25
Nur zwei Worte, aber ich hörte sie trotz der Verwünschungen, die ich in Gedanken ausstieß.
Ich ließ den Blick durch den Raum schweifen – was ich besser vor ein paar Minuten getan hätte – und hielt Ausschau nach Waffen. Malachi wäre enttäuscht, wenn er wüsste, wie ich die Mission in den Sand gesetzt hatte. Ich konnte nur auf eine Chance hoffen, ihm das zu erklären. Aber die würde sich wohl nicht so schnell bieten.
Ein Mann neben mir trug einen Gürtel mit einer schweren Schnalle. Wie lange es wohl dauern würde, ihm den abzunehmen? In der Ecke sah ich zerbrochene Ziegel und eine rostige Blechdose. Ich rechnete mir die Entfernung dahin aus. Dann wandte ich mich den Seilen am Tisch zu, begutachtete die Knoten, mit denen sie festgebunden waren. Im selben Augenblick wusste ich, es war zu spät. Juri und Sil kamen auf mich zu. Ich ließ Nadia los, rutschte ein Stück von ihr weg und stand auf, um mich der Bedrohung zu stellen.
»Heute Nacht haben wir großes Glück, mein Freund«, kicherte Sil. »Sie ist nicht nur jene, die du wolltest – ich bin mir überdies sicher, dass sie Malachis Freundin ist. Sie trägt seinen Geruch.«
»Sie gehört ihm nicht!«, rief der neue Juri mit hasserfüllt aufblitzenden Augen.
Sil hörte auf zu kichern.
Juri schlang den Arm um meine Taille, bevor ich zurückweichen konnte. Er presste mich an sich und vergrub sein Gesicht an meinem Hals und strich mit der Nase über meine Schulter bis hinauf zu meinem Kinn, während ich versuchte, mich zu befreien. Leider war er unglaublich stark.
»Ah, Sil, du hast recht«, sagte er mit kehligem Akzent. »Malachi war hier. Es wird harte Arbeit kosten, seinen Gestank von ihrer Haut zu tilgen.« Ein Röcheln drang tief aus seiner Brust, als würde ihn die Vorstellung erregen. »Schaffen wir sie zum Tisch.«
Ohne mich. Als sich sein Griff lockerte, nutzte ich die Gelegenheit und rammte ihm mein Knie in die Eier. Er keuchte, krümmte sich und ließ mich los. Ich stieß ihn weg und machte zwei Schritte auf Nadia zu, ehe er mich am Bein packte. Ich landete zwischen zwei teilnahmslosen Selbstmördern. Sie drehten sich nicht mal zu mir um.
»Sil! Clarence! Kenzi!«, grölte Juri. »Bringt sie zum Tisch!«
Die drei Mazikin eilten herbei und packten mich, einer an jeder Seite, der dritte drehte mir die Arme auf den Rücken. Sie schleppten mich zum Tisch, meine Stiefelspitzen schleiften auf dem Boden. Ich zappelte und wehrte mich verzweifelt. Wenn Malachi doch endlich mit seinem Ablenkungsmanöver loslegen würde. Jetzt, wo unser schlimmster Albtraum drohte. Warum zum Teufel brauchte er so lang?
Juri ragte wieder vor mir auf und drückte mich gegen den Tisch. Dann packte er mich am Ausschnitt meines T-Shirts und wollte es mir vom Leib reißen, aber als seine Freunde meine Arme losließen, verpasste ich ihm einen kräftigen Schlag auf beide Ohren. Heulend versetzte er mir einen Magenschwinger und ich ging zu Boden. Halb ohnmächtig vor Schmerz versuchte ich unter den Tisch zu krabbeln. Einer von ihnen griff nach meinem Knöchel und zog mich zurück, aber er war nicht schnell genug. Gerade noch konnte ich den Rand einer Weihrauchschale umklammern und sie mitschleifen.
Ich schnappte nach Luft, als sie mich hochzerrten und griff in die lodernde Masse. Mit einem Schmerzensschrei holte ich eine gehäufte Handvoll schwelender Glut heraus und schleuderte sie den vier Mazikin ins Gesicht, die mich auf den Tisch hieven wollten. Sie wichen brüllend zurück und griffen sich an die Augen.
