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Jahrelang hatte ich in oder in der Nähe von Providence gewohnt. In Boston war ich viele Male gewesen. In der Mittelstufe hatten wir sogar eine Exkursion nach New York City gemacht. Die dunkle Stadt hier hatte mit diesen Städten nichts gemein.
In Städten überwältigten mich die Gerüche. Diesel und Staub, scharf und salzig, stechend und aggressiv, sie rieben sich an meiner Haut und blieben mir in der Nase hängen. In der schwarzen Stadt waren die Düfte blass und dünn – nichts, was man festhalten konnte, nichts, was mich abstieß, nichts, was mich in seinen Bann zog.
In normalen Städten durchdrang das Licht selbst die tiefste Nacht, strahlte von Neonröhren und riesigen Fernsehern und blinkenden Werbetafeln. In der schwarzen Stadt sog etwas das Leben aus den Farben. Etwas Unersetzliches war daraus verschwunden, das die Finsternis mühelos bezwang.
In normalen Städten hatten die Geräusche Tiefe. Alle Töne und Rhythmen überlagerten sich und stießen zusammen. Ich liebte es, ihren vibrierenden Puls im Bauch zu spüren. In der schwarzen Stadt waren die Geräusche flach. Nichts ließ einen aufschrecken, nichts sang. Keine Autos oder Busse. Auch keine Fahrräder. Keine Reifen, keine Motoren. Alle gingen zu Fuß, zockelten die Straßen entlang. Die Stille traf mich hart. Keine Unterhaltungen. Viele Leute, die an meinem Versteck vorbeischlurften, murmelten in allen möglichen Sprachen vor sich hin. Aber sie sprachen mit sich selbst. Ich fragte mich, ob ich auch so ausgesehen hatte, herumirrend in meinen Träumen, nur mit mir selbst beschäftigt. Das einzige Geräusch, das mit Kraft widerhallte, war das Kreischen und Scheppern des Tors, wenn es weit aufschwang und die Selbstmörder willkommen hieß.
Die Menschen schleppten sich vorbei, den Blick auf die Straße vor ihnen gerichtet. Manche trugen Taschen mit Lebensmitteln. Auch wenn jeder hier tot war, lebten sie immer noch in Wohnungen und brauchten etwas zu essen … Anscheinend gab es ein Geschäft in der Nähe, und das war gut so. Zwar hatte ich keinen Hunger, aber Nadia würde etwas brauchen, sobald ich sie gefunden hatte, denn sie war nicht in der Verfassung, sich selbst etwas zu besorgen. Sobald ich sie gefunden hatte … Das gewaltige Ausmaß dieser Aufgabe überwältigte mich, ich presste meinen Rücken gegen die Wand und legte meinen Kopf auf die Knie. »Atme.« Kann sein, dass die Stadt so groß ist wie Rhode Island, aber du schaffst das. Nadia ist in der Wohnung, du musst sie nur noch finden. Steh auf und komm endlich in die Gänge, Lela Santos. Jetzt.
Ich sprang auf und begutachtete das gestohlene Messer. Ein fieses Ding. Die Klinge war fünfzehn Zentimeter lang, die Spitze gebogen, die untere Hälfte der Schneide gezahnt. Der geschwungene Griff war für eine viel größere Hand als meine gemacht. Meine Finger schlossen sich darum und ich wog es in der Hand – für mich gemacht oder nicht, ich konnte damit einigen Schaden anrichten, wenn es sein musste. Trotzdem schien es keine gute Idee, mit dem Messer lässig in der Hand die Straße hinunterzuschlendern.
Tiefer in der Gasse zog ich mein T-Shirt aus und schnitt mit dem Messer am Saum entlang zehn Zentimeter ab. Ich zog das entstandene Band auseinander, nahm die Schlinge doppelt, zog sie mir über den Kopf und bis zur Hüfte hinunter. Dann steckte ich das Messer zwischen die Stoffstreifen. Die provisorische Messerscheide würde nicht lange halten – wahrscheinlich würde die Schneide das Tuch durchwetzen –, aber ich war mir ziemlich sicher, dass sie den Ausflug zum Supermarkt überstehen würde. Das T-Shirt zog ich wieder an und meine Jacke war glücklicherweise lang genug, um den Griff des Messers an meiner Hüfte zu bedecken.
