14

In Anas Zimmer roch es anheimelnd nach Zimt. Unwillkürlich fiel die Anspannung von mir ab. Verglichen mit Malachis unpersönlichem, kargem Quartier war Anas Zimmer eine Oase, eigenwillig und bunt, der reizvollste Raum, den ich seit meiner Ankunft in der Stadt betreten hatte. Wie er besaß sie ein Arsenal todbringender Accessoires, aber ihre Wände waren mit Gemälden bedeckt. Im Stil waren sie alle ähnlich, zwar waren die Farben gedämpft und matt im Vergleich zu denen auf der Erde, aber die Pinselführung war kühn und kräftig, gerundete und dynamische Linien. Die Bilder erinnerten an Krieg. Oder an Liebe. Ich war mir nicht sicher, an welches von beiden, aber sie versetzten mir einen Stich.

»Setz dich, Lela. Machen wir uns an die Arbeit. Was ist mit deinem Haar passiert?«

Ich fuhr mir über den Kopf. Seit meinem Tod hatte ich nicht mehr in den Spiegel geschaut. »Was meinst du damit?«

»Ach so. Ist es immer so wirr? Wir müssen es bändigen, bevor wir aufbrechen. So kann man dich allzu leicht an den Haaren packen.«

Ich beäugte ihre ebenholzschwarze Mähne. »Und dich nicht?«

Ana lächelte. »Kann sein. Aber wer es versucht, verliert seine Hand.«

In diesem Moment beschloss ich, Ana zu mögen. Ich erwiderte ihr Lächeln. »Vielleicht kannst du mir beibringen, wie das geht.«

Ana schüttelte den Kopf, als sie zum Fußende ihres Feldbetts ging und eine Truhe öffnete, die mit komplizierten Schnitzereien verziert war. Sie sahen chinesisch aus. Oder japanisch. Jedenfalls asiatisch. »Malachi hat gesagt, nur Distanzwaffen.«

»Was heißt das?«

»Es heißt, dass er nicht möchte, dass irgendwer so nah an dich herankommt, dass du ihm die Hände abhacken müsstest. Und er möchte auch nicht, dass du dich versehentlich selbst verstümmelst.«

Mir fiel ein, wie ich mir mit Laceys Krummsäbel beinah das Bein abgehackt hätte. »Da ist wohl jeder Widerspruch zwecklos.«

»Bei Malachi beißt man oft auf Granit. Na bitte!« Ana schwenkte eine massive Drahtbürste. Sie ging um mich herum und ich drehte mich – nur niemandem den Rücken zukehren. Ana sah mich nachdenklich an. »Das ist nur eine Bürste, Schätzchen.«

Ich zuckte schuldbewusst die Achseln. »Gewohnheit.«

Ana zog einen Stuhl von der Wand heran. »Setzen.«

Diesmal gehorchte ich und betrachtete ein großes Gemälde an der gegenüberliegenden Wand. Aus der Ferne ergaben die chaotischen Pinselstriche ein Bild; das Gesicht eines Asiaten, gefährlich und gutaussehend, sah mich an. Ana folgte meinem Blick.

»Takeshi«, sagte sie leise und begann ein Büschel meines Haars von unten her zu bearbeiten. »Er hat uns das meiste, was wir können, beigebracht.« Ihre Stimme klang seltsam heiser.

Mein Blick wanderte wieder zu der Truhe. »Sind das japanische Schriftzeichen?«

Ana lachte, aber es klang nicht fröhlich. »Malachi hat gesagt, dass dir nichts entgeht. Ja, das stimmt. Und ja, die Truhe hat Takeshi gehört.«

Die Trauer in ihrer Stimme und die Vergangenheitsform reichten, um mich verstummen zu lassen. Schweigend saß ich da, während sie die Knoten aus meinem Haar bürstete und die schwerkraftresistenten Locken in weiche Wellen verwandelte.

»Na«, sagte sie, »verrätst du mir nun, was du mit Malachi angestellt hast?«

Ich schloss die Augen und hoffte, dass ich nicht rot wurde bei dem Gedanken daran, was ich alles mit Malachi angestellt hatte. Ich fragte mich, auf was sie genau anspielte.