Ich ignorierte den sengenden Schmerz meiner verbrannten Hand und hechtete über den Tisch zurück zu Nadia. Wieder packte mich jemand am Fuß und ich schlug vornüber auf den Tisch. Mein Tritt traf Blondie im Gesicht. Er rammte mir seinen Ellbogen in den Schenkel, ein lähmender Schmerz fuhr mir durchs Bein. Juri und Sil tauchten vor mir auf, die Gesichter grau vor Asche, die Zähne entblößt. Sie packten mich an den Handgelenken und drehten mich auf den Rücken. Die beiden anderen Mazikin hielten meine Beine fest.
Da erschütterte eine Explosion das Gebäude. Ich schloss die Augen und drehte den Kopf weg, weil ein Hagel aus Schutt und Staub niederregnete. Das war meine einzige Chance. Malachi und Ana waren da draußen und setzten ihren Plan in die Tat um. Mir blieben nur ein paar Minuten, wenn ich Nadia nach draußen schaffen wollte. Ich riss mich von Sil und Juri los, die mit offenem Mund das ansehnliche Loch anstarrten, das auf der anderen Seite des Raums in der Wand klaffte. Die beiden anderen Mazikin ließen meine Füße los, als eine zweite Explosion eine der Trägersäulen unweit der Außenwand zum Einsturz brachte und eine Wolke aus Rauch und Feuer durch den Raum schoss. Schreiend flohen die Mazikin in alle Richtungen. Nur die Selbstmörder in ihrer Ecke rührten sich nicht.
Ich rollte mich auf die Seite, bekam den Griff von Sils Krummsäbel zu fassen und zog ihn aus der Scheide, bevor er wusste, wie ihm geschah. Dann sprang ich vom Tisch und spurtete zu Nadia, wild entschlossen, jeden Verfolger niederzumachen. Jedenfalls würde ich mir redliche Mühe geben.
Sil nahm die Herausforderung an und war so schnell, wie ich befürchtet hatte. Er sprang zur Seite, als ich das Schwert schwang, und attackierte mich, als ich meine Deckung aufgab. Ich ließ den Schwertgriff auf seinen Schädel donnern, er heulte, bäumte sich auf und hockte sich rittlings auf mich. Da riss ich das Knie hoch und rammte es ihm in den Rücken. Er fiel nach vorn, direkt in den Hieb meines Ellbogens. Als er von mir herunterrollte und ich mich anschickte aufzustehen, griff er auf seinen übelsten Trick zurück. Seine zackigen Fingernägel gruben brennende Striemen in meinen Bauch. Mit einem Aufschrei trat ich ihm ins Gesicht und er verlor das Bewusstsein.
Töte ihn jetzt, flüsterte Malachis Stimme in meinem Kopf.
Aber ich zögerte. Noch nie hatte ich jemanden kaltblütig umgebracht und mir blieb keine Zeit, in Ruhe zu überlegen, ob ich den Schmerz ertragen konnte, den Malachi empfand, wenn er jemanden tötete – und sei es ein Mazikin. Also wandte ich mich Nadia zu und ließ den Krummsäbel fallen. Ich hatte nur eine unverletzte Hand und die brauchte ich, um ihr zu helfen.
Eine dritte Explosion ließ die Vorderseite des Hauses einstürzen, verschloss das Loch und ließ nur den schmalen Vordereingang als Fluchtweg offen. Mist. Na ja, wenigstens waren die Mazikin abgelenkt. Ich stürzte zu Nadia und nahm ihre Hand. »Komm. Wir müssen hier raus.«
»Hört es dann bald auf?« Ihr Blick war glasig und ich fragte mich, ob sie wohl unterwegs ein paar von diesen Pillen gefunden – oder vielleicht erschaffen – hatte?
