31
Mit Nadia an der Hand ging ich durch den Mittelgang, ohne zu erkennen, was sich am Ende des Raums befand. Er schien sich bis in die Ewigkeit zu erstrecken, makellos weiß, sodass man Wände, Fußboden und Decke kaum unterscheiden konnte. Alle paar Meter standen Wächter bereit. Nicht einmal ihre Augen bewegten sich, als wir vorbeizogen.
»Ist das der Ort?«, fragte Nadia.
»Ja, das ist der Ort«, erwiderte ich. Mit der Hand beschirmte ich meine Augen und spähte ins Helle. Als wir den letzten Wächter passiert hatten, sah ich in der Ferne eine Gestalt an einem kleinen, weißen Schreibtisch sitzen. »Wir sprechen gleich mit diesem … diesem … dieser …«
Wie ich die Person, die ich sah, nennen sollte, war mir schleierhaft. Als wir näherkamen, erkannte ich, dass es eine Frau war, was mich überraschte. Malachi hatte immer von dem Richter gesprochen. Aber dieser Richter war eindeutig eine Frau. Sie hatte sogar große Ähnlichkeit mit Diane. Von den kahlen weißen Wänden hoben sich ihre Haut und ihre Robe tief dunkel und beruhigend ab. Ihr Haar war silbern. Und ihr Lächeln freundlich. Aus irgendeinem Grund wirkte sie dadurch unheimlich.
»Lela und Nadia. Ihr seid ein bisschen früher gekommen als erwartet, aber ihr seid trotzdem willkommen.« Ihre Stimme war weich und voll wie Karamell. »Die Verhandlung kann beginnen«, fuhr sie fort und ihre Stimme wurde lauter und schärfer und klang mir in den Ohren. »Es läuft folgendermaßen ab. Ihr tragt euer Plädoyer vor und ich fälle mein Urteil. Wer fängt an?«
Grinsend sah sie Nadia an. Nadia starrte auf den Boden.
Dann lenkte die Richterin ihren Blick auf mich und lachte dröhnend. »Schätzchen, warum schaust du mich so an?«
»Ich hatte irgendwie den Eindruck, Sie wären …« Mir kam der schreckliche Gedanke, was wäre, wenn sie tatsächlich ein Mann war, nur ein ganz femininer, oder einer, der sich gern als Transvestit kleidete. Was, wenn ich sie … oder ihn beleidigte?
Sie hielt sich die Seiten vor Lachen, das durch den Saal hallte. »Lela, du bist so witzig. Ich bin wirklich eine Frau. Das könnte besser für euch sein, dachte ich mir. Außerdem hatte ich heute Lust auf Pumps.«
Ratlos sah ich sie an. Warum verspürte ich plötzlich den Drang, auf die Knie zu sinken und die Hände vors Gesicht zu schlagen? Ihr Lachen erstarb. Sie legte den Kopf schief und musterte mich. Motte, darf ich vorstellen, Licht.
»Trag dein Plädoyer vor«, befahl sie.
»Euer Ehren«, begann ich mit zittriger Stimme. »Ich bin hier, weil ich Sie ersuchen möchte zu, ähm, prüfen, ob … NadiadieStadtverlassendarf«, platzte ich heraus. Mir wurde schwindlig.
Die Richterin schüttelte den Kopf und lächelte mit geschlossenen Lippen. »Mein Schatz, ich glaube nicht, dass Nadia schon so weit ist.«
Wieder wurde mir schwer ums Herz, doch … reden konnte ich noch. »Aber sie braucht …«
Diesmal klang das Lachen der Richterin schärfer, rasiermesserscharf. Es tat mir in den Ohren weh. Neben mir sank Nadia zu Boden und faltete die Arme über dem Kopf. Ich wollte ihr helfen. Aber meine Arme und Beine wollten mir selbst nicht recht gehorchen. Lautlos glitt die Richterin auf mich zu. Es schien, als würden ihre Füße kaum den Boden berühren, so sanft und ruhig bewegte sie sich, aber ihre lange Robe verhüllte, was sich darunter verbarg.
