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In den Wochen nach der Nacht, in der ich bei Nadia gewesen war, hatte sie ungewöhnlich viel zu tun. Aber es schien ihr besser zu gehen, sie war fast wieder die Alte. Nur fragte ich mich allmählich, ob sie mir aus dem Weg ging. Schließlich fing ich sie nach der Schule ab und schlug vor, was zusammen zu machen, aber sie meinte, sie hätte noch was zu erledigen, müsste nach Hause. Schon wieder.

Als ich den Wagen in unserer Einfahrt abstellte, stand Diane schon ganz hibbelig vor Aufregung vor der Eingangstür. »Schatz, er ist da«, rief sie in dem Moment, als ich die Autotür öffnete. Sie lief die Betonstufen hinunter und schwenkte einen dicken Umschlag. »Darauf hab ich gewartet. Spann mich nicht noch länger auf die Folter.«

Diane drückte mir den Umschlag in die Hand und hüpfte auf und ab, während ich ihn mit zitternden Händen aufriss. Allmählich hatte ich schon gedacht, am College hätten sie nur gelacht und meine Bewerbung in den Papierkorb geworfen, sobald sie bei ihnen eingetrudelt war.

Von einem Ohr zum anderen grinsend überflog ich den Brief. Das vorbestrafte Mädchen hatte es geschafft. Ich würde studieren.

Rasch las ich den Brief durch, dann sah ich mir die nächste Seite an, erwartete ein Formular für die Einschreibung oder so. »O mein Gott«, flüsterte ich, als ich das zweite Schreiben hinter dem ersten überflog. »Sie geben mir ein Stipend–«

Diane schloss mich in die Arme, bevor ich mich wegducken konnte. Sie drückte meinen Kopf an ihre Brust, während sie Luftsprünge machte, jauchzte und weinte. Ich bekam keine Luft und wollte mich losreißen, aber das war auch ihr großer Moment. Diane hatte mich aufgenommen, als mich andere Pflegeeltern nicht haben wollten. Und das Risiko hatte sich gelohnt.

Ich ließ mich also ein paar Sekunden von ihr drücken, dann hielt ich ihr den Brief hin, um sie abzulenken. Sie ließ mich los und nahm ihn. Ich machte einen Schritt rückwärts, holte mein Handy aus der Tasche und funkte Nadia an. Sie nahm nicht ab.

»Was wünscht du dir heute zum Abendessen, Schatz?«, fragte Diane und wischte sich die Augen. »Ich mache, was du willst, alles, was du willst.«

»Können wir das auf ein andermal verschieben? Ich möchte Nadia den Brief zeigen.« Egal was Nadia vorhatte, ich wusste, dass sie begeistert wäre.

Diane nickte und gab mir den Brief zurück. »Bedank dich für mich bei ihr.« Sie drohte mir mit dem Finger. »Und sei nett, wenn sie sagt, ›ich hab’s ja gleich gesagt‹.«

Ich legte den Brief auf den Beifahrersitz und las ihn bei jeder roten Ampel noch mal durch, bis ich in Nadias Straße an der Bucht einbog. Ich klopfte ein paar Mal an die Vordertür, aber es machte niemand auf. Mit dem Brief in der Hand lief ich ums Haus herum zur Terrasse. Der kühle Meereswind fuhr mir ins Haar und ließ meine Locken tanzen. Ungeduldig schob ich mir die Strähnen aus der Stirn. »Nadia, bist du da?«

Sie saß auf ihrem Lieblingsplatz auf der hinteren Veranda, schaute von ihrer Liege aus aufs Meer hinaus. Ich sprang auf das kunstvolle Mauerwerk und wartete darauf, dass sie den Kopf drehte. Schließlich stupste ich sie an. »He, du bist nicht ans Handy gegangen.«

Sie sah zu mir auf. Ihre Augen waren hell, ihre Pupillen klein wie Stecknadelköpfe. Ich kämpfte meine Angst nieder und kniff die Augen zusammen, vielleicht spielte mir ja das Abendlicht einen Streich. Leider nicht.

»Ich hab’s … nicht gefunden«, sagte sie.

Sie war völlig zugedröhnt.

Ich atmete ganz tief durch die Nase ein. Bloß heute Abend keinen Streit vom Zaun brechen. Nicht wenn wir allen Grund hatten, glücklich zu sein. »Ich hab heute den Brief bekommen. Jetzt ist es offiziell. Und rat mal, was noch?«

Ich wedelte mit dem Brief vor ihrer Nase herum, damit sie munter wurde und danach griff. Als sie das nicht tat, legte ich ihn neben ihre pedikürten Zehen auf die Liege. Sie schaute immer noch zu mir hoch, ein mattes Lächeln umspielte ihre Lippen. »Du bist glücklich. Schön, dass du glücklich bist.«

»Wir haben’s geschafft!«, lachte ich. »Wir gehen auf die Uni! Wir können uns jetzt im Wohnheim anmelden.«

Ihr Lächeln erstarb. »Du hast es geschafft«, wisperte sie. Sie holte tief Luft und setzte sich aufrecht hin. »Ich bin so stolz auf dich. Du wirst so viel Spaß haben.«

»Was?« rief ich, als die Tür zum Frühstückszimmer aufglitt.

»Nadia«, seufzte Mrs. Vetter. Sie hatte ein Weinglas in der Hand und funkelte nur so vor Schmuck. Wie immer nahm sie mich nicht zur Kenntnis. »John holt mich in ein paar Minuten ab.«

Einen Moment lang staunte ich nur noch über die Ähnlichkeit zwischen Mutter und Tochter, die in den letzten Monaten, als die Abschlussprüfungen näher rückten, deutlicher geworden war. Beide waren spindeldürr, gut gekleidet, blass und schön … und hatten winzige Pupillen.