Ich schluckte. »Keine Ahnung, wovon du redest.«

Ana bürstete weiter, ihre Finger teilten geschickt meine Haare auf und widmeten sich systematisch jedem einzelnen Abschnitt. Falls ihr meine Verlegenheit auffiel, sagte sie nichts dazu.

»Er ist nicht mehr der Alte. Malachi ist der berechnendste Typ, den ich kenne. Aber wenn’s um dich geht, ist er anders, als wüsste er nicht, woran er ist.«

»Wahrscheinlich weil es ihm darum geht, dass ich aus dieser Stadt verschwinde und ihm nicht mehr auf die Nerven gehe.« Ob wir nun Friseur spielten oder nicht, das Thema wollte ich nicht erörtern.

»Mmm-hmm.« Die Skepsis war unüberhörbar. Gnädigerweise wechselte sie das Thema. »Bist du schon mal an einer Waffe ausgebildet worden?«

Ich stöhnte. »Warum fragen das die Leute ständig? Ich bin Schülerin. Das heißt, ich war. Vermutlich bin ich jetzt gar nichts. Eine ›Ausbildung an der Waffe‹ hab ich nicht genossen. Aber ich kann mich ganz gut verteidigen.«

»Mal sehen. Deshalb will Malachi, dass du mit Waffen trainierst, die den Angreifer auf Distanz halten. Faustschläge sind schlimm genug, aber Mazikinbisse sind noch schlimmer, und wenn wir bis in die Harag-Zone müssen, schaffen wir es wohl kaum rechtzeitig zur Station, damit Raphael uns helfen kann. Also wirst du lernen, den Bō zu führen. Vielleicht auch Messerwerfen. Kommt drauf an, wie gut du bist, denn wir haben nicht viel Zeit, es dir beizubringen, wenn er morgen aufbrechen will.«

Sie begann, meine Haare zu flechten. »Halt still. Ich komm sonst kaum dazu, ein Mädchen zu frisieren. Da fühle ich mich selbst wie ein Teenager. Verdirb mir das nicht.«

Ich unterdrückte ein Kichern. Nicht dass ich in dem Bereich besonders viel Erfahrung hatte, aber das war wirklich die verrückteste Pyjamaparty, die ich je erlebt hatte. Erst flechten wir uns gegenseitig die Haare, dann gehen wir mit allerlei Waffen aufeinander los. Na ja, vielleicht war es gar nicht so viel anders als der übliche Schulmädchentreff.

Als Ana fertig war, hielt sie einen windschiefen Spiegel in die Höhe. Mein Spiegelbild erinnerte mich an ein Picasso-Gemälde aus einem meiner Schulbücher. »Ähm, es ist toll?«

»Na ja, so fallen dir jedenfalls die Haare nicht ins Gesicht. Jetzt die Kleider. Ich würde sagen, meine Sachen passen dir.« Wieder wühlte sie in ihrer Truhe und förderte ein brauchbares Paar Stiefel und ein ganz ähnliches Outfit zutage, wie Malachi es getragen hatte. Ich zog das eklige grüne T-Shirt aus und ein marineblaues Top über, das sich weich an meine Haut schmiegte. Die Hose saß ein bisschen locker, aber es war trotzdem das Bequemste, was ich seit meiner Ankunft am Leib gehabt hatte.

Ana musterte mich von oben bis unten. »Du siehst aus wie ein Wächter.«

Als sie meinen entsetzten Blick auffing, lachte sie. Kein Mädchen hört gerne, dass es einem Nashorn ähnelt. »Wie eine von uns«, stellte sie klar. »Du siehst aus wie eine von uns.«

»Sind du und Malachi die einzigen –?«

»Zurzeit sind wir die einzigen Menschen bei der Wache.« Plötzlich hatte Ana nichts Dringenderes zu tun, als ihre Truhe wieder einzuräumen. Nach ein paar Minuten war sie mit ihren peniblen, ziemlich unnötigen Aufräumarbeiten fertig. »Malachi ist noch nicht wieder da, gehen wir also erst mal essen und dann in den Trainingsraum.«

»Eigentlich hab ich keinen großen Hunger.«

Ana sah mir in die Augen. »Ach ja. Hab ich vergessen. Das ist, weil das Essen hier nichts für dich ist. Du bist am falschen Ort. Malachi hat es gleich gewusst. Wahrscheinlich ist er deshalb so darauf erpicht, dich hier rauszuschaffen.«

»Das Essen ist nichts für mich?« Hatte ich deshalb keinen Hunger?