»Du glaubst zu wissen, was sie braucht? Schätzchen, du weißt ja nicht einmal, was du brauchst. Du kommst hierher und meinst, du könntest mit mir verhandeln. Du könntest mich überreden, deine Freundin einfach so freizulassen. Offensichtlich hast du keine Ahnung, in was du dich einmischst.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich erwarte nicht, dass Sie sie einfach so freilassen.«
In ihren Augen lag ein Raubtierfunkeln, als ich sprach. Sie sah aus, als würde sie mich gern zum Frühstück verspeisen. Oder als Zwischenmahlzeit.
Sie prustete. »Ich fresse dich schon nicht, mein Schatz.«
Eine unheimliche Kombination aus stark und sanft war sie, sodass ich mir wünschte, sie würde mich umarmen, und gleichzeitig am liebsten gerannt wäre wie der Teufel.
»Lela, möchtest du, dass ich dich freilasse? Das werde ich nämlich tun. Du gehörst nicht in diese Stadt. Mag sein, dass du sie einmal gebraucht hast, aber jetzt nicht mehr. Darüber bist du hinaus.« Die Richterin hob den Arm und deutete nach oben. Vor uns erstreckte sich das Land. Es war atemberaubend: golden und weich, voller Leben. Es tat mir in der Brust weh, aber auf gute Art.
»Möchtest du da hinausgehen?«, fragte sie freundlich.
»Ja.« Ich holte tief Luft, sammelte mich, um mein Angebot zu machen, um zu tun, weswegen ich gekommen war. Ein paar Sekunden nahm ich mir, um an Malachi zu denken. Raphaels Worte wirbelten mir noch durch den Kopf und mir fiel ein, dass ich weggegangen war, ohne mich von Malachi zu verabschieden, ihm zu danken, ihm zu sagen, wie viel ich für ihn empfand. Auch für den Schmerz, den ich ihm zugefügt hatte, wollte ich ihn um Verzeihung bitten, und dafür, dass ich ihn falsch beurteilt hatte. Und jetzt musste ich eine Verpflichtung eingehen, die mich für lange, lange Zeit von ihm trennen würde, womöglich sogar für immer. Einen verrückten Augenblick lang überlegte ich, ob er vielleicht draußen vor der Mauer auf mich wartete. Diesen jämmerlichen Gedanken verbannte ich rasch – das war nur mein alter Egoismus. Warum sollte er noch mehr für mich opfern, als er schon geopfert hatte? So war es am besten. Ich würde hier bleiben und er sollte gehen. Dann stand es ihm frei weiterzuziehen, ohne dass ich ihn aufhielt, ihn verletzte …
»Herzchen, sorg mal dafür, dass dein Hirn für eine Weile Ruhe gibt, und überlege, wo du bist. Konzentration, mein Schatz. Sag, was du zu sagen gekommen bist.«
»Ich möchte, dass Sie Nadia entlassen. Und mich behalten.« Das hörte sich mutiger an, als ich mich fühlte, aber ich wusste, dass sie sich nicht täuschen ließ.
In ihren Augen blitzte ein wildkatzenartiges Vergnügen, sodass mir die Knie schlotterten. »Hmmm. Du meinst, du wärst die Lösung für dieses Problem. Du möchtest Herrin der Lage sein, es in Ordnung bringen. Deshalb bist du hier in der Stadt erschienen.«
»Mag sein, dass ich früher schon von dieser Stadt geträumt habe, aber nach Nadias Tod wurde alles anders. Ich war in Nadias Kopf. Deshalb bin ich hergekommen: Visionen von Nadia«, brachte ich krächzend heraus. »Könnte es sein, dass Sie etwas damit zu tun haben?«
Ihre Lippen kräuselten sich, als würde sie ein Lachen unterdrücken. »Hast du den Eindruck, es hätte dich jemand gezwungen, hierher zu kommen?« In ihrem Tonfall schwang nicht nur Humor mit, sondern auch eine unterschwellige Gefahr.
