16
»Auf, Lela. Zeit zu gehen«, trällerte Ana.
Ich stöhnte und drehte mich um. Malachi und ich waren zu lange auf dem Turm geblieben, aber es hatte sich so gut angefühlt, dass es mir nicht leid tun konnte. Wortlos hatte er mich festgehalten, gemeinsam schauten wir in den fernen Wald, träumten jeder für sich, atmeten gemeinsam. Es mochten Stunden vergangen sein. Vielleicht aber auch nur Minuten.
Jedenfalls war es nicht lang genug gewesen.
Als der Mond den Himmel überquert hatte, ließ Malachi mich los und erinnerte mich daran, dass wir am Morgen aufbrechen wollten. Er war einsilbig, als wäre nur ein Teil von ihm von seiner Reise über die Stadtmauer zurückgekehrt. Sobald wir die Treppe betraten, fing er wieder an, unnötigen Körperkontakt zu vermeiden. Es war, als wäre eine Barrikade zwischen uns, die ich gebaut hatte, um mich zu schützen, und die ich jetzt nicht mehr so einfach umgehen konnte.
»Auf, auf.« Ana trat gegen das Feldbett. »Ich kann nicht glauben, dass ich dir mein Bett überlassen habe. Du hast es kaum benutzt. Ich dachte schon, du wärst in der Dusche ertrunken.« Mühsam machte ich ein Auge auf und sah gerade noch, wie Ana meine Klamotten auflas, die ich nach einer kurzen, kalten Dusche hingeworfen hatte. Sie rümpfte die Nase. »Die riechen nach Malachi.«
Ich vergrub meinen Kopf im Kissen. »Wie weit ist es nach Harag?«, fragte ich verzweifelt bemüht, die Unterhaltung in andere Bahnen zu lenken.
Ana warf mit frischer Kleidung nach mir. »Wir kommen bis heute Abend nicht mal bis an den Rand, es sei denn Malachi macht uns Beine. Aber ich glaube, er will diesmal unsere Kräfte schonen.«
Ich zog ein Hemd über den Kopf. »Hey – kannst du mir mal was erklären? Du hast gestern zu Malachi gesagt, dass ihr euch alle Mühe gegeben habt, mich aus der Zone fernzuhalten.«
»Och. Das könnte ich. Aber dann würde Malachi gemein werden. Und der Junge hat eine spezielle Begabung für einfallsreiche Gemeinheiten.«
»Komm schon, Ana«, jammerte ich. »Nenn es Heimlichkeiten unter Mädchen. Du kriegst hier nicht viel Mädchenkram ab, stimmt’s?«
Ana sah mich argwöhnisch an. »Du sagst ihm nicht, dass ich es dir erzählt habe?« Ich schüttelte den Kopf, während ich eine Hose anzog. »Okay. Aber glaub mir, ich habe auch Begabungen, zum Beispiel verstehe ich mich darauf, Leute mit spitzen Dingen an ihren Schwachstellen zu treffen.«
Sie zog ein Messer aus dem Nichts, ließ es zwischen den Fingern herumwirbeln und steckte es genauso schnell wieder weg. »Malachis Mission Nummer eins seit den jüngsten Morden an Wächtern ist, das Mazikin-Nest zu finden. Er arbeitet seit Wochen daran. Zweimal wurde er deswegen schwer verwundet. Es beherrscht ihn komplett. Und du, mit deinem Gefängnisausbruchspielchen, hast ihm die beste Chance, die er je hatte, geboten, es zu finden.«
»Weil Sil mich dort hinbringen wollte.« Plötzlich von Übelkeit überwältigt, führte ich meine Hand zum Bauch. Er fühlte sich seltsam hohl an.