»Lass mich raten – nichts sieht gut aus. Von allem, was es hier gibt, kannst du so viel haben, wie du willst. Aber nichts reizt dich, stimmt’s?«

Es durchzuckte mich, als das unwillkommene Bild von Malachis nackter Brust vor mir aufblitzte. »Nein, nichts reizt mich«, sagte ich mit zusammengebissenen Zähnen.

Ana sah mich komisch an. »Klar, du bist am falschen Ort. Die meisten Leute hier holen sich Sachen so wie früher auf der Erde, sie essen, trinken, rauchen – manche hamstern das Zeug sogar in ihrer Wohnung, gehen nicht mehr raus. Nur Menschen, die kurz vor ihrer Entlassung stehen, hören auf zu konsumieren, was es hier gibt.«

»Und was heißt das für mich?«

»Dass du hier raus musst oder du verhungerst am Ende noch, weil du nicht bekommst, was du brauchst.«

»Warum? Ich habe doch keinen Hunger!« Meine Hände klopften auf meinen Bauch, als wären sie ferngesteuert.

»Ist schon gut, Lela«, meinte Ana und sah amüsiert meine zuckenden Finger. »Es dauert eine Weile. Ein bisschen Zeit hast du noch. Mindestens ein paar Wochen.«

Mir war nicht klar gewesen, dass ich ein Haltbarkeitsdatum hatte. »Und wenn ich esse?«

»Dann nährt es dich nicht. Keine Sorge. Es schmeckt sowieso nicht. Sei froh, dass du es nicht runterwürgen musst wie wir übrigen.« Rasch warf sie mir einen Blick zu. »Du könntest zum Richter gehen und dann raus aufs Land … dich da richtig fett fressen, wiederkommen und deine Freundin suchen?«

Ich ballte die Fäuste, damit ich ihr nicht den Mittelfinger zeigte. »Klar. Die Torwächter kriegen dann bestimmt den Sonderbefehl, mich mit offenen Armen aufzunehmen, was? Netter Versuch.«

Sie zuckte die Schultern.

»Stammt die Idee von Malachi?« So viel zum Thema Vertrauen.

Sie schüttelte den Kopf. »Kann sein, dass er auch schon daran gedacht hat, aber anscheinend liegt ihm viel an deiner Meinung von ihm.«

Ich atmete auf. War irgendwie … erleichtert. Mir wurde klar, dass ich Malachi vertrauen wollte. Geistesabwesend zupfte ich an meinem Zopf – da fiel mir etwas ein. »Malachi hat gesagt, dass er das Wasser hier nicht trinkt.«

Anas Miene verdüsterte sich. »Stimmt. Manchmal isst er, aber er trinkt schon seit ein paar Monaten nicht mehr. Der Glückliche.« Ihr Neid war nicht zu überhören. »Mit mir spricht er nicht darüber, aber ich weiß, was es bedeutet. Er hat zwar noch nicht abgenommen, aber das ist nur eine Frage der Zeit. Er ist unterwegs nach draußen.«

»Meinst du, er verhungert allmählich?« Ich wünschte, ich hätte versucht, ihm ein bisschen Wasser einzuflößen, als er bewusstlos war.

»Nein, ich meine nach draußen, raus aus der Stadt und aufs Land.« Ana lächelte verkrampft. »Ich glaube, Malachi ist hier fast fertig. Ich weiß nicht, wann genau es so weit ist, aber ich werde es wohl mitbekommen, wenn er gar nichts mehr isst.« Sie reckte die Schultern und zog mit geübtem Griff ihren Pferdeschwanz fest. »Tja, ich bin jedenfalls am Verhungern. Kommst du mit in den Speisesaal?«

In meinem Hirn rotierten noch die tausend Fragen, die ich gern gestellt hätte, aber ein Blick auf Ana verriet mir, dass das Gespräch vorbei war. Sie ging mit energischen Schritten voran und ich biss mir auf die Zunge, als ich ihr den Korridor hinunter folgte.