Mir blieb fast das Herz stehen. »Nein«, wisperte ich.
»Du bist diejenige, die die Entscheidung getroffen hat«, spottete sie. »Die Visionen haben das nicht für dich getan. Du hättest beschließen können, brav im Bett zu bleiben. Du wusstest, wie schlimm es hier ist, bist aber trotzdem gekommen. Du hättest aufs Land gehen können. Bist du aber nicht. Was dich hergeführt hat, war dein Glaube, du könntest Nadia in Ordnung bringen, du seist die Zauberpille, die sie schlucken muss.«
Ich hätte gern widersprochen. Aber dann ließ ich es mir durch den Kopf gehen. Tatsächlich beruhten alle meine Opfer auf der Annahme, ich sei die Lösung. Und nach allem, was passiert war, seit ich Nadia gefunden hatte, sah es so aus, als hätte die Richterin recht. Ich hatte gedacht, ich könnte Nadia retten. Aber nichts, was ich getan hatte, machte für sie einen Unterschied. Ich konnte meine kaputte Freundin nicht gesund machen. Nicht einmal hier und jetzt.
»Aber ich kann es, Herzchen. Und du darfst mir helfen. Du hast so viel durchgemacht, warst so tapfer. Du machst das schon, so viel ist mir klar. Deshalb mache ich dir ein Geschenk.«
Die Richterin schwebte zu Nadia hinüber, die völlig in sich zusammengesunken war, und legte meiner Freundin die Hände auf die Schultern. »Nadia, schau mich an.« Sie gehorchte und die Richterin tätschelte ihr den Kopf, als wäre sie ein kleines Kind. »Jetzt steh auf und geh dorthin.«
Nadia ließ sich von der Richterin auf die Beine helfen und machte ein paar Schritte auf mich zu. Sie hatte die Augen niedergeschlagen und sah aus, als würde sie gleich in Ohnmacht fallen. Die Richterin legte Nadia den Arm um die Schulter. »Lela möchte dir ein paar Fragen stellen.« Sie nickte mir zu. »Leg los, mein Schatz.«
Ich holte tief Luft und sagte alles auf einmal. »Warum hast du das gemacht? War es meinetwegen? Weil ich an dem Abend so gemein zu dir war? Weil ich weggegangen bin?«
Nadia starrte mich an, mit diesem traurigen, glasigen Blick. Beinah hätte ich mich abgewendet. Sie gebeten, mir nicht zu antworten. Ich war mir nicht sicher, ob ich hören wollte, was sie zu sagen hatte.
Seufzend gab Richterin Nadia einen Kuss auf die Wange. Nadia riss die Augen auf. Sie richtete sich auf und sah mich an. »Natürlich war es nicht deinetwegen. Du warst der einzige Grund, warum ich so lange durchgehalten habe. Das hab ich dir doch gesagt – ich wollte dein Geheimnis wissen. Weißt du eigentlich, wie oft ich dich angesehen und mir vorgemacht habe, ich würde in einen Spiegel schauen? Ich wollte auch so stark sein. Und ich hab mir lange Zeit deine Stärke geborgt, so konnte ich weitermachen. Aber dann hab ich das nicht mehr geschafft, Lela. Ich war so müde und dir gegenüber war es auch nicht fair. Du musst verstehen, dass alles Schwindel war. Mein ganzes Leben war Schwindel. Ich war eine Imitation. Du warst mit jemandem befreundet, den es gar nicht gibt. Du hast gedacht, ich wäre so ein netter, fröhlicher Mensch, das war ich aber nicht. Und ich hätte Lösungen parat, Fehlanzeige. Du hast gedacht, ich könnte mit dir mithalten, konnte ich aber nicht. Mir war klar, sobald ich dir mein wahres Ich gezeigt hätte, wärst du weggewesen. Das wäre jeder. Ich konnte die anderen nicht länger täuschen und es tat weh, ihnen dauernd etwas vorzumachen.«
Nadia zwinkerte. Anscheinend war sie gelinde überrascht, dass sie eine so lange zusammenhängende Rede gehalten hatte.
