach mit Marc zusammentue und ihr Carlo überlasse? Als sie den Zettel fand, den ich ihr gestern geschrieben habe, muss sie gedacht haben, weihnachten und Ostern fielen zusammen!

Marc tätschelt meine Schulter. »Mai, qui ... quoi?«

»Ich weiß jetzt, wer Beatties geheimnisvoller Liebhaber ist.«

Marc reagiert, als hätte ich ihn geschlagen, als hätte ich ihm eine kräftige Ohrfeige versetzt. Er fährt so ruckartig zurück, dass er Kaffee über sein graues T-Shirt, seine Jogginghose und seine Hand verschüttet. Er springt auf die Füße, so schnell, dass sein Stuhl umkippt und mit lautem Klappern auf den Fliesen landet.

»Merde, Annie, es tut mir leid. Vraiment. Es tut mir wirklich leid!«

Er hat sich zwar die Hand verbrannt, aber diese Entschuldigung scheint mir jetzt doch eine Überreaktion zu sein. »Macht ja nichts. Aber du solltest die Hand unter kaltes Wasser halten und dir vielleicht ein bisschen Eis besorgen.«

Doch Marc hört mir nicht zu. Über mich gebeugt, gestikuliert er auf seine unerträgliche, theatralische französische Art und wiederholt, wie sehr es ihm leidtue. Ich konzentriere mich nicht richtig auf das, was er sagt, denn ich finde, jetzt macht er wirklich aus einer Mücke einen Elefanten. Er hat doch bloß ein paar Tropfen Kaffee verschüttet. Ich höre nur halb hin -

Bis er etwas ganz merkwürdiges sagt.

»Je n'ai jamais voulu te faire du mal.« Er murmelt vor sich hin, schwafelt zusammenhangloses Zeug. »Je n'en ai jamais eu la moindre intention.«

Er wollte mir niemals wehtun? Er hatte nie die geringste Absicht? Was redet er da bloß?

»Hör mal, Marc -« Ich versuche, ihn zu übertönen. Er soll sich endlich beruhigen. »Ist doch alles in Ordnung. Guck mal - ich habe gar nichts abgekriegt.«

Aber dann bin ich plötzlich still und schaue zu ihm hoch. Gerade hat er noch etwas anderes gesagt, etwas noch Merkwürdigeres. Mir geht auf, dass er gar nicht von seinem Kaffee redet. Und als mir das endlich klar wird, hört Marc ebenfalls auf zu sprechen. Wir schweigen beide und rühren uns nicht. Auch er hat offenbar inzwischen kapiert, dass wir zwei verschiedene Dinge meinten, zwei vollkommen verschiedene Dinge.

Mein Herz pocht schneller, es schlägt mir bis zum Hals. »Was hast du gerade gesagt?« Das Atmen fällt mir schwer.

Marc tritt zurück, schaut auf seine Hand hinunter und reibt sie mit dem Daumen, als hätte er sich tatsächlich verbrannt. Aber ich weiß jetzt, dass seine Hand nicht das Problem ist. Ich warte. Marc sieht aus wie Charlie - wie Charlie, wenn er ein schlechtes Gewissen hat, wenn er beichten möchte, aber nicht weiß, wo er anfangen soll. Also helfe ich Marc jetzt, wie ich unserem elfjährigen Sohn helfen würde, indem ich ihm ein kleines Stichwort gebe.

»Du hast gerade etwas -«, ich muss Luft holen, bevor ich die Worte aussprechen kann -, »etwas über Beattie gesagt.«

Aber ich weiß es schon, bevor er es wiederholt. Ich weiß es einfach.