»Genau. Malachi hätte dich nur bis zum Nest verfolgen müssen und wir hätten sie gefunden.«
»Warum hat er es nicht getan?«
Ana scharrte mit den Füßen und zögerte. »Schau, Lela, ich mag dich irgendwie, also tut es mir ein bisschen leid, dass ich Malachis Entscheidung nicht billige. Das war seit einer Ewigkeit die einzige Chance zu sehen, wo sie die Leute hinbringen.«
»Jaja, den Teil hab ich kapiert. Warum hat Malachi diese Gelegenheit nicht genutzt?«
»Weil er dich nicht mehr rausbekommen hätte. Wir wissen nicht, wie viele Mazikin im Nest sind, aber ihr Bestand ist im letzten Jahr rapide gewachsen. Sil und Ibram – und bis vor ein paar Tagen auch Juri – sind in dieser Zeit sehr stark geworden. Sie rekrutieren jetzt aggressiv, als würden sie eine Offensive vorbereiten. Wir wären total in der Unterzahl gewesen, besonders weil wir kein ganzes Aufgebot an Wächtern mitnehmen konnten – Sil hätte dich getötet, sobald er uns gehört hätte. Da wir also nur zu zweit waren, wäre die einzige Möglichkeit gewesen, tatenlos zu beobachten, wie du in das Nest gehst.«
»Hättet ihr nicht Verstärkung anfordern können, nachdem ihr das Nest gefunden hättet?«
»Ich sagte doch, wie weit Harag weg ist. Es hätte mindestens einen ganzen Tag gedauert.«
Ich erinnerte mich, wie seltsam die Mazikin mich behandelt hatten. Im Grunde hatten sie sich auf ihre megagruslige Art um mich gekümmert. »Sie waren nicht grausam oder so. Sie haben mich ja nicht gefoltert. Ich wäre vielleicht ein, zwei Tage klargekommen.«
Ana sah mich mitleidig an. »Malachi hat dir nicht gesagt was sie tun, oder? O Gott, er hat sie nicht mehr alle. Lela. Schatz. Natürlich waren die Mazikin nicht grausam. Sie lieben solche, die aussehen wie du. Schön und stark. Sie hätten wirklich gut für dich gesorgt. Bis zu dem Moment, in dem sie dich auf einen Tisch gefesselt und eine Mazikinseele herbefohlen hätten, die Besitz von dir ergreift. Und dann, na ja, Lichter aus. Keine Lela mehr. Lelas Körper atmet und bewegt sich, klar, aber die echte Lela? Die ist weg.« Ana atmete schwer, als sie sich wegdrehte und sich grimmig übers Gesicht fuhr.
Jetzt wirklich angewidert zog ich die Knie zur Brust. »Deshalb sehen sie wie jeder andere auch aus. Weil sie jeder andere sind.«
Anas Miene war eiskalt, als ihr Blick meinen traf. »Du hast es kapiert. Wenn ein Mazikin Besitz von dir ergreift, gibt es kein Zurück. Die Person sieht so aus und hört sich an wie davor. Sie hat sogar noch einige alte Erinnerungen und Fähigkeiten. Aber die Seele des Menschen ist weg.«
»Für immer weg? Sie wird vernichtet?«
Ana verzog das Gesicht. »Nein. Sie wird in die Heimat der Mazikin verbannt, der Ort, dem selbst die Mazikin verzweifelt zu entkommen versuchen. Wenn es eine richtige Hölle gibt, dann ist es wohl das.«
»Also enden diese Leute in der Hölle, nicht weil sie etwas verbrochen hätten, sondern weil sie Pech hatten?« Ich hatte gedacht, es gäbe wenigstens ein bisschen Gerechtigkeit in diesem sogenannten Leben nach dem Tod, aber das klang wirklich nicht fair.
