18
Ich hatte gedacht, in der Stadt sei es still, aber ich hatte Stille bis zu diesem Augenblick nicht verstanden. Nach den ersten Schritten in die hohe Eingangshalle konnte ich mir vorstellen, wie es sich anfühlte, taub zu sein. Der Untergrund unter meinen Stiefeln gab nach, ich schwankte, sank geräuschlos auf die Knie.
Und musste sofort den Brechreiz unterdrücken.
Als meine Finger den Boden berührten, bemerkte ich, warum es so schwer war, das Gleichgewicht zu halten: Er war weich und glitschig, ein lebendiges Wesen. Schnell stand ich auf. Gegen meinen Würgreflex ankämpfend, wischte ich die Hände an meiner Hose ab. Anas Ratschlag befolgend ging ich vorsichtig tiefer in das gähnende Maul des Gebäudes. Ich überlegte, ob ich mich umdrehen und auf Malachi und Ana warten sollte, aber als ich zurückblickte, war da nur noch eine weiche Wand.
Sie pulsierte und pochte ein wenig.
Nur noch tausend bizarre Meilen. Bleib in Bewegung. Halt nicht an und flipp nicht aus.
Die Luft war stickig, feucht und warm. Sie setzte sich auf meiner Haut und meiner Zunge ab, sauer und ranzig.
Dann bemerkte ich den Geruch.
Ich senkte den Kopf und verschränkte abwehrend die Arme, als mein Herzschlag sich schmerzhaft beschleunigte. Die Luft war voll mit Rick. Seinem Atem: Bier und Zigaretten. Seinem Geruch: alter Schweiß und Benzin.
Geh weiter, Lela, das ist nicht real. Meine Fingernägel gruben sich tief in meine Handflächen, als ich vorwärts stolperte, das hilflose Würgen, das alle paar Schritte schlimmer wurde, unterdrückte ich nicht länger.
Als ich seine Hand auf mir spürte, wirbelte ich herum, verlor das Gleichgewicht und blieb auf dem Rücken liegen. Ich sah an mir hinab, meine Rüstung und meine Stiefel waren verschwunden. Ich trug das zu enge, zu kurze Nachthemd, das Rick mich immer anziehen ließ, wenn ich ins Bett ging. Er war da. Er würde mir wieder wehtun. Ich schrie in blankem Entsetzen.
Nein, nein, nein, stritt ich im Stillen mit mir. Das ist nicht real.
Ich nahm mir kurz Zeit, um mich zu beruhigen, schielte hoch auf die seltsamen Schnitzereien an der Decke der matt beleuchteten Halle. Sie wanden sich – wogende Schatten. Was, wenn sie kämen, um mich zu holen?
Meine Füße rutschten weg, als ich versuchte, auf dem schleimigen Untergrund Halt zu finden.
Atme und steh auf. Steh auf.
Ich hörte auf zu strampeln und zwang mich zu bewussteren Bewegungen. Langsam rollte ich mich auf den Bauch und stemmte mich auf Hände und Knie. Ich war mit Blut und Schleim bedeckt. Ich setze mich zurück, wie wahnsinnig wischte ich mir die Hände ab, um das Zeug loszuwerden. Aber die Erinnerungen hingen an mir wie schleimige Seile. Sie umspannten meine Hände, klebten zwischen meinen Fingern. Der Geruch ließ sich nicht abschütteln.
Dann spürte ich sein Gewicht auf dem Rücken, er drückte mich in pinkfarbene Laken, meine Arme waren verdreht, mein Gesicht in mein Kissen gepresst.
Das ist nicht real, sagte ich vor mich hin, als ich wacklig auf die Beine kam, meine Knie zitterten, meine Zähne klapperten trotz der warmen, feuchten Luft. Weitergehen. Aber kaum hatte ich das Bein gehoben, da rutschte ich schon auf dem schwammigen, organartigen Boden aus, gallertartiger Schlamm quoll zwischen meinen Zehen hindurch. Das besiegt mich nicht. Erinnerungen können nicht töten. Ich bin stärker als das. Ich biss die Zähne zusammen. Ich bin stärker, deshalb bin ich hier.
Mit steifem Rücken wappnete ich mich gegen den Angriff seiner Hände, seines Körpers. O heilige Mutter Gottes, ich wollte um mich schlagen, wie in der Nacht, in der ich mich endlich gewehrt hatte. Ich wollte sein Gesicht zertrümmern, treten, zerreißen, ihn zerstören. Meine Muskeln verkrampften sich unter dem Verlangen anzugreifen. Aber er war nicht wirklich da und wenn ich diesem Instinkt folgte, würde ich wieder die Balance verlieren und auf dem Rücken im Schleim liegen. Geh weiter. Du hast diesen Geist schon besiegt.