Aber so lang sie auch gewesen war, sie leuchtete mir nicht ein. Wie konnte sie nur so einen Unsinn glauben. »Aber du musstest doch gar niemanden täuschen. Wir haben dich alle geliebt –«
»Nein, ihr habt eine Illusion geliebt.«
Ich liebte Nadia wirklich, aber ich hätte ihr auch gern einen Rippenstoß versetzt. Als wäre ich zu blöd, um den Unterschied zwischen einer Illusion und einem echten Menschen zu erkennen. Das konnte ich nämlich. Ich wünschte nur, ich hätte ihr das gezeigt, als sie noch am Leben war. Hatte ich aber nicht. Stattdessen hatte ich so getan, als bräuchte sie nur ein bisschen Aufmunterung und dann wäre alles in Ordnung. Wie alle anderen hatte ich so getan, als würde ich die echte Nadia nicht sehen, weil es mir zu viel Angst machte. Vielleicht erinnerte sie mich zu sehr daran, wie traurig und verzweifelt ich selbst einmal gewesen war. Oder ich ertrug die Vorstellung nicht, dass sie so sein könnte. Und am Ende war genau das passiert, was ich am meisten fürchtete – sie hatte mich verlassen.
Die Richterin unterbrach meine seelische Kernschmelze. »Zeig es ihr«, befahl sie.
»Was soll ich ihr zeigen?«
»Deinen Arm.«
Ich fuchtelte mit dem Arm vor Nadias Nase herum. Plötzlich war es mir peinlich, dass sich unter meinem Ärmel ein Tattoo von ihrem Gesicht verbarg. Das war zu wenig, zu spät. Bemitleidenswert.
Die Richterin lachte laut. »Herzchen, du bist wie eine Fernsehserie, die ich immerzu gucken möchte. Es ist noch nicht zu spät, aber gleich ist es zu spät, wenn du nicht auf mich hörst. Reiß dich zusammen und zeig deiner Freundin das Tattoo, bevor ich ärgerlich werde.«
Sie wurde ernst und bedachte mich mit diesem unverwandten, alles durchschauenden Blick. O Schreck. Ich rollte meinen Ärmel hoch und streckte den Arm aus.
»Jetzt sag Nadia, warum du hier bist, Lela.«
Immer noch wütend – auf sie, auf mich – schwieg ich.
»Herzchen, das ist deine Chance. Vertrau mir. Vertue nicht die Gelegenheit, die ich dir gebe.«
Der warnende Unterton entging mir nicht und ich schluckte schwer. Nadia schaute unentwegt auf meinen Arm. Na schön, jetzt oder nie. Vielleicht konnte ich ja wiedergutmachen, dass ich sie so oft im Stich gelassen hatte. »Kann sein, dass ich leben wollte, aber wirklich gelebt habe ich nicht. Du hast mich gerettet, als ich nicht einmal glaubte, dass ich das brauche. Du hast mir eine Zukunft gezeigt, von der ich nie gedacht hätte, dass ich sie habe. Das war echt.«
Nadia zuckte zusammen, aber dann schaute sie mich an, also sprach ich weiter. »Ich wäre nicht mit dir in dieser verrückten Stadt, wenn du nicht all das für mich getan hättest. Ich bin hergekommen, weil du mir so viel bedeutest. Weil ich dich liebe – und nie gemeint habe, du wärst perfekt. Siehst du das Gesicht auf meinem Arm? Endlich hab ich dein wahres Ich erkannt, und rate mal? Genau das liebe ich. Dein wahres Ich ist der Mensch, für den ich hergekommen bin. Weißt du was – es tut mir leid, dass ich dich nicht an mich rangelassen habe und Angst davor hatte zu sehen, was eigentlich vor sich ging. Verzeih mir, dass ich weggelaufen bin. Vielleicht wären wir nicht hier, wenn ich dir zugehört, wenn ich dich herausgefordert hätte. Verzeih mir, dass ich das vermasselt habe – aber ich liebe dich. Und ich wünsche mir so sehr, ich hätte dir das gesagt, als du noch am Leben warst.«
Nadia schaute immer noch auf meinen Arm. In ihren Augen schimmerte ein Funke, als wäre etwas von dem, was ich gesagt hatte, angekommen. Aber es war nur ein Funke. Keine große Enthüllung, keine leuchtende Erkenntnis.