Der »Speisesaal« war genau das, was ich mir vorgestellt hatte, und sah ziemlich ähnlich aus wie der Lebensmittelladen, in dem ich gewesen war. Unappetitlich war noch eine freundliche Bezeichnung dafür. Ana holte sich dies und das, darunter ein elendes Stück Käse, eine schwarze Banane, ein hartes Brötchen und eine Suppe, die – jedenfalls für mich – nach Käsefüßen roch. Aber das behielt ich für mich.

Andere Wächter saßen an langen Holztischen, Berge von Lebensmitteln vor sich. Ihre leuchtenden Augen richteten sich auf uns, als wir den Saal durchquerten. Es war ein bisschen wie an der Warwick Highschool, nur dass die anderen Schüler über zwei Meter groß und schwer bewaffnet waren.

Ana nahm ein Messer zur Hand und kratzte den Schimmel von dem Käse. Ich saß ihr gegenüber. Meine Gedanken überschlugen sich. Wenn ich die Stadt nicht innerhalb von ein paar Wochen verließ, würde ich verhungern. Malachi hatte das nicht erwähnt, aber es erklärte, warum er so darauf versessen war, mich hinauszubefördern. Tja, ich hatte wirklich nichts dagegen zu gehen, solange ich Nadia mitnehmen konnte. Vielleicht würde er ja dann auch bald kommen. Ich dachte an die Sehnsucht in seiner Stimme, als er von dem Land jenseits der Stadtmauern sprach. Ich freute mich, dass er vielleicht bald hier rauskam, und sinnierte eine Weile über das Lächeln, das dann vielleicht sein schroffes, trotziges Gesicht verwandeln würde.

Ana aß schnell und wortlos. Seit unserem Gespräch über das Essen wirkte sie bedrückt – bestimmt wünschte sie sich, sie hätte weniger Appetit. Im Saal wurde es still, als Ana aufstand und ihre Reste wegwarf. Sie tat so, als würde sie es nicht bemerken. Als wir in den Korridor traten, wurde drinnen plötzlich wieder gelacht und gescherzt, dass die Wände bebten.

Ich warf Ana einen Blick zu. »Liegt es daran, dass du sie nervös machst oder dass sie dich scharf finden?«

»Beides. Es hat schon andere vor mir gegeben, aber ich war seit Langem die erste Frau hier. Jedenfalls glaubten die meisten Kerle hier, sie müssten etwas versuchen, was sie dann bitter bereuten. Anfangs mussten mich Takeshi und Malachi beschützen. Sie ließen mich nie irgendwo allein hingehen. Aber im Grunde lassen mich die anderen Wächter erst in Ruhe, seit ich gelernt habe, selbst auf mich aufzupassen.«

»Hattest du eine Kampfausbildung, bevor du hierher kamst?«

Ana musterte mich. »Weißt du, ich glaube, ich war so wie du. Ich meine, ich kenne dich nicht. Aber man sieht es dir an. Ein starkes Mädchen. Wütend.« Ihr Lächeln war irgendwie durchtrieben und traurig zugleich. »Kaputt.«

Ich sah weg. War es so offensichtlich? Als stünde »nicht gesellschaftstauglich« in Großbuchstaben auf meiner Stirn.

Nur Nadia hatte es geschafft, dass ich mich anders fühlte. Als wäre ich gut genug, als müsste ich bloß den Code lesen und die Sprache der normalen Welt sprechen, ohne mich selbst zu verbiegen. Einmal hatte sie mir gesagt, jeder wäre unter der Oberfläche brutal und grausam und manche Menschen würden das nur besser kaschieren als andere.

Ich wollte wie Nadia sein, dazugehören, aber nichts darauf geben, statt umgekehrt. Aber wenn Nadia wirklich gewusst hatte, worauf es ankam, warum hatte sie dann ein fröhliches Gesicht gemacht, obwohl sie so unglücklich war? Warum hatte sie sich mit Schmerztabletten weggezoomt? Und warum zum Teufel hatte sie beschlossen, mich im Stich zu lassen?

Wenn Malachi und Ana tatsächlich so viel drauf hatten, konnte ich Nadia ja vielleicht bald persönlich fragen.

Ana führte mich eine Steintreppe hinunter, das Licht der Gaslampen flackerte in der Dunkelheit. Allmählich wurde es kälter. Dröhnen und heftiges Krachen hallten von den Steinmauern wieder. Es hörte sich an, als wäre ein Kampf im Gange. Unten an der Treppe befand sich eine Tür.