Der Klang von Ricks Stimme zwang mich auf die Knie. »Es ist deine Schuld, wenn du mich reizt. Sei ruhig, du kleine Schlampe.«
Ricks Stimme dröhnte weiter, erklärte mir alle Gründe, weshalb ich es verdiente. Alle Gründe, warum ich es niemandem sagen würde. Alle Gründe, weshalb es meine Schuld war. Alle Gründe, warum ich es herausgefordert hatte. Und keinen würde es kümmern, weil ich nur Abfall war.
Meine Finger krampften sich in den geäderten Boden. Er blutete.
Ricks Stimme wurde lauter. Sie kam aus meinem Kopf. Er war da drin bei mir.
Ich griff an meinen Kopf, die Haare fielen mir unter den Fingern aus.
Ich musste ihn loswerden.
Sieh dich um, finde den Weg nach draußen, sagte eine andere Stimme.
Malachis Stimme.
Ich erstarrte, suchte im Halbdunkel. War er mir gefolgt? Würde er kommen und mich holen?
Nein, ich war allein, aber ich klammerte mich verzweifelt an seine Stimme. Etwas darin linderte den Schmerz in meinem Kopf, das reichte, um auf die Beine zu kommen und mit ausgestreckten Armen das Gleichgewicht zu halten.
Such den Weg nach draußen. Geh weiter. Das ist nicht real.
Es wurde schlimmer, jede Berührung drang tief in mein Bewusstsein, jeder Schubs und Kniff und Stoß und Griff, und nach ein paar Schritten fiel ich wieder auf die Knie, überrascht, dass mein Kopf nicht zersprungen war. Ich kann nicht, dachte ich. Ich schaffe das nicht.
Doch, du schaffst das, flüsterte Malachi, seine Stimme drang durch das widerliche Pulsieren in meinem Kopf. Das ist nicht real. Du bist stark genug. Steh auf. Du bist fast da.
Ich schrie wieder, diesmal vor Wut – ein Kampfruf. Ich stampfte gegen die glitschige Haut des Gebäudes, hieb meine Fersen in sein Fleisch.
Jedes Mal, wenn ich den Fuß hob, skandierte ich: Ich bin stark genug.
Bei jedem Atemzug wiederholte ich: Das ist nicht real.
Hoch. Runter. Ein. Aus.
Wenn meine Stimme versagte, sprang Malachi ein, vollendete Sätze, ergänzte fehlende Worte.
Aber mit jedem Schritt klebte mehr Gewebe an meinen Füßen. Es wurde schwerer, sie zu heben. Der Boden saugte mich an, atmete mich ein, schluckte und verdaute mich. Ich wollte aufgeben. Auf einmal wusste ich: Wenn ich aufhörte zu kämpfen, würde alles andere auch aufhören. Wenn ich mich nicht mehr wehren würde, könnte ich für immer hier liegen, in der Stille begraben.
Dieses böse Gebäude ließ mir die Wahl: All der Wahnsinn würde enden, wenn ich mich nur still hinlegen würde, sodass es mich fressen könnte. Das war verlockend. Ich war so müde. Und der Angriff, mittlerweile mehr als nur eine Erinnerung, schien niemals zu enden. Wie viel ich noch auszuhalten vermochte, bevor ich zerbrach, wusste ich nicht. Eine Pause wäre so schön. Schlafen.
Mit allem fertig sein.
Mit diesem Wunsch wurden mir plötzlich die Augen geöffnet. Ich blickte die Wände, die Decke, den Boden an … und ich sah. Tausende Menschen, verwoben, mit geschlossenen Augen, ruhend. Rücken und Bäuche und Arme und Beine und Hände und Haare. Sie waren die schwammige Oberfläche unter meinen Füßen, alle verschmolzen unter der glatten Oberfläche einer klebrigen Membran. Sie waren die wogenden Schatten an Wänden und Decke. Sie waren der Grund, weshalb das Gebäude so gewaltig war. Sie waren seine Beute, seine Nahrung, sein Rückgrat. Ein ewiger Schlaf, keine Schmerzen mehr, kein … gar nichts mehr.
Und anstatt Angst zu haben, wurde ich angezogen. Eine Welle der Müdigkeit überkam mich und ich fiel auf die Knie, hieß sie willkommen. Mein Herz schlug träge, bereit, für immer zu schweigen.
Gib nicht auf, flehte Malachis Stimme, voller Verzweiflung. Bitte, gib nicht auf. Ich bin direkt auf der anderen Seite der Tür. Ich will dich wiedersehen. Ich muss dich wiedersehen. Bitte.