»Wir glauben, es gibt einen Weg, sie zu befreien«, sagte Ana ruhig. »Deswegen töten wir die Mazikin, auch wenn das nicht folgenlos bleibt. Wenn du den besessenen Körper tötest, wird die Mazikinseele zurück in ihr Heimatland geschickt, und wir glauben, das befreit die menschliche Seele. Aber das heißt, die Mazikin können zurückkommen und von jemand anderem Besitz ergreifen. Die stärksten kommen immer zurück. Malachi hat Sil in drei verschiedenen Körpern bekämpft. Und Juri – er und Malachi kennen sich schon lang. Malachi hat ihn schon mindestens viermal getötet und Juri hat Malachi auch ein-, zweimal fast erwischt. Die letzten Jahre hat Juri daran Gefallen gefunden, von Körpern Besitz zu ergreifen, die slowakisch sprechen, nur um ihn in einer seiner Muttersprachen zu verspotten.«
Auch wenn ich nur wenig von Juri wusste, das war ihm durchaus zuzutrauen. »Und es gibt keinen anderen Weg, jemanden zurückzuholen? Kann man nicht einen Exorzismus machen oder so?«
Sie ließ ein verächtliches Lachen vernehmen. »Wenn jemand ein Mazikin ist, kann man ihn nur töten. Sonst sammeln sie weitere Opfer und vermehren ihre Zahl. Sie finden hier ohne weiteres Opfer, aber das genügt ihnen nicht. Sie sind wie ein Virus – sie wollen aus der Stadt ausbrechen und Chaos stiften. Das ist schon einmal passiert, vor Jahrhunderten. Menschliche Wächter wurden entsandt, um sie aufzuhalten, und es gelang ihnen, auf Kosten ihres eigenen Lebens und dem zahlloser anderer. Unser Job ist es, das nie wieder zuzulassen – und die Bewohner der Stadt zu beschützen, bis sie ihren Weg zum Gericht finden.«
»Dann hat Malachi seinen Job doch gemacht, wenn er mich beschützt hat?«
Ana schüttelte den Kopf und der mitleidige Ausdruck erschien wieder auf ihrem Gesicht. »Wenn er ein gewöhnlicher Wächter wäre vielleicht. Aber er ist unser Anführer. Seine Aufgabe ist es, nachhaltig zu handeln, das große Ganze zu sehen und schwere Entscheidungen zum Wohle aller zu treffen. Und Malachi macht seinen Job sehr, sehr gut. Doch aus irgendeinem Grund war er nicht bereit, dich zu opfern. Ihm war klar, dass sie entweder von dir Besitz ergreifen würden oder dass du bei einem bekloppten Fluchtversuch getötet würdest oder dass er das Nest abbrennen müsste, während du drinnen bist. Keines dieser Risiken wollte er eingehen.«
Mein Magen machte einen seltsamen Rückwärtssalto. Niemandem war ich bisher so wichtig gewesen, dass er so viel für mich getan hätte. »Aber warum wollte er nicht, dass ich es erfahre?«
»Du solltest dich nicht schuldig fühlen.«
Ich starrte Ana an, während sich das Puzzle zusammenfügte. »Weil er das Nest noch nicht gefunden hat, werden andere geopfert«, würgte ich hervor, die Wahl, die Malachi getroffen hatte, abwägend. So eine Verantwortung wollte ich nicht tragen. Ich hoffte, er bereute seine Entscheidung nicht. Nadia blickte mich von meinem Arm aus an, allein und verletzlich, vielleicht hatte er die falsche Entscheidung getroffen. Ich stand auf und tigerte durch den Raum.
Ana legte eine Hand auf meinen Arm und hielt mich fest, als ich zurückwich, als hätte sie gewusst, wie ich reagiere. »Vergiss nicht«, warnte sie mich – sie wirkte haargenau wie das Raubtier, das sie war, »du hast versprochen, ihm nichts zu sagen.«
»Geht klar. Aber jetzt will ich los.«
Ana gab meinen Arm frei. »Genau. Deine Freundin. Gut – wir müssen noch auf Malachi warten. Er wird gleich hier sein und dann brechen wir auf.« Sie setzte sich auf ihr Feldbett. »Also, während wir warten … Ich hab ausgepackt, jetzt bist du dran. Stimmt das, was Malachi erzählt hat? Du hast das Land verlassen, nur um deine Freundin zu finden und sie rauszuholen?«
»Ja.«
»Du weißt, wie bescheuert das für mich klingt, oder? Das Land da draußen soll angeblich der Himmel sein. Keine Sorgen, keine Gefahren, kein Schmerz und keine Reue. Alles, was du brauchst. Warum setzt du das aufs Spiel?«
Ich zuckte die Schultern. »Nadia war so stark und hat nie vergessen, wie man nett ist. Sie war liebenswert, süß und sie –«
»Also, im Wesentlichen eine nette Person. Verstanden. Und … ich kapier’s immer noch nicht.«
Ich warf die Hände in die Luft. »Sie hat mir eine Zukunft gegeben! Vor ihr hatte ich keine. Wenn ich einen Tag überstanden hatte, war mir das genug. Ich hätte nie gedacht, das könnte jemals anders sein. Aber sie hat mir gezeigt, dass es anders sein kann.«
Ana lehnte sich gegen die Wand und verschränkte die Arme. Ihren Gesichtsausdruck konnte ich nicht deuten, aber etwas sagte mir, dass ich einen empfindlichen Nerv getroffen hatte. Ich strich über meinen Ärmel, über das Tattoo.