Ich verließ die Gasse und lief in die Richtung, aus der die Taschen schleppenden Gestalten gekommen waren. Und tatsächlich, einen Block weiter prangte auf einem schäbigen Ziegelgebäude ein Schild: ESSEN.
Die Werbung in der Stadt ließ zu wünschen übrig.
Ich spähte durch ein Fenster. Geld hatte ich keines und fragte mich, ob bald auch Mundraub zu meinen Sünden zählen würde. Aber es saß keine Kassiererin vorne im Geschäft, das nur wenige Gangreihen mit Obst, Gemüse und abgepackten Lebensmitteln bereithielt. Die Leute sammelten einige Waren ein, packten sie in Tüten und gingen, ohne zu zahlen. Vielleicht gab es ja eine Art Kreditsystem?
Schlurfende Schritte und gedämpftes Rascheln von Papiertüten waren die einzigen Geräusche, die ich hörte, als ich den Laden betrat. Der unentgeltliche Einkauf gab mir Rätsel auf, also beschloss ich lieber jemanden zu fragen, statt in meinem Nachleben gleich auf die schiefe Bahn zu kommen. Eine fahlgesichtige Frau stand in der Gemüseabteilung, sie trug einen Kittel über ihrem runden Körper. Die Haut an ihren Armen schwabbelte, als sie eine schlaffe Selleriestange nach der anderen in ihre Tüte steckte.
»Entschuldigen Sie«, sagte ich. »Ich bin … neu in der Stadt. Wie zahlt man hier für Lebensmittel?«
Die Frau hielt inne. »Ich habe genug gezahlt«, murmelte sie tonlos, ihre Augen füllten sich mit Tränen.
»Danke, verzeihen Sie die Störung«, lächelte ich und trat den Rückzug an. Ich fühlte mich wie in einem Horrorfilm, den ich mal gesehen hatte, und hatte keine Lust zu warten, bis der sadistische Typ mit der Clownsmaske kam.
Noch einmal schaute ich mich im Laden um, versuchte, einen Verantwortlichen zu entdecken, sah aber nur trübsinnige Menschen, die unappetitliches Essen in Papiertüten packten. Wenn sie das hier so machen … Ich nahm eine Tüte, die an einer Seite zerrissen und mit Fettflecken übersät war, von einem Stapel und lief die Gänge auf der Suche nach Verpflegung ab.
Nichts sah genießbar aus.
Die Äpfel waren fleckig und weich. Die Kartoffeln keimten schon. Die Brötchen waren steinhart. Cracker- und Chipstüten waren auf einem Wagen aufgehäuft, aber als ich eine nehmen wollte, stellte sich heraus, dass der ganze Stapel mit braunen Glibberfäden bedeckt war. Ich zog die Hand zurück und wischte sie an der Hose ab. Ganz offensichtlich war das Essen hier umsonst und man konnte nehmen, soviel man wollte. Das Problem? Ich wollte nichts davon. Den Papierbeutel warf ich fort, schnappte mir ein paar Brötchen und den am wenigsten fleckigen Apfel und ging, so schnell mich meine aufgeschürften Beine trugen, hinaus.
Die Brötchen verstaute ich in meiner Jackentasche, den Apfel schmiss ich in einer Gasse weg, nachdem mein Daumen in einer matschigen Stelle eingesunken war. Blocks zählend und Orientierungspunkte suchend, versuchte ich mich nicht vollständig zu verirren, während ich die Stadt erkundete.
Auf den Straßen drängten sich die Menschen, aber jeder schien allein zu sein, eingesperrt in seiner persönlichen Welt, unsichtbar für alle anderen. Nun gut, die Frau im Laden hatte mit mir gesprochen – sozusagen –, also würden vielleicht ein paar der Leute hier auch mit mir reden. Es war an der Zeit, meine Geheimwaffe auszupacken. Ich schob den rechten Ärmel meiner Jacke hoch und näherte mich einer Frau in einem Sari.