Irgendwie war das genug, um mich noch einmal aufzurichten. Nur der Gedanke, er könnte mich brauchen, um es zu schaffen. Wenn ich nur weiterging, konnte ich ihn sehen … Mein Gesicht schlug gegen eine harte Oberfläche.
Eine Tür.
Ich riss sie auf und fiel hindurch, kraftlos und keuchend.
Malachi fing mich auf und trug mich weg vom Maul des Gebäudes. Er setzte sich auf den Randstein und drückte mich an seine Brust. Jetzt trug er keine Rüstung mehr. Sein Geruch, nach Leder, nach sauberer, warmer Haut, füllte meine Nase, verdrängte den Übelkeit erregenden Gestank von Rick. Ich saugte ihn tief ein, konnte nicht genug davon kriegen.
Als er mich streichelte, bemerkte ich, dass ich gar nicht dieses enge, kurze Nachthemd trug, sondern die Wächteruniform. Meine Kleider und die Rüstung waren sauber und unversehrt. Ich dachte, ich wäre vom Speichel des Gebäudes bedeckt, aber alles war trocken.
Malachi schnappte nach Luft, als sich seine Finger um meine schlossen. Behutsam löste er mehrere gelockte Haarsträhnen, die sich um meine Finger gewickelt hatten. Sanft berührte er meine Handflächen, fuhr mit den Fingerspitzen über die blutigen Risse, die meine Fingernägel hinterlassen hatten. Er legte seine Hand auf meine Wange und sah mich an. Ohne Scham erwiderte ich seinen Blick, versank in seinen schwarzbraunen Augen. Sie waren voller Sorge. Um mich. Wie sich das für mich anfühlte, konnte ich nicht beschreiben. Fast wäre ich in Tränen ausgebrochen, kämpfte aber mit aller Macht dagegen an.
Malachi sah mich forschend an, als wäre er nicht sicher, ob ich tatsächlich bei klarem Verstand war. »Kannst du mich hören? Geht es dir gut?«
»Das war wirklich mies«, murmelte ich mit heiserer Stimme.
»Ja, das kann man so sagen.« Er drückte mich fester an sich. Das fühlte sich unbeschreiblich gut an.
Mein Gehirn ging wieder online und verarbeitete, was ich sah. Er war sehr blass. »Geht es dir gut?«
Er nickte. »Ja. Ich bin schon Hunderte Male da durch gelaufen, also ist es nicht mehr so schlimm wie früher. Ich schaffe es ziemlich schnell. Aber anfangs hätte ich es fast nicht mehr rausgeschafft.«
»Wie bist du an mir vorbeigekommen? Ich bin als Erste rein.«
»Vielleicht bin ich direkt an dir vorbeigelaufen und wir haben es beide nicht bemerkt. Da drinnen bist du immer allein. Allein im Kampf mit deinen schlimmsten Erinnerungen. Deshalb haben die Mazikin solche Angst vor diesem Ort. Sie können nicht beides verarbeiten, ihre eigenen Erinnerungen und die ihres menschlichen Wirts. Sie kommen nie durch.«
Ich betrachtete die bedrohliche, schwarze Silhouette des Turms und stellte mir vor, was Malachi gesehen haben mochte, als er in dem Gebäude war. Für mich war der Holocaust Geschichte. Für ihn war er Erinnerung.
Ich schlang meine Arme um ihn und drückte mein Gesicht an seinen Hals, wünschte, ich könnte seine Erinnerungen wegscheuchen und ihm Geborgenheit geben. Sein Puls pochte gegen meine Wange, sein Atem ging keuchend.
Für einen Moment erstarrte er, aber dann legte er seine Hand auf meinen Hinterkopf. Er hielt mich fest, tröstete mich, tröstete vielleicht auch sich selbst.
»Ich hab mir Sorgen gemacht«, sagte er. »Ich bin hinter dir her. Hab versucht, nach dir zu rufen und dir mehr darüber zu sagen, aber du warst schon weg. Es tut mir so leid, dass ich es dir nicht rechtzeitig erklärt habe. Als du zur Tür gestürzt bist, hätte ich dich festhalten müssen.« Seine Stimme zitterte. »Du hast lange gebraucht.«
»Ich hätte fast aufgegeben. Und ich sah …« Ich wollte nicht beschreiben, was ich gesehen hatte.