Hilflos sah ich die Richterin an. »Ich weiß nicht, was ich noch sagen soll.«
»Es mag jetzt nicht so scheinen, aber das war genug. Es ist ein Anfang.« Die Richterin wandte sich Nadia zu, streckte die Hand aus und stupste mit ihren langen, purpurroten Fingernägeln Nadias Wange. »Nadia. Du leidest solche Schmerzen. Schau mich an. Möchtest du dich besser fühlen?«
Sag ja. Sag ja. Aber Nadia war sich anscheinend nicht sicher. Das war vollkommen irre.
Und dann, ganz plötzlich, dämmerte es mir.
Malachi hatte gesagt, dass für manche Menschen die Krankheit leichter zu ertragen ist als die Heilung. Nadia fiel es tatsächlich so schwer zu glauben, sie sei es wert, geliebt zu werden, dass sie es vorzog, unglücklich und allein zu sein.
Sie tat mir leid. Am liebsten hätte ich geweint. Und mir wurde klar, dass die Richterin das für mich getan hatte, nicht für Nadia. Ich konnte für sie nichts in Ordnung bringen – nicht einmal annähernd. Nadia musste einiges herausfinden und das konnte ich ihr nicht abnehmen. Ich konnte ihr höchstens zeigen, was ich für sie empfand, wie viel sie mir bedeutete. Die Richterin hatte mir nur die Chance gegeben, Nadia zuzuhören und meine eigenen Gefühle ehrlich auszusprechen. Das war ihr Geschenk. Die Richterin brauchte mich nicht, um Nadia zu überzeugen, dass sie liebenswert war. Ich war mir ziemlich sicher, dass die Richterin meine Hilfe überhaupt nicht benötigte.
Jetzt verstand ich meine Freundin und konnte ihr verzeihen, dass sie mich verlassen hatte. Darin bestand das Geschenk.
Behutsam nahm die Richterin Nadia an den Schultern und drehte sie zu der schimmernden Landschaft hin. »Siehst du, was du vor dir hast, mein Schatz?«
»Ich weiß nicht«, wisperte Nadia und kniff die Augen zusammen.
»Schau«, befahl die Richterin. »Schau, was vor dir liegt.«
Nadia schnappte nach Luft und fing an zu weinen.
Mit einem Blick über die Schulter lächelte mich die Richterin an. »Na schön, Lela. Ich will dein Angebot annehmen. Nadia wird entlassen. Sozusagen auf Bewährung. Und du …«
Da wurde krachend die Tür aufgestoßen und mit einem Schlag brach ein Höllenlärm los.
»Wartet!«
Ich drehte mich um und sah Malachi, wie er seinen Stab schwingend die ersten vier Wächter am Eingang niedermachte. Er bewegte sich mit tödlicher Präzision, Verzweiflung und Entschlossenheit standen ihm ins Gesicht geschrieben. Ich schlug mir die Hand vor den Mund, damit ich nicht seinen Namen rief, und spannte jeden Muskel an, um nicht zu ihm zu laufen.