»Wenn du keine Zukunft hast, benimmst du dich anders. Du planst nicht. Du legst dich nicht ins Zeug. Du … existierst nur. Sie hat mir das nicht durchgehen lassen. Sie hat mich angetrieben. Mir keine Ruhe gelassen. An mir herumgenörgelt. Manchmal war es verdammt nervig, aber sie hat keinen Durchhänger akzeptiert. Wir hatten auch Spaß. Sie hat mir Plätze gezeigt, die ich vorher noch nie gesehen hatte. Wir haben viel gelacht. So was hab ich mit niemandem vorher gemacht. Das Leben erschien mir lebenswert und eine Zukunft schien sich zu lohnen, wenn so etwas dazugehörte.«
Ich wischte mein Gesicht mit dem Ärmel ab.
Als ich mich wieder zu Ana drehte, sagte sie leise: »Das verstehe ich. Eine Zukunft wäre schön gewesen.« Sie räusperte sich. »Malachi hat gesagt, du hattest Träume und Visionen von der Stadt, bevor du gestorben bist, aber wie viel hast du wirklich gesehen?«
»Zwei Jahre lang bin ich hier fast jede Nacht herumgeirrt. Aber viel hab ich nicht mitbekommen. Ich war wie im Nebel.«
Ihre Augenbrauen schossen hoch. »Du warst ein Geist oder was? Wir können sie nicht sehen, aber die Mazikin schon. In ihrem Kern sind sie Seelen, auch wenn sie andere Körper bewohnen. Also vermute ich, dass sie andere Seelen sehen, auch die, die noch mit lebenden menschlichen Körpern verbunden sind. Vor ein paar Jahren habe ich das selbst beobachtet. Das war das Gruseligste, was ich je erlebt habe. Dieser Mazikin hat mit der Luft gesprochen, sie gestreichelt, als wäre da jemand. Er forderte den Geist auf zu bleiben, sagte, er wäre perfekt, dass er hier leben sollte, dass man sich um ihn kümmern würde.«
Ich schauderte, erinnerte mich an Juris Stimme, die mir all die giftigen Worte ins Ohr geflüstert hatte.
»Der Mazikin war so vertieft, dass er nicht einmal bemerkte, wie ich mich anschlich, um ihm die Kehle durchzuschneiden.« Sie hielt inne, einen Moment in der Erinnerung gefangen, dann richtete sie das Augenmerk wieder auf mich. »Moment mal, wenn du in den Träumen nicht viel mitbekommen hast, woher wusstest du dann von den Waffen der Wächter?«
»Als Nadia gestorben war, veränderten sich meine Träume. Ich sah alles aus ihrer Perspektive, aber es war deutlicher, schärfer, als wäre ich immer noch ich selbst. Ich sah die Kuppel aus Dunkelheit über der Stadt. Ich sah die Tore und die Wächter. Ich habe eine Mazikin gesehen, die versucht hat, Nadia mitzunehmen – hey, wie kommt es, das manche von ihnen auf allen Vieren laufen?«
Ana lachte. »Och – die Alten, stimmt’s? Es liegt an den älteren Körpern – sie können sich nicht richtig aufrecht halten, wenn sie besessen werden, also laufen sie herum wie Tiere. Ich habe mich immer gefragt, ob die Mazikin in ihrer wahren Gestalt nicht eher wie Tiere aussehen.«
Ich schauderte. »In einer Vision sah ich, wie Malachi zwei Mazikin tötete und Ibram abwehrte. Nadia war dort, in einem Versteck, und hat alles mit angesehen. Malachi sagt, dass war in Harag und deshalb gehen wir da hin.«
Ana blickte mich erstaunt an. »Das hast du gesehen? Das ist erst eine Woche her oder so.«