»Er wärmt sich auf«, bemerkte Ana, als sie die Tür aufstieß. Sofort erstarb der Lärm.

Modifizierte Gaslampen säumten die Wände, alle waren mit einem stabilen Drahtgeflecht umspannt – zweifellos, um sie vor fliegenden Gegenständen zu schützen. Malachi stand am anderen Ende des Raums und zog ein Hemd über seine bemerkenswerten Bauchmuskeln.

»Wie geht’s Michael?«, fragte Ana.

Malachi verdrehte die Augen und fuhr sich mit dem Ärmel über sein verschwitztes Gesicht. »Wortgewandt wie eh und je. Aber bis morgen früh hat er eine Rüstung für Lela fertig.«

Mein Blick wanderte zwischen ihnen hin und her. In den letzten Jahren hatte ich gelernt, auf mich aufzupassen und andere so weit einzuschüchtern, dass sie mich in Ruhe ließen, und darauf war ich stolz. Aber jetzt, beim Anblick von zwei echten Kriegern, fühlte ich mich wie ein ahnungsloses Schulkind.

Die nächsten Stunden waren hart. Es ging halbwegs langsam los. Malachi brachte mir erst einmal bei, wie man den Stab benutzt. Er zeigte die verschiedenen Griffe, mit denen ich schlagen und einfache Angriffe abwehren konnte. Dann ließ er mich Abwehr im Zurückgehen und die Verteidigung auf den Gegner üben. Außerdem trainierten wir Schläge nach oben und unten. Immer wieder, mit wachsendem Tempo. Als er meinte, ich könne den Bō halbwegs vernünftig einsetzen und liefe nicht länger Gefahr, ihn mir im unpassenden Augenblick auf den Schädel zu hauen, zitterten alle meine Muskeln und ich hatte das Gefühl, meine Lunge würde gleich explodieren.

»Jetzt ist Selbstverteidigung angesagt«, frohlockte Ana und machte mit ihrem Krummsäbel einen Satz vorwärts. Fluchend stolperte ich ein paar Schritte zurück.

»Erst mal zusehen«, sagte Malachi, nahm Ana den Krummsäbel aus der Hand und reichte ihr einen Bō. Ana zwinkerte Malachi zu und schwang den Stab mit atemberaubender Geschwindigkeit. Malachi warf ihr einen strengen Blick zu. »Sie braucht erst mal die Grundlagen. Überfordere sie nicht.«

Ana streckte ihm die Zunge raus und hielt den Bō in die Höhe.

Ich wünschte, ich würde mir nur einbilden, wie Ana nun mit plumpen, übertrieben schweren Schritte umherstampfte. Dass sich Malachi ärgerte, merkte man nur am Zucken eines Wangenmuskels.

Klar, sie machte sich über mich lustig.

Bevor ich auf sie losstürmen konnte, bremste mich Malachi. »Nicht alle Mazikin sind bewaffnet, aber in letzter Zeit haben sie den Wächtern Waffen gestohlen und sie gehortet. Wir kennen zwei, die mit dem Krummsäbel umgehen können, einen von ihnen hast du kennengelernt. Ach ja, und den anderen hast du gesehen. Sil und Ibram. Es waren einmal drei, aber leider weilt Juri nicht mehr unter uns.« Die grimmige Zufriedenheit in seiner Stimme war nicht zu überhören. Ich lächelte in mich hinein. »Wenn du einen von den beiden siehst, lauf. Lauf einfach. Bieg so schnell es geht um die Ecke und lauf weiter. Bei den anderen ist dein Ziel, sie wenn möglich zu entwaffnen, wenn nicht, dich zu verteidigen.«

Er wandte sich wieder Ana zu und rannte mit erhobenem Schwert auf sie zu. Im Nu hatte Ana ihn abgeblockt und ihm die Waffe entwunden.

»Da konnte ich nicht ganz folgen«, sagte ich.

»Ist klar«, sagte er und ging in seine Ausgangsposition zurück. »Wir machen es dir noch einmal langsam vor.«

Sie demonstrierten noch mehrmals, Schritt für Schritt, wie man eine relativ unerfahrene Person, die einen Krummsäbel schwingt, abwehrt und entwaffnet.