»Malachi«, flüsterte die Richterin unwirsch und stemmte die Hände in die Hüften. Offenbar war sie ziemlich unbeeindruckt.
»Malachi, Malachi«, murmelten die Wächter und sahen sich beunruhigt um. Die der Tür am nächsten standen, wichen zurück wie ein Mann, die uns näher waren, versuchten ebenfalls, sich den vernichtenden Hieben seines Stabs zu entziehen.
Als er merkte, dass niemand Anstalten machte, ihn aufzuhalten, warf er, ohne stehenzubleiben, seinen Stab weg, den Blick fest auf die Richterin gerichtet. »Hör auf! Bitte! Ich beantrage, gehört zu werden«, rief er im Laufen. Wenige Meter von mir entfernt warf er sich auf die Knie und hob waffenlos die Hände.
Die Richterin musterte ihn lachend. »Du hast dich verändert seit unserer ersten Begegnung, aber nach wie vor hast du ein Talent für dramatische Auftritte.«
Schwer atmend senkte Malachi den Kopf und legte die Hände auf seine Schenkel. »Es tut mir leid. Bitte, hör mich an.«
»Auch in dieser Hinsicht bist du noch der Alte. Immer noch arrogant. Du hast eine Verhandlung gestört. Schon wieder.« Die Stimme der Richterin hallte schmerzhaft von allen Wänden wider, so als spräche sie mit tausend Stimmen zugleich. Entsetzt hielt ich mir die Ohren zu.
Malachi zuckte zusammen und ließ immer noch den Kopf hängen. »Ich bitte um Verzeihung für meinen Hochmut. Bitte, ich habe etwas zu sagen.«
Die Richterin winkte ab. »Du kannst warten, bis ich mein Urteil über diese beiden gesprochen habe.« Aber hinter ihrem Lächeln verbarg sich etwas anderes.
Erwartung.
O nein. Er will sich …
»Ich biete mich an.«
Die Richterin lächelte hochzufrieden. Ihre Zähne schimmerten so weiß wie die Wände. »Ich höre.«
Malachi hob den Kopf und sah sie an. »Ich biete meine Dienste im Tausch gegen die Freiheit dieses Mädchens.« Er deutete auf Nadia.
»Für das Mädchen wurde schon bezahlt, mein Junge.«
Malachi machte große Augen. »Nein. Nein!« Zum ersten Mal wandte er sich mir zu. »Lela, bitte nicht. Du hast keine Ahnung, was du tust. Du weißt nicht, wie es ist, bei der Wache durchzuhalten. Es ist gefährlich. Zermürbend. Einsam.« Sein Gesicht war schmerzverzerrt. »Bitte, tu das nicht.«
Ich schüttelte den Kopf und lächelte ihn traurig an. »Ich muss.«
Wieder wandte sich Malachi mit entschlossener Miene an die Richterin. »Mazikin haben eine Bresche in die Mauer geschlagen. Du brauchst mich, damit ich mich darum kümmere, zumal Ana fort ist. Lela schafft das nicht. Sie ist ein Neuling. Sie würde Training brauchen –«
»Ach, ich weiß nicht«, meinte die Richterin in schleppendem Ton, während sie zu mir schwebte und mir die Hand auf den Kopf legte. »Lela hat viele Talente. Du traust ihr nicht genug zu.«
Malachi schloss die Augen und nickte. »Ich weiß, wozu sie fähig ist. Aber du kannst mich dafür haben. Ich habe dir fast siebzig Jahre lang gedient. Jetzt ist eine kritische Zeit.«
»Ach, du hast keine Ahnung«, säuselte sie und streichelte gedankenverloren mein Haar. »Sag mir, Malachi, was hat dich bewogen, meinen Gerichtssaal ein zweites Mal zu stürmen? Das hat noch keiner gewagt. Was führt dich her?«
»Du weißt es.«
Die Richterin hielt in ihrem Streicheln inne, griff sich ein Büschel meiner Haare und obwohl sie nicht daran zog, wagte ich nicht, mich zu bewegen. »Natürlich weiß ich es. Aber ich möchte hören, wie du es aussprichst, mein Lieber. Kopf hoch! Das ist deine Chance zu sagen, was du auf dem Herzen hast, ohne dass sie dir ins Wort fällt!«
Seufzend blickte mich Malachi an. Selbst auf die Entfernung ließ die Leidenschaft in seinen Augen mehrere Sicherungen in meinem Kopf durchbrennen. »Es ist wegen der Art, wie sie mich angesehen hat. Sie hätte Angst vor mir haben müssen. Ich habe ziemlich furchterregende Dinge getan. Die meisten Leute würden sagen, dass ich ein beängstigender Mensch bin.«
Staunend hörte ich, wie er meine Worte ziemlich exakt wiederholte.