»Ich kann dir helfen«, versprach ich, »aber du musst dir zuerst selbst helfen. Steh auf und komm mit.«
Nadia ließ zu, dass ich ihr auf die Füße half und sie zur Tür führte. Dann hörte ich es: den wundervollsten Klang der Welt. Über das Schreien und Wehklagen und das Geräusch hastender Schritte auf Schutt hinweg hörte ich sie, Malachis Stimme. Er rief meinen Namen.
Genauer gesagt, er brüllte, um das Getöse zu übertönen. Ganz nah war er, draußen vor der Tür. Ich musste nur die Treppe hochsteigen.
Rasch schob ich Nadia durch den Eingang ins Treppenhaus. Aber ich hatte noch keine zwei Schritte gemacht, da packte Juri mich am Fußgelenk.
Ich hakte mich mit dem Arm am Treppengeländer ein und versuchte, ihn abzuschütteln, aber das war unmöglich.
»Nadia«, schrie ich. »Geh weiter. Geh rauf. Geh raus. Sie werden dich erkennen. Geh!«
Nadia drehte sich um und sah mich mit diesem teilnahmslosen Blick an. Aber sie tat, was ich sagte. Für Erleichterung blieb mir keine Zeit. Die Augen lodernd, das Gesicht voller Blut und Brandblasen, die Miene wutverzerrt, packte Juri mich an den Schultern und riss mich herum.
»Dieser neue Körper wird anscheinend nicht lange halten«, zischte er, »da kann ich mir in den letzten Momenten doch noch einen Spaß gönnen.«
Er zerrte mich an den Haaren zurück in den Keller, der mit Leichen und Schutt übersät war. Am anderen Ende des Raums lag Sil reglos an der Wand. Außer fünf Selbstmördern, die in der Ecke hockten, war das Kellergeschoss fast leer. Von draußen drangen Schreie und das Dröhnen kleinerer Explosionen in die dumpfe Stille hier unten. Malachi rief immer noch meinen Namen.
Juri schleuderte mich auf den Boden und war sofort über mir. »Ich höre draußen den werten Captain der Garde. Er ruft nach dir. Sei ein braves Mädchen und antworte ihm.«
Ich presste die Lippen aufeinander – diesen Gefallen würde ich ihm nicht tun. Da packte er meine verbrannten Finger und ich schrie auf.
Erregt von meinen Schmerzen grinste er mich an. »Sehr gut.«
Ich stieß mit dem Knie zu, aber diesmal war er vorbereitet und wich aus. Ein Fausthieb traf mich seitlich, mir blieb die Luft weg. »Sieh an, du bist genauso garstig wie er. Wie wird es ihm wohl gefallen, deine Leiche zu finden, Lela? Sieht aus, als könnte ich dich heute Nacht nicht mehr umwandeln, dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als mein Mal auf dir zu hinterlassen, damit er es findet.« Er riss an meiner Jogginghose, schob sie nach unten.
»Hilfe!«, schrie ich und wandte mich den Selbstmördern zu. »Lasst nicht zu, dass er das tut!«
Sie sahen mich nicht an. Helfen würden die mir nicht. Sie konnten sich nicht einmal selbst helfen. Heute Nacht würden sie hier sterben. Vielleicht landeten sie dann wieder vor dem Tor, marschierten in die Stadt, um die unerledigte Arbeit zu tun, deretwegen man sie hergeschickt hatte. Wenn ich Nadia nicht rausgeholt hätte, wäre sie wahrscheinlich bei ihnen und würde darauf warten, dass der Tod sie noch einmal holte.
Juris Fingernägel fuhren über meine Haut, genau über die Striemen, die Sil hinterlassen hatte, sodass ich mich aufbäumte und schrie, während er mir die Hose über die Hüften hinunterzog. Ich wand mich unter ihm, tastete nach irgendetwas, irgendeinem Gegenstand, der als Waffe taugte. Das durfte nicht passieren, auf keinen Fall. Ich hielt die Luft an, als grauenhafte Erinnerungen in mir aufstiegen, mich zu ersticken drohten, mich aus der Gegenwart zurückzogen in ein muffiges Bett mit rosa Laken.