»Hi«, sagte ich fröhlich. »Haben Sie dieses Mädchen hier irgendwo gesehen?«
Die Frau blinzelte zu mir hoch, blickte dann auf meinen ausgestreckten Arm. Sie murmelte etwas Unverständliches. Klar. Sie sprach wahrscheinlich Hindi. Oder Farsi. Oder Chinesisch. Es spielte keine Rolle, denn was auch immer sie da sprach, es war kein Englisch und ich konnte keine Fremdsprachen. Ohne mich noch einmal anzusehen, trottete sie davon. Ich atmete tief ein und schaffte es, nicht laut zu schreien.
Die nächsten Stunden zeigte ich Hunderten Menschen Nadias Gesicht und suchte nach irgendeinem Hinweis oder einem Wiedererkennen in ihren Augen. Weniger als zwanzig von ihnen sprachen Englisch. Nicht, dass es etwas gebracht hätte. Ich konnte niemanden bewegen, das Tattoo länger als eine Sekunde anzusehen. Alle warfen nur einen Blick darauf und gingen dann einfach weiter. Manche waren so geistesabwesend, dass sie gar nicht erst auf meine Fragen antworteten. Ein Typ saß auf einer Bank und starrte auf seine ausgestreckte Hand. Als ich versuchte, seine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, wuchs eine kleine braune Masse auf seiner nach oben gerichteten Handfläche, fast als wäre sie aus seiner Haut entstanden. Sie drehte und dehnte sich, ganz von allein, wie etwas Lebendiges, bis sie Form annahm. Eine Zigarre. Der Mann wischte ein paar Schleimfäden von der Spitze, steckte sie in den Mund und starrte, darauf herumkauend, stur geradeaus.
Langsam zog ich mich zurück, sank auf eine Treppenstufe und begutachtete eines der altbackenen Brötchen, während ich darüber nachdachte, wie dumm und naiv ich gewesen war. Nadia konnte überall in diesem Irrgarten aus Trübsal sein und mein einziger Anhaltspunkt war der letzte Ort, an dem ich sie gesehen hatte: ein Korridor mit orangefarbenen Wänden und altrosa Türen. Ich spähte in die nächsten zwölf Apartmenthäuser, an denen ich vorbei kam, aber alle hatten grau-violette Türen und kastanienbraune Wände.
Ich trat aus einem der Wohnhäuser und zwang mich zu lächeln, um die hilflosen Tränen, die mir in den Augen standen, aufzuhalten. Bleib ruhig. Du hast den Rest deines Lebens nach dem Tod, um sie zu finden. Ich war 156 Blocks gelaufen. Vor mir erstreckte sich das Kopfsteinpflaster der Straße in die Dunkelheit.
Humpelnde Schritte rissen mich aus meinen Gedanken, ich schaute auf und sah einen älteren Mann vor mir. Anders als alle anderen, die ich getroffen hatte, schien er mich anzublicken, mich zu sehen. Er strahlte mich mit einem zahnlosen Lächeln an.
»Hablas español?«, fragte er.
»Nö. Englisch«, antwortete ich, überzeugt davon, dass diese Unterhaltung nicht lange dauern würde.
»Oh, sehr gut. Ich dachte, du wärst eine von diesen Hispanics«, lispelte er. Es klang aber wie »Spics«.
Klar, ich hätte wirklich beleidigt sein müssen, aber es ist unglaublich komisch, wie eine zahnlose Person »Spics« sagt.
ßpicßß.
»Ooh, ja«, sagte ich sarkastisch, »Gott sein Dank bin ich keine von denen. Zufällig bin ich aber eine Spic. Tut mir echt leid.« Ich wäre fast weitergegangen – das schien mir vernünftiger, als ihn zu schlagen –, aber dieser Typ war die zurechnungsfähigste Person, mit der ich seit meiner Ankunft hier gesprochen hatte. Also zwang ich mich, stehen zu bleiben und den Ärmel zum hundertsten Mal hochzukrempeln.