»Aber so hat sie mich nicht gesehen. Sie hat mich angeschaut, als sähe sie etwas anderes in mir – etwas Wunderbares, etwas, das sich zu kennen lohnt – und sie war der einzige Mensch, der es zum Vorschein brachte. Sie hat mir so viel beigebracht. Mir so viel gegeben. Erstaunliche Dinge. Ein Bild von mir selbst – anders, als ich gewesen war, besser, und trotzdem noch ich. Ich glaube nicht, dass sie wirklich weiß, wie lebendig sie mich gemacht hat. Es hat ihr gar keine Mühe bereitet.«
Er verschränkte die Arme, wie um sich zu schützen. Was als nächstes kam, wusste ich. Am liebsten wäre ich zu ihm gerannt, aber da die Hand der Richterin immer noch auf meinem Kopf lag, rührte ich mich nicht vom Fleck.
»Ich weiß nicht, ob ich für sie dasselbe getan habe«, sagte er leise. »Jetzt sind wir hier, vermutlich also nicht. Aber das spielt keine Rolle. Es ändert nichts an meinen Gefühlen. Ich liebe sie und würde alles für sie tun.«
Nie in meinem Leben hatte das jemand zu mir gesagt. Niemand hatte mir erklärt, dass er mich liebt. Und jetzt hatte es dieser Junge, dieser merkwürdige, gefährliche, erstaunliche Junge getan.
Die Richterin ließ meine Haare los und klatschte. »Malachi, wie süß. Diesmal hast du aus einem selbstlosen Grund meine Verhandlung unterbrochen und meine Wächter niedergeschlagen. Das ist ein klarer Fortschritt.«
Malachi zog die Brauen hoch und ich sah die Hoffnung in seinen Augen.
Sie trübte sich bei ihren nächsten Worten.
»Aber es geht nicht nach dir. Lela, diese Entscheidung musst du treffen.« Sie sah mich aus ihren mitternachtsschwarzen Augen an. Ich schauderte. »Du wirst über sein Schicksal und das deine entscheiden. Gestatte, dass Malachi unbefristet in meinem Dienst bleibt, dann kannst du mit Nadia gemeinsam die Stadt verlassen. Andernfalls gehörst du mir so lange, wie ich dich brauche. Nadia kann gehen, aber du wirst bleiben und dienen.«
Ich schaute Nadia an, die in der goldenen Sonne des Landes geheilt und glücklich sein würde. Ich könnte mit ihr gehen und den Schmerz und die Schrecken einer Existenz als Wächterin vermeiden. Dann würde ich nicht mehr kämpfen müssen. Frieden und Glück waren nur ein paar kleine Schritte entfernt und beides hatte ich im ganzen Leben noch nie erlebt.
