PROLOG

Wenn mir jemand an meinem ersten Tag an der Warwick Highschool erzählt hätte, dass ich für eine meiner Mitschülerinnen durch die Hölle gehen würde, und noch dazu für dieses Warwick-Alphaweibchen, hätte ich gelacht. Oder vielleicht hätte ich ihn mit einem Kugelschreiber erstochen. (Es war ein harter Tag.)

Ich stand hinter der Schule und zündete mir eine dringend benötigte Pausenzigarette an, als ich sie zum ersten Mal sah. Sie war hübsch, blond, und was sie trug, hätte man mit dem Jahresunterhalt für ein Pflegekind nicht bezahlen können. Ihre hellblauen Augen huschten über den Zaun und landeten auf diesem langen, hageren Kerl in dreckigen Jeans, der neben mir stand. Sie ging zu ihm und fragte mit zittriger Stimme: »Angela hat mir gesagt, du hättest Oxycodon?«

Dreckjeans löste sich vom Zaun. »Angela könnte recht haben, je nachdem, was du für mich hast.«

Das Mädchen griff in den Geldbeutel, zog ein paar Scheine heraus und hielt sie in die Höhe. Am liebsten hätte ich ihr einen Schlag auf den Hinterkopf verpasst. Hatte ihr nie jemand beigebracht, dass man in aller Öffentlichkeit nicht mit Geld herumwedelt?

Dreckjeans lächelte, drehte sich um und drängte sie gegen den Zaun. »Ich könnte mir vorstellen, dass du noch mehr für mich hast. Ist das dein erstes Mal?«

Was soll man dazu sagen? Ziemlich mies, ziemlich zweideutig. Schon in dem Moment hätte ich ihm meine Zigarette ins Auge drücken sollen. Ich kann doch nicht das einzige Mädchen sein, das so was fantasiert.

Der Blonden fiel die Kinnlade herunter. »Mein erstes … Ach so, dass ich herkomme … oder?«

Merkte sie nicht, dass der Dreckskerl sie übervorteilen wollte? Wahrscheinlich würde er ihr das Geld abnehmen, aber sie hatte es ja nicht anders gewollt. Und so wie er sie anstarrte, hätte ich wetten können, dass er es drauf anlegte, ihr für die Tabletten mehr als nur Geld abzunehmen. Das hatte sie allerdings nicht gewollt.

Mir hätte es egal sein können. Die bissigen Kommentare von Mädchen wie ihr über meine wilde Mähne und meine superbilligen Kmart-Klamotten hatte ich im Ohr, seit ich am Morgen meines ersten Schultags aufgetaucht und von meiner neuen Pflegemutter und meiner Bewährungshelferin ins Sekretariat begleitet worden war. Ich hatte gesehen, wie diese Mädels zurückzuckten, als ich den Korridor entlangging. Sie tuschelten, ich hätte jemanden umgebracht, was überhaupt nicht stimmt. Ich habe nur beinah jemanden umgebracht. Mit den Gerüchten, den verkniffenen Gesichtern hatte ich gerechnet und bereits beschlossen, dass mir egal war, was sie dachten, dass sie alle mir komplett egal waren. Was kümmerte es mich, wenn ein Möchtegern-Drogendealer dieser Modetussi auf den Pelz rückte?

Aber … in dem Moment, als ich sah, wie ihr sowieso schon blasses Gesicht käseweiß wurde, war mir klar, dass ich nicht tatenlos mit ansehen konnte, was da passierte.

Also drückte ich meine Zigarette aus und machte ein paar Schritte auf sie zu. Ein Kraftprotz war ich nicht, aber auch keine magersüchtige Bohnenstange. Liegestütze sind kein Problem für mich. Zeit hatte ich mehr als genug gehabt im RITS – der Jugendhaftanstalt von Rhode Island. Was es wert ist, wenn man sich verteidigen kann, wusste ich auch. Eine der vielen Nebenwirkungen eines Daseins als Rick Jensons Pflegekind. Nach ein paar Monaten unter seiner »Obhut« hatte ich versucht, mich umzubringen. Und als das nicht der Fluchtweg war, auf den ich gehofft hatte, entkam ich auf einer anderen Route. Ich prügelte ihm die Scheiße aus dem Leib, sodass ich im Jugendknast landete. Wo ich lernte, keine Angst vor Kerlen wie Dreckjeans zu haben.

»Na mach schon«, blaffte ich und trat noch einen Schritt näher. »Lass sie ihre Pillen kaufen und wieder zu ihren Freundinnen rennen.«

»Halt’s Maul«, sagte Dreckjeans, rückte dem Mädel noch näher auf den Leib und sah sie von oben herab an. Für mich hatte er kei nen Blick übrig. Er glaubte nicht, dass ich es mit ihm aufnehmen könnte. Echt stark.

Die Glocke verkündete das Ende der Mittagspause. Ein krummes Ding würde reichen, um mich postwendend zurück ins RITS zu schicken. Also hätte ich schnurstracks ins Klassenzimmer huschen sollen, aber ich konnte mich nicht überwinden, die Blonde im Stich zu lassen. Ich wusste, wie es sich anfühlt, wenn man hilflos und wie festgenagelt ist, auch wenn ich mich noch so anstrengte, es zu vergessen.