»Lela!«
Ich verdrängte die Erinnerungen. Malachi rief nach mir, holte mich ins Jetzt zurück. Als Juri seine Hose aufgeknöpft hatte, stieß ich mit der Hüfte zu. Das brachte ihn aus dem Gleichgewicht, ich drehte mich und traf ihn mit dem Ellbogen am Hals. Mit meiner unverletzten Hand bekam ich einen Betonbrocken zu fassen und den schlug ich Juri ins Gesicht.
Er heulte auf, seine Faust schnellte vor, streifte mein Kinn. Ich schlug noch einmal zu, diesmal brach ihm der Beton das Nasenbein. Aber er ließ nicht locker, boxte, versuchte mich zu beißen, mir die Hose herunterzureißen.
Schwarze Flecken schoben sich vor mein Blickfeld, als ich noch mal mit dem Betonbrocken zuschlug.
Und noch mal.
Und noch mal.
Hände schlossen sich um meine Schultern. »Lela, hör auf.« Jemand nahm mir den Betonklotz aus der tauben Hand, aber ich schrie immer noch. Wann hatte ich damit angefangen?
»Hör auf«, sagte Malachi. »Du kannst aufhören. Er rührt sich nicht mehr. Mach die Augen auf.«
Sein grimmiges Gesicht war direkt vor mir. Es war der schönste Anblick meines Lebens. Er hielt mein Gesicht mit beiden Händen, sodass ich nichts sah außer ihm. »Wir müssen hier raus. Das Gebäude stürzt gleich ein. Kannst du laufen?«
Ich blinzelte ein paar Mal, versuchte mich zu erinnern, was passiert war. »Klar«, sagte ich heiser. »Kein Problem.«
»Komm.« Er nahm mich an der Hand, ließ aber gleich wieder los, als ich wimmerte. »Was ist mit deiner Hand?«
»Hab ich mir verbrannt.«
Fluchend griff er nach meiner anderen Hand. »Gehen wir«, sagte er und zog mich zur Tür.
»Wo ist Nadia?«
»Sie ist bei Ana. Wir müssen uns beeilen.«
Er führte mich die Treppe hinauf, stützte mich behutsam. Es war, als wollte er nicht zu viel Druck auf meine Haut ausüben, als fürchtete er, mir wehzutun. Aber das war vergebliche Liebesmüh. Ich war schon völlig kaputt. Mir tat alles weh von den Hieben, die ich eingesteckt hatte. Mein Bauch brannte, wo Sils zackige Fingernägel ihre Spuren hinterlassen hatten. Meine verbrannte Hand pochte dumpf. Die zerrissene Jogginghose hing mir von den Hüften. Ich hätte gern die Fetzen zusammengebunden, aber dazu hätte ich zwei Hände gebraucht. Wir schafften es bis zum oberen Ende der Treppe. Malachi ging vor mir, sodass er als Erster vor die Tür trat.
Doch als ich den Fuß über die Schwelle setzen wollte, schob Malachi mich zurück. Ich kam aus dem Gleichgewicht und stieß gegen den Türpfosten. Gerade noch sah ich, wie er seinen Schlagstock zog und ihn ausfuhr. Mindestens acht Mazikin umzingelten uns; offensichtlich hatten sie darauf gewartet, dass er aus dem Gebäude kam. Dass sie ohne Sil als Anführer so organisiert angriffen, hätte ich nicht gedacht … und das hieß, sie wurden jetzt von jemand anderem geführt.
»Lela, bitte bleib hier«, sagte Malachi mit ruhiger Stimme, als er in den Kreis der Feinde trat, sie von der Tür, von mir wegzog.
Plötzlich wieder hellwach vom Adrenalin, das mir durch die Adern schoss, sah ich mich um, suchte nach dem einzigen, der diese Falle ersonnen haben konnte. Offensichtlich war Ibram angekommen.
Da war er, kämpfte mit gezücktem Krummsäbel gegen Ana. Rasch schaute ich wieder zu Malachi, der bereits drei Mazikin niedergemacht hatte. Er blieb im Zentrum des Geschehens, wirbelte herum und stieß so schnell zu, dass ich kaum folgen konnte. Ich trat aus der Tür und verrenkte mir den Hals nach Nadia. Sie kauerte neben einem Schutthaufen, hatte die Arme über dem Kopf verschränkt, direkt hinter Ana und Ibram, die sich alle Mühe gaben, einander zu zerfleischen.