Außer … außer in den wenigen Augenblicken mit Malachi, als alles gut gewesen war. Diese Augenblicke hatten mir einen Vorgeschmack von Glück, von Liebe, von völliger Zufriedenheit gegeben. Jetzt sah ich in seine Augen, die mich anflehten, ihn aufzugeben, ihn wegzuwerfen und zu vergessen, um mit Nadia fortzugehen und glücklich zu sein. Wie sollte ich ihm das zugestehen? Er hatte mir so viel gegeben und so wenig bekommen. Nun zeigte sich, dass diese Entscheidung das Einzige war, was ich ihm geben konnte. Anas letzte Worte gingen mir durch den Kopf.
Sorg dafür, dass er die Stadt verlässt. Ganz gleich was es kostet.
»Das mache ich«, flüsterte ich.
»Wie bitte?«, fragte die Richterin. »Sprich lauter, mein Schatz.« Ihre unergründlichen schwarzen Augen leuchteten erwartungsvoll.
Wie gebannt starrte ich Malachi an und prägte mir sein wunderschönes Gesicht ein. »Ich wäre so gern mit dir gegangen. Ich hab es mir gewünscht. Immer werde ich es in meinem Herzen bewahren, den Traum von dir im Sonnenlicht. Danke für alles, dafür dass du für jemanden wie mich so viel geopfert hast.«
Wieder voll Hoffnung stand er auf. »Lela, nimmst du das an? Lässt du mich –«
»Pass gut auf dich auf, Malachi«, platzte ich heraus. Rasch wandte ich mich zu der Richterin um. Ich konnte ihn nicht ansehen, als ich sagte: »Lassen Sie ihn frei. Nehmen Sie mich.«
Da geschah ganz viel auf einmal. Malachi rief: »Nein!« und machte einen Satz auf uns zu. Die Richterin schnippte mit der Hand und er flog quer durch den Saal und landete auf einigen Wächtern, die sich am hinteren Ende des Raums versammelt hatten.
Im nächsten Moment versperrte mir die Richterin die Sicht auf ihn und strahlte mich mit breitem Lächeln an. Ich stand mit dem Rücken zu ihrem Schreibtisch, plötzlich überragte sie mich. »Du führst meine neue Einheit an«, verkündete sie fröhlich. »Ich hoffe, du reist gerne.«
Ich spähte zu ihr hinauf. »Wie bitte? Meinen Sie innerhalb der Stadt?«
»Du hast gehört, was Malachi sagt. Es gibt eine Bresche. Mazikin sind entkommen. Hast du schon einmal die Redewendung gehört ›Dann ist die Hölle los‹? Die wurde geprägt, als sie das letzte Mal ausgebrochen sind. Du wirst meine neue Spezialeinheit leiten, die den Auftrag hat, sie aufzuspüren, bevor sie ihre Operationen außerhalb der Mauer aufnehmen können.«
Ich glotzte die Richterin mit offenem Mund an. »Ich gehe aufs Land?«
Ihr Lachen übertönte das Getöse, schallte hell über dem Lärm, über Malachis heiseren Schreien, während die Wächter versuchten, ihn zurückzuhalten. Wenigstens konnte ich daraus schließen, dass ihm nichts fehlte. Er war noch am Leben.
»Nein, mein Schatz. Viel schlimmer als das. Sie schicken sich an, die Grenzen zwischen Leben und Tod einzureißen. Hör zu. Das wird hart. Aber denk dran, ganz gleich was passiert: Du wirst mit nichts konfrontiert, womit du nicht fertig werden kannst. Und du stehst nicht allein.«
Sie umschloss mein Gesicht mit den Händen und ihr Anblick machte mich für alles andere blind. Sie war sanft, aber der Kontakt mit ihrer Haut vermittelte mir ein höchst seltsames Gefühl – so als würde gleich ein Blitz niederschlagen. »Du gehst jetzt. Willkommen bei der Wache. Viel Glück.«
Alles leuchtete auf und verschwand.