»Warum ist das so überraschend?«
»Das heißt, dass du noch keine Woche hier bist. Die Leute, die hier ankommen, sind für gewöhnlich völlig desorientiert. Das weiß ich aus Erfahrung. Ich habe mich ziemlich schnell gefangen, doch zuerst war es wirklich verwirrend … Aber du warst nicht durcheinander, oder?« Ana atmete hörbar aus und schüttelte den Kopf, endlich glaubte sie mir. »Weil du selbst entschieden hast zu kommen. So muss es sein. Ich meine, ich verstehe schon, wie wichtig Nadia dir ist, aber noch nie ist jemand freiwillig durch diese Tore gegangen, um jemanden zu suchen. Kein Wunder, dass Malachi so fasziniert von dir ist.«
Aus irgendeinem Grund gab mir Anas Kommentar einen Stich, der mir so schmerzhaft wie eines ihrer Messer in die Brust fuhr. »Mhm«, sagte ich heiser, »kein Wunder.«
Es klopfte vernehmlich an der Tür. Ana sah mich an. »Vergiss nicht, was du versprochen hast.« Sie fegte zur Tür und öffnete sie.
Ich hielt die Luft an, als Malachi den Raum betrat. Er trug frische Kleider, offensichtlich ihre Uniform – ein marineblaues tailliertes Hemd und eine Militärhose. Der Träger einer Umhängetasche schlang sich diagonal um seine Brust. Das Klimpern bei jeder seiner Bewegungen verriet mir, dass sie voller Waffen war. Ich biss mir auf die Lippe und fummelte an meinen Schnürsenkeln herum. Er sah wirklich, wirklich gut aus. »Wir müssen noch bei Michaels Werkstatt vorbei und die neue Rüstung abholen«, sagte er zu Ana. Mir warf er einen vorsichtigen Blick zu. »Bist du bereit?«
»Auf jeden Fall«, sagte ich eine Spur zu enthusiastisch.
Falls er bemerkte, dass ich kurzzeitig verblödet war, ließ er sich nichts anmerken. »Also gut, meine Damen, brechen wir auf.«
Michael, der Waffenmeister, hatte seine Werkstatt am westlichen Ende der Wächterstation, einen langen Marmorkorridor hinunter, der mit kunstvollen Gaslaternen an Wandleuchtern beleuchtet war. Malachi führte uns, seine Stiefel quietschten auf dem glänzenden, glatten Boden.
Er warf mir einen Blick über die Schulter zu. »Michael muss man mit Vorsicht genießen. Er ist ziemlich reizbar.«
Ana schnaubte, sagte aber nichts.
»Also, ähm, Raphael … Michael … Läuft Gabriel uns hier auch noch über den Weg?«, fragte ich mit dem Gefühl, etwas herausgefunden zu haben.
Anas Gelächter belehrte mich eines Besseren. »Nein, einen Gabriel gibt es hier nicht. Und Michael ist …«
Malachis Mundwinkel zuckten. »Er ist ein ganz eigener Typ. Aber ich glaube, einen Heiligenschein hat er noch nie besessen.«
Ganz am Ende des Flurs standen zwei Wächter vor einer aufwendig geschnitzten Flügeltür.
»Ghazi. Sofian.« Malachi nickte den beiden zu. Sie nickten ebenfalls und öffneten uns die Tür.
»Er ist heute Morgen gut in Form, Captain«, grunzte Sofian warnend. Ich hörte schon den Lärm, der nach draußen drang.
»Malachi? Bist du’s? Komm rein, du Napfsülze«, rief eine harsche Stimme vom anderen Ende der Werkstatt.
»Wie hat er dich gerade genannt?«, flüsterte ich und sah mich um.
»Grob übersetzt, einen Idioten«, wisperte Malachi zurück. Ana schnaubte schon wieder.