Da kamen zwei Mazikin hinter einem Müllcontainer hervor und fixierten mich. Ich sah mich nach etwas um, womit ich mich verteidigen konnte, aber mit nur einer brauchbaren Hand und womöglich inneren Verletzungen zweifelte ich an meiner Einsatzfähigkeit. Malachi entdeckte sie auch. Er sagte kein Wort, legte aber in seinem Kampf noch einmal an Tempo zu. Weitere drei Mazikin lagen am Boden. Jetzt waren es nur noch zwei plus die beiden, die zähnebleckend auf mich zuhielten.
Ana schrie und zog alle Blicke auf sich. Plötzlich war sie von Mazikin umgeben, die aus einer Gasse auf der anderen Seite des Lagerhauses kamen.
Es waren Dutzende.
Hinterhalt.
»Ana!«, rief Malachi, während er seine übrigen Gegner gnadenlos niederstreckte. Seine Wurfmesser zückend, sprang er über die leblosen Mazikin hinweg. Die beiden, die zuerst mich angepeilt hatten, liefen nun auf allen Vieren in Anas Richtung, die erneut einen Schrei ausstieß. Sie kamen nicht weit, Messer staken tief in ihrem Rücken, als sie stürzten. Für Ana machte das keinen großen Unterschied. Ein grausames Grinsen auf den Lippen stand Ibram da und beobachtete die Szene. Obwohl ich Dutzende Meter entfernt war, sah ich warum. Die Mazikin hatten sie überwältigt. Wie von Sinnen in ihrem Blutrausch bissen und rissen sie an ihr.
»Wirf, Malachi, wirf!«, schrie Ana. »Mach es!«
Malachi ignorierte das und lief auf sie zu. Ibram hob die Hand und die Mazikin zogen die um sich schlagende Ana auf die Füße. Sie schleppten sie die Straße hinauf.
»Wirf, Malachi, jetzt! Überlass mich ihnen nicht«, brüllte Ana wie wild vor Schmerz und Angst.
Unfähig etwas auszurichten, taumelte ich vorwärts. Sie waren zu weit weg. Sie würden entkommen. Mit Ana.
»Wirf!«, flehte sie wieder.
Malachi stand wie angewurzelt und stieß einen Schrei der Verzweiflung aus. Es waren zu viele Mazikin. Mindestens dreißig. Der Mob zerrte Ana die Straße entlang, Ibram ging mit gezücktem Schwert voran. Malachi sah mich an, hilflos, gemartert. Wie seine Chancen standen, kümmerte ihn nicht, das war mir klar, er wollte den Mazikin und Ana folgen. Aber ich wusste auch, dass er mich hier nicht verletzt und schutzlos zurücklassen wollte. Ich konnte ihm bei seiner Entscheidung nicht helfen. Was hätte ich auch sagen sollen?
Geh, rette Ana und lass dabei dein Leben.
Bleib, damit dir nichts passiert, lass sie sterben und komm zu mir.
Wie gelähmt starrte ich ihn an. Wieder schrie Ana. Malachi hatte sich entschieden, seine Miene war hart wie Diamant. Er griff nach einer der schwarzen Kugeln, die er sich um die Brust geschnallt hatte. In einem hohen Bogen schleuderte er sie durch die Luft. Sie landete direkt hinter dem Mob. Die Explosion ließ die Fenster der Häuser links und rechts von der Straße zerspringen.
Die Druckwelle warf mich um. In meinen Ohren dröhnte es, als ich den Kopf hob und sah, wie Malachi aufstand und direkt auf die Toten und Verwundeten zulief.
O Gott.
Ohne auf meine stechenden Schmerzen zu achten, stolperte ich vorwärts, humpelte an Nadia vorbei, die zitternd und weinend die Hände auf die Ohren presste. Aber sie war unverletzt und sie versuchte nicht zu flüchten.