So etwas lernte man nicht auf der Highschool.

Malachi reichte mir wieder den Bō. Nach gefühlten hundert Versuchen gelang es mir, den Bewegungsablauf in normaler Geschwindigkeit zu absolvieren. Ich lernte sogar ein paar Variationen desselben Manövers.

Schließlich erklärte Malachi, ich hätte lange genug den Bō erduldet. Glücklich ließ ich mich auf den Boden fallen, freute mich auf eine Pause und fantasierte von einer heißen Dusche. Als ich die Augen wieder aufschlug, stand er vor mir. Er reichte mir zaghaft die Hand, um mir auf die Füße zu helfen, fast als befürchtete er, ich würde das Angebot ablehnen. Ich reichte ihm die Hand, seine langen Finger schlossen sich um meine und er zog mich hoch.

Was ich jetzt sah, konnte ich nur als schüchternes Lächeln bezeichnen. »Was hältst du von Messern?«

Ich lachte. »Warum fragst du überhaupt? Ich liebe sie. Liebe. Sie.«

Kichernd reichte er mir eines. »Das sind Wurfmesser. Siehst du die beidseitig geschliffene Klinge? Das ist anders als beim Jagdmesser. Diese hier kannst du leichter kontrollieren.«

»Also kann ich nächstes Mal ein lebensnotwendiges Organ treffen?«

Er hob den Arm und richtete den Blick auf eine Stoffpuppe, die ein paar Meter entfernt stand. »Nur als letztes Mittel, Lela, wenn dir nichts anderes mehr übrig bleibt. Aber so sollte es aussehen.« Den Bruchteil einer Sekunde später war die arme Puppe tot.

Ana war mindestens so gut wie Malachi. Offenbar machte es ihr Spaß, eine Show abzuziehen, denn sie wirbelte durch den Raum, während sie die Puppe mit einer Halskette aus Wurfmessern schmückte. Ich lachte mich schlapp, als sie die Puppe auch im Schritt mit Messern verzierte. Malachis hellbraune Haut wurde fahl.

»Erinnere mich daran, in Zukunft netter zu dir zu sein«, grummelte er.

Malachi zwang mich, so lange zu üben, bis ich den Dreh raus hatte. »Du wirfst es wie einen Baseball«, lachte er. »Für wen hältst du dich eigentlich, Lefty Grove?«

Er hielt sich anscheinend für unheimlich witzig, aber ich schaute nur dumm. Wer zum Kuckuck war Lefty Grove? Ana tänzelte an seine Seite. »Das ist überholt, Alter …«

Sofort wurde er ernst. »Halb so wild. An die Arbeit.«

Ungefähr tausend Würfe später beneidete ich die messergespickte Puppe und wünschte, jemand würde mir den Gnadenstoß geben. Mein rechter Arm brannte von der Schulter bis zu den Fingerspitzen. Nacken und Rücken waren komplett verspannt und schmerzten. Aber jetzt wusste ich, wie man Messer wirft. Schon wieder eine praktische Fertigkeit, die einem auf der Highschool keiner beibringt.

Als Malachi endlich Gnade zeigte und die Messer wegpackte, sank ich auf den Boden und massierte meinen kaputten Arm. Ich ließ den Blick über das merkwürdige Waffensortiment schweifen. Krummsäbel. Kampfstab. Wurfmesser. Ich war nicht gerade Expertin – mein Wissen stammte ausschließlich aus Filmen –, aber nach einem einheitlichen Kampfstil sah das nicht aus.

»Warum diese Waffen? Ich sag euch eins, ein paar Raketenwerfer und Kalaschnikows wären wirklich hilfreich.«

Malachi und Ana tauschten einen Blick und offenbar deutete er ihre Miene richtig, denn er nickte ihr zu.

»Ich bin fertig«, sagte sie, drehte sich um, hob ein paar Stäbe vom Boden auf und legte sie in ein Gestell an der Wand. »Ich brauche einen Schluck Wasser und muss unter die Dusche. Und ich muss noch was vorbereiten. Lela, du hast dich heute Abend gut geschlagen. Bis später.«

Ana gab Malachi einen Klaps auf den Po und schon war sie weg. Sie wirkte kein bisschen erschöpfter als zu Beginn des Trainings und das machte mich ernsthaft eifersüchtig. Das Gefühl wurde nur noch heftiger, wenn ich daran dachte, wie sie Malachi angefasst hatte, als hätte sie sich das Recht dazu über Jahre erworben. Ich wischte meine schwitzigen Hände an der Hose ab und verwünschte den seltsamen Schmerz in meiner Brust.