Es war nicht die kleine, kuriose Werkstatt, die ich mir vorgestellt hatte. Ich hatte ein kindliches Bild von der Werkstatt des Weihnachtsmanns im Kopf. Michaels Betrieb war eher eine Fabrik. Es erinnerte an einen riesigen Eisenwarenladen. Reihen von Metallregalen erstreckten sich vor uns, jedes bestückt mit anderen tödlichen Accessoires. Hier gab es genug Krummsäbel, um eine ganze Armee auszurüsten. Auf den Regalen drängten sich Messer in allen Formen: kurze und lange, gebogene und gerade, gezahnte und welche mit angsteinflößenden Widerhaken. Und Rüstungen – stapelweise Rüstungen.
»Woher kommt das ganze Metall?«, wollte ich wissen.
»Das wissen wir nicht«, entgegnete Ana. »Nur Michael weiß das.«
»Malachi! Du Torfnase, was für ein Dämlack missbraucht eine schöne Waffe wie diese?«, brüllte Michael, während es so grell schepperte, dass ich erschauerte und mir die Ohren zuhielt.
Malachi schloss die Augen, als betete er um Geduld, und ging an einem Regal mit Wurfsternen entlang weiter in die Werkstatt hinein.
Ich konnte mir die Frage nicht verkneifen. »Wie hat er dich diesmal genannt?«
Malachi warf mir einen Blick von der Seite zu und verdrehte die Augen. »Wieder einen Idioten.«
»Glaub mir«, sagte Ana, »das ist besser als seine chinesischen Beschimpfungen. Vor zwei Jahren waren wir huàidàn hier und kuàxiàwù dort. Aber das Schlimmste war –«
»Russisch«, sagten sie gleichzeitig. Wir bogen um die Ecke.
Michael stand vor seinem Amboss und hämmerte auf einen rotglühenden Metallstreifen ein. Er war unglaublich, geradezu imponierend, unheimlich fett. Ich fragte mich, wie etwas so Gigantisches sich mit einer solchen Leichtigkeit bewegen konnte. Und auch wie er es schaffte, sich an seinen zahllosen Speckschichten, die von seinen Gliedmaßen, seinem Bauch und seinem Kinn hingen, nicht zu verbrennen. Aber als ich beobachtete, wie der Schweiß von den Hügeln und Tälern seines Körpers troff, fing ich an, seine Bewegungen wie eine Art anmutiges Ballett zu sehen. Je länger ich ihn betrachtete, desto schöner wurde er. Es erinnerte mich an Raphaels unbeschreibliches Lächeln und daran dachte ich gerade, als Michael mich bemerkte.
Sein Lächeln war … nicht so schön.
»Aber, Jesses Maria«, sagte er bedächtig und so anerkennend, dass Malachi sich sofort vor mich stellte. Michael lehnte sich zur Seite, um mich besser sehen zu können, und ich widerstand irgendwie dem Drang, mich hinter Malachi zu verstecken.
»Michael, das ist Lela, wie du sicherlich bemerkt hast. Ist ihre Rüstung fertig?«
Michael zog die Brauen hoch, sodass auf seiner Stirn fleischige Falten entstanden.
»Ach du meine Fresse. Ich hätte mir mehr Mühe gegeben, wenn du sie gestern mitgebracht hättest. Inspiration, weißt du.«
Malachi machte dieses grollende Geräusch, fing sich aber rasch wieder und räusperte sich. »Bitte, wir sind gerade ein bisschen in Eile.« Er sah sich nach Ana um, vielleicht als Unterstützung, aber sie war weitergegangen, um ein besonders spitzes Messerset ein paar Regale weiter zu liebkosen.