»Nimm das Geld«, wimmerte sie, »und lass mich in den Unterricht gehen.«

»Och, du kannst doch jetzt nicht gehen. Wir müssen noch über den Preis reden«, säuselte Dreckjeans und erübrigte einen Seitenblick auf mich. Ich konnte geradezu sehen, wie sein Winzlingshirn arbeitete, wie er dachte, er kriegt zwei zum Preis von einer, wie er sich einbildete, ich wäre inbegriffen. Und tatsächlich wand sich sein Arm um meinen Hals, während er weiter mit dem Mädchen sprach. »Ich möchte deinen hübschen Mund auf meinem …«

Ich boxte ihn in den Magen und er krümmte sich. Dann wandte ich mich an die Blonde, die aussah, als müsste sie gleich kotzen. »Worauf wartest du noch? Hau einfach ab …«

Dreckjeans packte mich an den Haaren und riss mich nach hinten. Ich donnerte meinen Absatz auf seinen Fuß und mein Ellbogen traf seinen Magen. Keuchend ließ er meine Haare los. Mit zwei Schritten war ich hinter ihm und zückte die einzige Waffe, die ich hatte: einen Kugelschreiber.

Ich verpasste ihm einen Tritt in die Kniekehle und griff mir ein Büschel seiner Haare, als er taumelte. Er fiel auf die Knie und ich zog mit einem Ruck seinen Kopf nach hinten. »Wie wär’s, wenn wir jetzt wieder ins Klassenzimmer gehen?« Ich gönnte es mir, ihm den Kugelschreiber in den Nacken zu drücken, nur ein bisschen. Die Delle, die er hinterließ, umringt von blauer Tinte, gefiel mir.

Er hob die Hände, ließ sie aber rasch wieder fallen, als sich der Kuli tiefer in seine Haut bohrte. Er winselte und krächzte: »Alles klar, aber nach der Schule find ich dich …«

Ich stieß seinen Kopf vor und zurück. »Dein Auftritt als Möchtegern-Gangster beeindruckt mich null. Du kannst mir glauben, dass ich dir so richtig die Fresse poliere, wenn du auch nur in meine Nähe kommst. Übrigens hab ich auch Freunde in Providence, die mir gern helfen. Möchtest du die mal kennenlernen?«

Das war gelogen. Aber wenn eine mit meinem Ruf so einem Weichei erzählte, sie hätte Freunde in Providence, dann dachte der automatisch an Latino-Straßengangs. Und wenn ich mich schon mit Klischees herumschlagen musste, warum sollte ich sie nicht auch mal sinnvoll nutzen?

Dreckjeans schüttelte den Kopf. In die Augen sah er mir nicht, das hieß, er wollte nicht klein beigeben … und er würde das nächste Mal von hinten angreifen. Plötzlich seiner überdrüssig, ließ ich seine Haare los.

»Ich hab von dir gehört. Du bist das Mädchen, das gerade aus dem RITS entlassen worden ist, stimmt’s? Das heißt, du bist auf Bewährung.« Die Speicheltröpfchen flogen nur so, als er wieder aufstand. »Weißt du was? Du fährst wieder ein –«

»Nein, tut sie nicht«, blaffte ihn die Blonde an. Ich hatte sie schon fast vergessen. »Wenn du irgendjemandem erzählst, was grade passiert ist, werde ich mit meinem hübschen Mund sofort zum Schulleiter gehen und sagen, dass du mich sexuell genötigt hast. Dann werden wir sehen, wer im RITS landet.«

Allmählich fing ich an, sie zu mögen.

Dreckjeans hielt die Klappe. Jeder hätte ihm geglaubt, wenn er mich beschuldigte, ich hätte ihn angegriffen, aber niemand würde ihm seine Story abnehmen, wenn sie sich hinter mich stellte.

»Pass bloß auf, dass dir nichts passiert, Schlampe.« Er drehte sich um und spurtete zurück zur Schule.

Die Blonde sah mich an. Sie wirkte so erleichtert, dass ich dachte, sie fällt gleich auf die Knie. »Danke, vielen Dank.« Sie streckte mir ihre zitternde Hand entgegen. »Ich bin Nadia Vetter.«

Das war so förmlich, dass ich beinah laut aufgelacht und alles versaut hätte. Stattdessen schüttelte ich ihr die Hand. »Lela Santos«, erwiderte ich. »Gern geschehen. Und ich bedanke mich auch.«

Wieder läutete die Glocke und ich stöhnte. Nadia machte mit dem Kopf eine Bewegung Richtung Schule. »Was hast du jetzt?«

»Englisch. Bei –« Ich zog einen verknitterten Stundenplan aus der Tasche. »Hoffstedler?«

Sie beugte sich über den Plan und sah sich die Zimmernummer an. »Ich hab nebenan Geschichte. Komm. Ich bring dich hin.« Sie marschierte los, dann blieb sie stehen und schaute über die Schulter. »Kommst du? Es ist besser, wenn ich dich begleite. Dann können wir sagen, es ist meine Schuld, dass du zu spät kommst.« Sie strahlte mich an. »Mir verzeihen sie immer.«

Ich machte mehrmals den Mund auf und wieder zu und versuchte zu begreifen, dass diese Modetussi echt nett war. Wo ich doch erwartet hatte, dass sie kurz »Danke« sagt, um dann so zu tun, als würde ich nicht existieren. Schließlich hörte ich auf, nach den rechten Worten zu suchen, und ging einfach mit ihr zurück zur Schule.

Wenn mir an meinem zweiten Tag an der Warwick Highschool jemand erzählt hätte, dass ich für dieses Alphaweibchen durch die Hölle gehen würde, hätte ich ihm vielleicht geglaubt.