»Um deine Frage zu beantworten«, sagte Malachi und steckte einige Messer in eine Stoffhülle, »das ist über die Jahrhunderte entstanden. Manche von uns bringen Kenntnisse über Waffen und Kampfstile aus ihrem irdischen Leben mit und bilden die anderen aus. So wird es von Wächter zu Wächter vermittelt, jeder neue lernt von den älteren.« Er seufzte schwer, als würde ihn eine Erinnerung bedrücken. »Michael entwickelt neue Waffen, die den Wünschen der menschlichen Wächter entsprechen. Vermutlich ist es nur eine Frage der Zeit, bis neue Wächter kommen, die sich mit Schusswaffen auskennen, aber ich hoffe, dass ich dann nicht mehr hier bin.«

Er streckte sich und es sah aus, als würde er die Erinnerungen wegschieben, um wieder in die Gegenwart zurückzukehren. »Woher der Krummsäbel stammt, ist mir nicht bekannt. So weit ich weiß, ist er schon seit tausend Jahren Wächterwaffe, eine alte Tradition. Alle Wächter lernen, damit zu kämpfen. Das Wurfmesser geht auf einen Amerikaner zurück. Er kam aus dem Süden, aus der Zeit des Bürgerkriegs, und er ging, kurz nachdem ich Wächter geworden war. Jedenfalls trägt es nicht jeder, weil nicht alle damit etwas ausrichten können, außer dem Feind eine Waffe in die Hand zu geben. Aus diesem Grund solltest du sie auch nur als letztes Mittel einsetzen. Ach, und spar dir die Mühe, sie bei Ibram auszuprobieren.«

»Ja, hab ich gesehen.«

Er nickte. »Und der Bō-Stab – das war Takeshi. Damit konnte er alles abwehren. Er brachte Michael dazu, den Schlagstock umzumodeln. Mit einem ausgewachsenen Kampfstab durch die Stadt zu ziehen wäre ziemlich unpraktisch. Die Schlagstöcke der anderen Wächter sind im Urzustand. Sie werden zur Kontrolle von Menschenmengen eingesetzt und dienen hauptsächlich zur Einschüchterung. Aber du hast ja gesehen, dass Anas und meiner sich in einen Bō umwandeln lassen. Für uns ist das besser, weil wir nicht die schwere Rüstung tragen. So können wir gegen mehrere Gegner gleichzeitig kämpfen und ihre Zähne von unserer schönen, zarten Haut fernhalten.«

Ich beschäftigte mich mit dem Schnürsenkel an meinem Stiefel, damit er mein Gesicht nicht sah, wenn ich an seine schöne, zarte Haut dachte. »Takeshi war also vor dir hier.«

»Ja, er hat Ana und mich ausgebildet.«

Ich gab Malachi meine Messer. »Sie trauert immer noch um ihn, oder?«

Verblüfft sah er mich an. »Ja. Es ist schon Jahre her, aber ich glaube, ihr erscheint es nicht so lang.«

Ich wollte ihn fragen, was passiert war, aber sein Gesichtsausdruck schreckte mich ab. Wie Ana, als wir auf Takeshi zu sprechen kamen, vertiefte sich auch Malachi in eine unnötige Tätigkeit und begann die Messer in ihrer Hülle neu zu sortieren. Als er den Stoffstreifen aufrollte und wegräumte, stand ich auf und ging von einer heißen Dusche träumend zur Tür.

»Wir sind noch nicht ganz fertig, Lela. Wenn du die Angreifer nicht auf Distanz halten kannst, solltest du auch fit sein, wenn sie dir auf den Pelz rücken. Als nächstes steht Nahkampf auf dem Programm.«

Ich blieb wie angewurzelt stehen. »Und wer ist der Sadist, der ausgerechnet diesen Stil mitgebracht hat?«

Er legte den Kopf schräg und grinste. »Ich.«