Michael gestikulierte energisch mit dem nunmehr schwarzen Metallstück. »Ruhig Blut, du nutzloser Hohlkopf. Ich habe dir gerade deinen fünften Stab gemacht und deinen Krummsäbel allein diesen Monat sechsmal neu geschmiedet. Und dein achtes Messerset – wie schaffst du es eigentlich, sie so zu verbiegen? Du wirfst sie viel zu hart. Und eben erst habe ich deine dritte Rüstung gewachst – könntest du dich irgendwann entschließen, etwas weniger zu bluten? Rücksichtsloser Bock. Also hetz mich nicht und lass mich diesen Anblick würdigen. Ich habe es satt, dein jämmerliches Gesicht anzusehen.«
Ich biss mir auf die Zunge, um mich nicht kaputtzulachen, und stellte mich nun vor Malachi, in der Hoffnung, dass ein wenig weiblicher Charme den Lauf der Dinge beschleunigen könnte. »Michael, freut mich dich kennenzulernen. Deine Fähigkeiten und deine schöpferische Leistung – wow. Du machst wohl nie Pause.«
Michael zeigte lächelnd seine grauen Zähne und deutete mit dem werdenden Krummsäbel auf mich. »Endlich jemand, der mich würdigt. Du hast recht, Liebes, ich arbeite den ganzen Tag. Und die ganze Nacht.« Er machte eine ziemlich verstörende Bewegung, die vielleicht als Hüftschwung gemeint war, aber eher an eine gewaltige Meereswoge erinnerte. Es war geradezu hypnotisch. Wahrscheinlich aber nicht in der beabsichtigten Art und Weise.
Aus dem Augenwinkel sah ich Malachis Kiefermuskel zucken. Anscheinend interpretierte er Michaels Hüftschwung doch so, wie er gemeint war – und das machte ihn ziemlich nervös. Aber solange Michael und all seine Gerätschaften in respektvoller Distanz blieben, konnte ich ihn ruhig hätscheln – vorausgesetzt er gab uns, was wir brauchten.
»Was du nicht sagst.« Ich hob eine Augenbraue, mit meinen Fähigkeiten als Verführerin experimentierend. Der Typ war aber auch ein leichtes Opfer. »Also, ich kann es gar nicht erwarten zu sehen, was du für mich hast. Möchtest du es herzeigen?«
Malachis Muskel hatte aufgehört zu zucken, weil sein Mund nun offen stand. Ich warf ihm einen Blick zu, musste aber schnell wegsehen, um nicht loszukichern.
Michael schien auch etwas aus dem Konzept zu sein. »Oh. Himmel, Arsch und Zwirn. Ähm, es ist hier drüben. Mach den Mund zu, du Weichei«, blaffte er, als er Malachis verdutzte Miene sah. »Miss Lela, kommen Sie in mein Büro«, säuselte er charmant und deutete auf eine Reihe von Rüstungen.
»Ich habe Michael gebeten, das Modell, das er für Ana benutzt, anzupassen«, sagte Malachi leise.
»Und du hast nicht übertrieben. Beeindruckend«, summte Michael, sein Blick huschte über meinen Körper.
Mit großen Augen sah ich Malachi an, der sein Gesicht in den Händen vergrub. Wären seine Haare nicht so kurz gewesen, hätte er sie gerauft.
Meine Bauchmuskeln schmerzten vor unterdrücktem Lachen. »In Ordnung, Michael, sollten wir vielleicht ausprobieren, ob Malachi meinen Brustumfang auch genau angegeben hat?«
Malachi machte ein würgendes Geräusch, als er mir und Michael zu einer schwarzen Rüstung folgte, die auf einem Gestell in der Ecke hing. Einen Moment starrte ich nur auf all das Leder und die Metallschnallen.
Jetzt beginnt meine Karriere als Domina.
Michael nahm die Brustplatte von dem Gestell. »3600 Gramm pro Quadratmeter reine weibliche Schönheit,« schnurrte er und streichelte das Ding auf eine Weise, dass ich am liebsten im Boden versunken wäre. Ich wurde etwas panisch, als er die seitlichen Schnallen öffnete und auf mich zuwatschelte. Glücklicherweise trat Malachi vor und schnappte ihm die Brustplatte aus der Hand.
Michael murmelte etwas, das wie »Arschgeige« klang, wehrte sich aber nicht.