»Macht nichts, macht nichts.« Er leckte sich die Lippen und winkte meinen unerwünschten ethnischen Ursprung vergnügt ab. »Hast du einen Schlafplatz?«
»Noch nicht. Ich suche nach jemandem. Haben Sie dieses Mädchen gesehen?« Ich lehnte mich zu ihm rüber und zeigte ihm meinen Arm. In diesem Moment merkte ich, wie der Alte stank. AlteMänner-Geruch in gewaltigem Ausmaß: Fäulnis und Krankheit plus süßlicher Weihrauch. Ich taumelte zurück und unterdrückte den Brechreiz.
Die knorrigen Finger des Alten umschlossen mein Handgelenk. »Perfekt«, sagte er, meinen Arm mit verblüffend kräftigem Griff quetschend. »Du bist perfekt. Komm mit.«
Das Entsetzen packte mich, als ich diese Worte hörte, und ich zitterte am ganzen Körper. Ich ballte die Faust und war im Begriff, ihn mit meinem perfekten Aufwärtshaken bekannt zu machen, als etwas meine Haare packte und mich aus dem Gleichgewicht brachte. Der alte Mann ließ mich los und sprintete davon, unheimlich flink … auf allen Vieren, wie die animalische Alte. Um darüber nachzudenken, blieb mir keine Zeit, denn ein stahlbewehrter Arm schloss sich um meinen Hals.
Ich schluckte einen panischen Schrei hinunter, zog das Kinn an die Brust, befreite mich, bevor mein neuer Angreifer richtig fest zupacken konnte. Rasch duckte ich mich zwischen seinen baumstammdicken Beinen hindurch und war fast entkommen, als er meinen linken Knöchel schnappte und mich mit einem Arm in die Luft hob.
»Dein Freund ist abgehauen«, grunzte er auf Englisch mit starkem Akzent und hielt mich wie eine Beute hoch, »aber heute Nacht findest du kein Opfer mehr, Mazikin. Heute musst du mit mir vorliebnehmen.«
Ganz klar, es war einer der stierartigen Wächter. Super. Wie all die anderen, die ich gesehen hatte, trug mein jetziger Begleiter einen schweren Helm mit Visier. Einzig seine Augen konnte ich erkennen, seltsam meergrüne Augäpfel, die glühten wie winzige Laternen.
Ich schätzte den Abstand zum Boden, der Wächter war sicher über zwei Meter groß und womöglich genauso breit. Nach unseren ersten Tanzschritten konnte ich sagen, dass ich schneller war als er, aber das hieß nicht, dass er langsam war – und immerhin war ich diejenige, die kopfüber in der Luft hing. Als einzigen Vorteil konnte ich verbuchen, dass er mich nicht als Bedrohung sah. Er hatte noch keine Waffe gezogen und er sonnte sich so in seiner Stärke, dass er seinen Körper und seine Beine ungeschützt ließ. Das meiste war von der Rüstung bedeckt, aber es gab offene Fugen … und ich hatte ein Messer.
Die Arme gegen den Körper gepresst, damit die Klinge an ihrem Platz blieb, krümmte und wand ich mich und testete, wie stark er zupacken konnte. Er spannte sich an, eher daran interessiert, mich einzuschüchtern, als seine Kräfte zu schonen. Anscheinend glaubte er, dass er sie nicht brauchen würde. Gott sei Dank für das männliche Ego.
Sein Arm begann zu zittern und ließ mein Bein beben. Als es ganz danach aussah, als müsste er mich absetzen oder mit beiden Arme zupacken, um mich festzuhalten, trat ich mit dem rechten Bein gegen seinen Unterarm und riss die Arme hoch, um mich abzufangen, als er losließ. Ich kam auf und sprang zur Seite, als er nach mir griff. Wieder versuchte er, mich an den Haaren zu packen. Aber bevor er mich erwischte, hatte ich mich schon gedreht, das Messer gezückt und es ihm in eine Öffnung der Rüstung an der Kniekehle gerammt. Er brüllte und ließ von mir ab.
Ich zog die Flipflops aus und rannte. Doch um meine Freiheit zu genießen, blieben mir ungefähr neun Sekunden. In Windeseile bog ich um eine Ecke und rannte krachend in einen zweiten Wächter. »Ich bin nicht so blöd wie der«, kommentierte eine kehlige Stimme, kurz bevor etwas Hartes meinen Kopf traf und alles schwarz wurde.