Nadia winkte gedankenverloren.

»Schön«, sagte Mrs. Vetter. »Wir sehen uns morgen früh.« Die Tür glitt wieder an ihren Platz und die Anwesenheit von Nadias Mutter war vergessen wie ein Regentropfen, der in den Ozean fällt.

»Also«, rief ich aufmunternd und schob Nadia noch mal die Zusage für mein Stipendium zu. »Lies das! Schau, was deine Mühe und dein andauerndes Nörgeln bewirkt haben.«

Nadias Augen richteten sich wieder auf das kabbelige graue Wasser der Narragansett Bay. Tief in meinem Bauch brodelte es. Das war der große Moment, der Moment, in dem ich bewies, dass ich die Zeit wert war, die Nadia sich für mich genommen hatte. Sie musste sich das ansehen. Ich musste hören, dass sie es sagte.

Ich musste wissen, dass es ihr gut ging.

Also stand ich auf und wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht herum. »Wie viel hast du diesmal eingeworfen?«

Sie lehnte sich zurück und grinste. Hilflos ließ sie die Arme hängen. »Keine Ahnung.«

»Weißt du eigentlich, wie verdammt armselig das klingt?«, platzte ich heraus, unfähig meine Wut zu zügeln. Ich nahm den inzwischen knittrigen Brief von der Liege und zerknüllte ihn.

Sie machte die Augen zu. »Aber es fühlt sich verdammt gut an.«

Ich machte ein paar Schritte rückwärts, damit ich ihrer Liege keinen Tritt verpasste, um sie aus ihrer Trance zu reißen – um die Nadia zurückzuholen, der nicht alles scheißegal war. Aber sie saß einfach mit geschlossenen Augen da. Ich hielt das nicht aus. »Vielleicht will ich gar kein Zimmer mit dir teilen. Ich gehe nämlich an die URI, um etwas zustande zu bringen und nicht, um die Zeit zwischen zwei Trips zu überbrücken.«

Ich wollte, dass sie zusammenzuckte. Dass sie mir sagte, was für ein Miststück ich war. Ich wollte von ihr hören, dass ich ihr wichtig war. Dass ich zu ihr durchdringen konnte.

Stattdessen lächelte sie wieder, ein Speziallächeln, ein vernichtendes Lächeln. Das ultimative Abfuhrlächeln. Seit Beginn unserer Freundschaft hatte ich gesehen, wie sie andere damit abfertigte. Mit diesem trägen, gespielt nachsichtigen Kräuseln der Lippen, ein Gesprächskiller, der Mädchen ebenso wie Jungen mit seiner selbstbewussten Kälte fertigmachte. Dieses Lächeln stellte eins klar: Egal was du sagst, es berührt mich nicht. Tausendmal hatte ich beobachtet, wie sie Greg, ihren Versager von Exfreund, damit bedachte. Auch ihre Mom. Einmal sogar Tegan. Und jetzt richtete sie es gegen mich. »Hau ab, Lela. Du bist irgendwie eine Spaßbremse.«

»Okay«, sagte ich mit zittriger Stimme. »Du bist ein richtiges Miststück geworden, weißt du das?«

Unsicher hob sie die Hand und zeigte mir den Mittelfinger.

Für mich brach die Welt zusammen. Das war der Augenblick, den ich fürchtete, seit ich sie an mich herangelassen hatte – der Augenblick, in dem sie mich so wie alle anderen links liegen ließ. Ich kam mir vor wie ein Idiot, dass ich davon geträumt hatte, mit meiner besten Freundin aufs College zu gehen. Allmählich hatte ich angefangen, es wirklich zu glauben. Und ich hätte es besser wissen sollen. Ausgeschlossen, dass ich jemandem so viel bedeutete.

Das kalte Lächeln war immer noch da und ich hätte sie am liebsten ins Gesicht geschlagen. Ich wollte sie schütteln. Irgendetwas tun, um eine Reaktion zu kriegen, die mir zeigte, dass ich ihr nicht egal war, dass sie Angst hatte, mich zu verlieren. Ich stand da und wartete. Auf irgendetwas. Die leiseste Regung. Wenigstens ein Zucken ihrer Finger. Irgendetwas, das ein Gefühl verriet.

Nichts.

Tränen brannten in meinen Augen, aber meine Wut war stärker. »Du wirst mal genauso wie deine Mom, Nadia. Glückwunsch. Danke, dass du mir ersparst, das mitanzusehen.«

Ich stopfte den Brief in meine Tasche, stampfte über den samtweichen Rasen davon und wünschte, ich hätte etwas, das ich auf die großen, kristallklaren Panoramafenster hätte schleudern können. Bei mir war eine Sicherung durchgebrannt – die eine Sache, an die ich mich geklammert hatte, zerbrach. Als ich beim Auto war, atmete ich tief durch und versuchte, mich so weit zu beruhigen, dass ich fahren konnte. Morgen würde es ihr besser gehen. Dann würde ich ihr den Brief zeigen.

Aber dazu kam es nicht. Am nächsten Morgen rief Tegan an. Ich verstand kaum, was sie sagte, so hysterisch schluchzte sie, aber nachdem sie es ein paar Mal wiederholt hatte, kapierte ich endlich.

Mrs. Vetter hatte ihre Tochter auf dem Fußboden des Badezimmers gefunden. Neben ihr lag ein leeres Pillenfläschchen.

Nadia war tot.