»Anfangs wird es etwas starr sein«, erklärte Malachi, als er meinen Blick fand und mich wortlos um Erlaubnis bat, ob er mir helfen dürfte. Ich hob meinen Zopf hoch, sodass er mir die Lederrüstung über Rücken und Brust legen konnte. Malachis geübte Finger schlossen rasch die kleinen Schnallen, die die Vorderseite mit dem Rückenteil verbanden. Die Rüstung reichte bis zur Hüfte, wo sie sich ein wenig weitete, um mir Bewegungsfreiheit zu geben. Das ganze Ding erinnerte mich an ein Korsett, auch wenn es nicht ganz so eng war. Eigentlich passte es perfekt und das ließ meine Wangen einen Moment lang glühen.
»Ich schätze, du hast ziemlich genaue Maße angegeben«, nuschelte ich. »Gute Arbeit.«
»Messerattacken und Krummsäbelhiebe dürfte es so ziemlich aushalten«, antwortete er leise. Bildete ich mir den leichten Rosastich auf seinen Backen ein?
Etwas Schwarzes flog durch den Raum und traf Malachi am Kopf. Wie erstarrt vor Staunen riss er die Augen auf.
»Bleib bei der Sache, Trottel«, rief Michael.
»Wow«, lachte Ana, den Gang entlanghüpfend und drei neue Messer in den Händen schwingend. »Da war jemand schneller als Malachi. Das ist ihm schon jahrzehntelang nicht mehr passiert, würde ich sagen.«
Malachi wich den nächsten zwei Geschossen geschickt aus und fing sie ab. Es waren meine Arm- und Beinschienen. Die Stichelei ignorierend blickte er mich wieder fragend an, bevor er mir half, sie anzulegen.
»Wie sehe ich aus?« Ich posierte, ließ meine Muskeln spielen und wackelte mit den Augenbrauen. Ich war froh, dass es keinen Spiegel gab, denn ich war ziemlich sicher, dass ich wie ein Trottel aussah. Oder wie eine Napfsülze. Oder wie ein Dämlack. Jedenfalls nicht gerade intelligent.
»Etwas fehlt«, antwortete Ana, mit einem Gürtel in der Hand. Sie legte ihn mir um die Hüfte und befestigte einen Stab daran. »Jetzt ist alles perfekt. Sieht sie nicht toll aus, Jungs?«
Malachi hatte sich bereits seinem Waffensortiment zugewandt und sah nicht auf. Ich wusste nicht, ob ich enttäuscht oder erleichtert sein sollte.
»Ach, keine ist so hold wie du, liebliche Ana, aber sie macht sich«, sang Michael in einem Brummbass, aber er konnte kaum den Blick von mir wenden. Als er es tat, sah er Anas neue Kostbarkeiten. »Ich vermute, du willst diese Messer mitnehmen?«
»Mädchen mögen Glitzersachen, Michael«, sagte sie, affektiert die Hüfte schwingend. Sie steckte die Messer mit tödlicher Präzision in die Scheide. Michael schauderte und der Boden erzitterte wie bei einem leichten Erdbeben.
»Michael, danke für deine Mühe«, sagte Malachi förmlich. »Wie immer ist alles exzellent.« Er hatte seine eigene Rüstung schon angezogen und schlang seine Umhängetasche wieder um seine Brust. Er sah … Ach, es war einfach unfair. Ich schluckte schwer. Er sah fantastisch aus und ich wie ein Trampel.
Michael teilte meine Bewunderung anscheinend nicht. »Versuch, diesmal keinen Mist zu bauen, okay? Bring wenigstens ein paar Teile unversehrt zurück.«
»Wir tun immer unser Bestes«, antwortete Malachi, »aber du sollst dich ja auch nicht langweilen. Du weißt, was man über Müßiggang sagt?«
Michael hob die Hände und wackelte mit den Fingern in meine Richtung. Er zwinkerte. »Da mach dir um mich keine Sorgen, Junge.«
Puh. Die wenigen Male, die ich in der Kirche war, hatte nie jemand erwähnt, dass der Erzengel Michael ein krankhaft verfressener Typ mit schlechten Zähnen und einer Schwäche für Frauen war. Trotzdem, der Kerl war extrem lustig. Ich zwinkerte zurück, nur um frech zu sein.
Malachi schnappte meine Hand und schleifte mich durch die Gänge. »Ermutige ihn bitte nicht auch noch«, brummte er.