Das Klirren von Metall auf Metall hallte durch die Straße. Beinah hätte ich vor Frust aufgeheult. Irgendwie hatte Ibram überlebt und war noch kampffähig. Ich begann zu laufen, vorbei an der ersten Leiche, die auf dem Bürgersteig lag, mehrere Meter vom Einschlagsort der Granate entfernt.
Ich erreicht den Krater, lief weiter, betrachtete jedes zerstörte, geschwärzte Gesicht. Malachi, der mir ein gutes Stück voraus war, kämpfte gegen Ibram. Er war so außer sich vor Zorn, dass ich fürchtete, er würde einen dummen Fehler machen, der ihn das Leben kostete.
Ungefähr drei Meter von mir entfernt bewegte sich eine zusammengesunkene Gestalt und eine vertraute Stimme stöhnte.
»Ana!« Ich rannte zu ihr und unterdrückte einen Schrei. Ihr schönes Gesicht war kaum noch zu erkennen. Bisswunden bedeckten ihren Hals. Die zugeschwollenen Augen konnte sie nicht öffnen. Blut sickerte ihr aus der Nase, dem Mund, den Ohren. Ich sank neben ihr auf die Knie und versuchte, irgendwie zu helfen.
»Haben wir ihn gekriegt?«, wisperte Ana.
»Malachi kämpft jetzt gegen ihn. Sieht so aus, als hätte nur Ibram überlebt«, versicherte ich ihr. Ich hätte sie gern gestreichelt, sie irgendwie getröstet, aber es war keine unverletzte Stelle an ihr. Nirgends konnte man sie berühren.
Ana las meine Gedanken und kicherte gurgelnd. »Ist schon gut, Lela. Ich spüre nichts.«
Dass sie log, hätte ich auch gewusst, wenn ich ihre Qualen nicht auf ihrem Gesicht gesehen hätte. So sehr ich wünschte, es wäre wahr, das betäubende Gift konnte unmöglich so schnell wirken. Aber ich wollte keine Zeit mit Widersprechen vertun.
»Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll«, brachte ich heraus. »Nadia geht’s gut. Mir auch.«
»Das stimmt nicht«, erwiderte sie. »Ich höre es an deiner Stimme.«
Vorsichtig nahm ich ihre Hand. Den am wenigsten zerstörten Teil von ihr. Eine kleine Hand, täuschend klein dafür, dass sie so tödliche Hiebe austeilen konnte. »Das wird schon wieder. Ich hab’s diesem Monster gegeben, Ana. Du wärst stolz auf mich gewesen.«
»Braves Mädchen. Jetzt hör mir zu. Wo ist Malachi?« Eine Träne lief ihr über die Wange.
Dumpfes Knurren, jähe Schreie, das Klirren der Klingen hallten an den Gebäuden links und rechts der Straße wider. Malachi und Ibram kämpften immer noch. »Er kommt, so schnell er kann.«
Ana seufzte und hustete. Blut sickerte ihr aus dem Mund. »Du musst ihm etwas sagen. Sag ihm, ich hab ihn lieb gehabt. Immer schon. Er ist mein wahrer Bruder. Sag ihm Dank für die tausend Mal, die er mich gerettet und dafür gesorgt hat, dass ich ich selbst bleibe. Er war der Einzige, der es begriffen hat.«
Ich sah Anas zerstörte Schönheit kaum durch den Schleier meiner Tränen. »Ich sag es ihm.«
»Danke. Und – du musst noch etwas für mich tun.«
»Was immer du willst.«
»Sorg dafür, dass er die Stadt verlässt. Er hat es verdient rauszukommen. Er braucht es. Bitte, ganz gleich, was es kostet, sorg dafür.«
»Das mache ich«, versprach ich. »Ganz gleich, was es kostet.«
Anas Hand zuckte, als Malachis Brüllen durch die Nacht hallte. Ibram schrie und fiel. Der Hieb, der Knochen splittern ließ, war bis hierher zu hören.
Sie lächelte und dann entspannte sich ihr Gesicht zum letzten Mal.