Er streichelte meine Haare, dann nahm er die Hände weg, als hätte er sich bei etwas ertappt. »Ich weiß, was du gesehen hast. Manche ertragen es nicht, den schlimmsten Teil ihres Lebens noch einmal durchzumachen. Sie legen sich hin und geben auf. Das Gebäude, es …«
»Frisst sie?«
»Nun, ja.« Er schaute zu mir runter. »Ich glaube nicht, dass es wehtut.«
»Nein, es sah aus wie … nichts. Wie nicht existieren. Ein paar Sekunden lang war es wirklich verlockend. Ich wollte, dass alles aufhört. Aber dann hast du mit mir gesprochen.« Er zog die Brauen hoch und ich hielt inne. »Hast du nicht mit mir gesprochen?«
Er schüttelte den Kopf. »Du hast meine Stimme gehört? Weißt du bestimmt, dass es meine war?«
»Ja. Das hat mich gerettet. Du hast gesagt, ich soll weitergehen. Und du …« Ich verstummte, nicht sicher, ob ich den Rest erzählen wollte, jetzt sah es ja so aus, als wäre alles ein Hirngespinst gewesen.
Ich spürte sein Zittern. »Vergiss es«, sagte ich schnell. »Ist bei dir wirklich alles okay?«
»Jetzt, wo du da bist, geht es mir schon besser. Ich schätze, ich sollte mich geehrt fühlen, dass du meine Stimme gewählt hast, um es da durch zu schaffen.«
Ich ließ vor Scham den Kopf hängen. »Sicher, gern geschehen.« Ich sah mich um. »Wo ist Ana?«
»Sie rennt immer durch und braucht dann etwas Zeit, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Gleich ist sie wieder da.«
Mehr und mehr wurde mir bewusst, wie nah wir einander waren, wie eng er die Arme um mich geschlungen hatte, wie wenig es noch brauchte, um den Abstand zwischen uns zu schließen. Meine Wangen glühten.
»Ich glaube, mir geht es jetzt gut«, sagte ich leise. Fragend runzelte er die Stirn, als wäre ihm die Intimität unserer Position gar nicht aufgefallen. Dann fiel sein Blick auf meine Wangen und er sah die Schamesröte.
»Tschuldige«, murmelte er, setzte mich auf dem Randstein ab und stand auf, als brauche er auf einmal Distanz. Er ging zu seiner Ausrüstung, die er auf dem Gehweg abgelegt hatte, und zog mit geschmeidigen Bewegungen seine Rüstung wieder an. Seine Anmut war völlig natürlich, jeder Handgriff hatte seinen Zweck. Seufzend fuhr ich mir über den Mund und fragte mich, ob ihm auffiel, wie ich sabberte.
»Ah, Lela hat es geschafft. Braves Mädchen«, rief Ana, als sie näher kam. Ihr Gesicht sah ein bisschen gerötet aus, als hätte sie es gründlich abgeschrubbt. Was hatte sie im Turm gesehen? Sie bemerkte meinen Blick und strich mit der Hand über ihre Wange, wie um eine hartnäckige Träne wegzuwischen. Sie lächelte mich verkrampft an. »Freut mich zu sehen, dass du nicht völlig kaputt bist.«
Ich zuckte bei ihrer Umschreibung zusammen. Aus irgendeinem Grund wünschte ich, Malachi hätte das nicht gehört. Er tat so, als hätte er nichts mitbekommen, und schien sich voll konzentriert auf den Marsch durch die Stadt vorzubereiten.
Ana streckte mir die Hand entgegen, um mir vom Randstein aufzuhelfen. »Das erste Mal ist immer am schlimmsten. Jetzt weißt du, was dich erwartet. Und du weißt, dass du stärker bist als das.« Ich nahm die Hilfe an. Ana musterte mich. »Wir müssen dein Haar neu flechten, Mädel. Du hast dir da drinnen ziemlich übel mitgespielt.«
Ich tastete nach meinen Haaren, plötzlich wurde mir bewusst, dass ich wahrscheinlich völlig bekloppt aussah. Ich hatte nicht darüber nachgedacht, als Malachi mich gehalten hatte. Wenn er mich ansah, fühlte ich mich … schön. Jetzt fühlte ich mich wie eine Vogelscheuche.
Hektisch zog ich den Gummi vom Zopf und fuhr mir mit den Fingern durchs Haar. Ich beugte mich vor, schüttelte den Kopf und ließ es um mich herum wirbeln. Es hüpfte glücklich um mein Gesicht, froh, befreit zu sein.
Als ich mich wieder aufrichtete, beobachtete Malachi mich. Sein Gesichtsausdruck ließ meinen Atem stocken und trieb mir wieder die Hitze in die Wangen … und nicht nur in die Wangen.
Schnell drehte er sich weg. »Es geht weiter, Ladys. Wir müssen einen Zahn zulegen, wenn wir heute Abend in Harag sein wollen.« Er schulterte seine Tasche und ging die Straße hinunter.