1
Ein Jahr später
Meine Muskeln arbeiteten angestrengt und kontrolliert, drückten mich hoch und ließen mich langsam wieder auf den Boden sinken. Immer wieder und wieder, bis meine Arme zitterten und mein Atem stoßweise ging. Und danach noch ein paar Mal, nur um sicher zu sein, dass ich es konnte. Dann beendete ich meine Liegestütze und ging zu den Sit-ups über.
Das Klopfen riss mich aus meinem stumpfsinnigen Training. »Schatz? Es ist arg ruhig bei dir.«
Ich ließ mich zurücksinken, drehte den Kopf zur Tür und strich mir meine schweißnassen Locken aus der Stirn. Diane, meine Pflegemutter, machte die Tür einen Spaltbreit auf und schaute herein.
Ich setzte mich auf und wischte mir das Gesicht mit dem Ärmel ab. »Bin schon fast fertig. Du kannst reinkommen.«
Sie machte die Tür ganz auf. »Du plagst dich so.«
Ich nahm das Wasserglas von meinem Nachttisch. »Ich dachte, das wird von mir erwartet.«
Sie nickte zu den Büchern und Papieren hin, die meinen Schreibtisch bedeckten. »Keine Ahnung, wo du die Energie hernimmst. Du bleibst immer so lange auf.« Auf ihrem dunkelhäutigen Gesicht bildeten sich Sorgenfalten. »Für mich steht fest, dass du zu wenig schläfst.«
In den letzten Jahren war mein Schlaf nicht gerade erholsam gewesen, aber darüber redete ich nicht. »Ich hab so viel nachzuholen.« In dem einen Jahr, seit ich bei Diane wohnte, hatte ich es geschafft, meinen Notendurchschnitt auf eine Zwei vor dem Komma anzuheben, aber nur mit Mühe und Not.
»Du hast noch viel mehr getan als nur das. Hast du heute schon die Post angeguckt?«
»Ja. Nix dabei.«
Sie zuckte die Schultern. »Der Brief kommt schon noch, Schatz. Das spüre ich.«
Manchmal hatte ich das Gefühl, dass die einzige Collegebewerbung, die ich abgeschickt hatte, für Diane mehr bedeutete als für mich. Doch so ungern ich es zugab, ich hatte angefangen auf eine Zukunft zu hoffen, die ich nie für möglich gehalten hätte.
»Hast du heute Abend was mit Nadia ausgemacht?«, fragte Diane.
»Ich möchte bei ihr übernachten. Ihre Mom ist mit ihrem neuen Freund auf den Seychellen.«
»Macht nur keinen Blödsinn.«
Wir machten nie Blödsinn. Das war der Grund, warum Diane Nadia so gern hatte. Abgesehen von der Sorge, dass sie immer perfekt sein musste, war Nadia, na ja, perfekt. Ich runzelte die Stirn. Oder vielleicht auch nicht. In letzter Zeit wirkte sie gestresst.
Ich duschte rasch, packte mein Zeug in den Rucksack und verließ das Haus. Die Fahrt zu Nadia war kurz, aber wenn man in ihre Straße einbog, war es, als würde man eine andere Welt betreten. Ich fragte mich, ob ihre Nachbarn die Türen abschlossen und die Jalousien runterließen, wenn sie mich kommen sahen. Oder vielleicht bezahlten sie jemanden, der das für sie erledigte.
Der alte, heruntergekommene Toyota Corolla, den mir Dianes Onkel geliehen hatte, kam mir klein und schäbig vor, als ich in Nadias Einfahrt stehen blieb. Ich parkte neben Tegans BMW. Normalerweise verzogen sich Nadias andere Freundinnen, wenn sie wussten, dass ich auftauchte. Obwohl wir schon fast ein Jahr zusammen rumhingen, waren ihre Freundinnen – vor allem Tegan – immer noch sauer, weil sie sich mit jemandem wie mir abgab. Vor ungefähr einer Woche hatte Nadia, weil es sie tierisch nervte, Tegan erklärt, ich würde mich nicht in Luft auflösen und sie müsste wenigstens mit mir reden.
Ich wünschte, Nadia hätte mich vorher um meine Meinung gefragt.
Nadia öffnete die Haustür, noch bevor ich dort war. »Ich wollte ja, dass ihr beiden es langsam angehen könnt, aber anscheinend hat Tegans Therapeutin ihr gesagt, dass sie eine Bindung mit dir eingehen muss.«
»Das hört sich … ziemlich unangenehm an.«
Sie biss sich, halb lachend, halb schuldbewusst, auf die Lippen. »Sei mir nicht böse.«
Ich schulterte meinen Rucksack und ging vorsichtig die Stufen zum Eingang hinauf. Meinen Wunsch, Tegan einen Tritt in den Hintern zu verpassen, hatte ich schon längst überwunden. »Ist schon gut. Es sei denn, sie fängt an, mir ein völlig neues Styling aufzuschwatzen, dann werde ich ungemütlich.«
Tegan spähte über Nadias Schulter. Ihr kurzes braunes Haar hing ihr modisch zackig in die Stirn. »Hi, Lela. Schön, dass deine Bewährungshelferin dir erlaubt hat, herzukommen«, sagte sie und reichte Nadia eine Limoflasche.
Bindungen einzugehen war echt nicht Tegans Stärke.
Nadia nahm die Flasche und klopfte Tegan damit sachte auf den Kopf. »Lass den Quatsch. Heute Abend will ich relaxen.«
Tegan streckte Nadia die Zunge heraus, dann sagte sie zu mir: »Hey, ich hab was von einem dominikanischen Festival dieses Wochenende gelesen. Vielleicht sollten wir hingehen und deine Wurzeln feiern.«
Ich machte die Augen zu und schüttelte den Kopf. Auf diese neue Tegan, die sogar mit mir redete, konnte ich verzichten.
»Lela ist nicht aus der Dominikanischen Republik«, antwortete Nadia für mich.
»Aber ich bin nah dran, oder?« Tegan machte ein ehrlich ratloses Gesicht, vielleicht weil ich der einzige dunkelhäutige Mensch war, mit dem sie je gesprochen hatte. »Wo bist du denn dann her?«
»Hm, von hier?«
Sie verdrehte die Augen. »Nein, ich meine ursprünglich.«
Meine Hand umklammerte den Riemen meines Rucksacks, bis meine Knöchel weiß wurden. »Von hier.«
»Ach, komm schon, Lela, ein paar Einzelheiten. Vielleicht haben deine Alten ja auch ein Festival.«
Ich seufzte. »Ich glaube, ich bin aus Puerto Rico.«
»Du glaubst? Normale Leute wissen so was doch?«
Nadia preschte vor und bot mir die Limonade an. »Die kriegst du, wenn du sie nicht umbringst«, sang sie.
»Weißt du, Tegan«, erklärte ich mit meiner Ein-qualvoller-Todist-noch-zu-gut-für-dich-Stimme, »ich habe meine Mutter nicht mehr gesehen, seit ich vier Jahre alt war, und da bin ich nicht auf die Idee gekommen, sie zu fragen.«
Tegan nickte, als hätte ich gerade gestanden, dass ich gern Der Bachelor guckte. »Das ist wirklich schade. Ich hatte gehofft, dass du Kubanerin bis. Diese Cuba libre find ich super.«
Nadia schloss die Augen und schüttelte den Kopf. »Wie wär’s, wenn du erst mal die Pizzen bestellst.« Sie reichte Tegan eine Speisekarte.
Tegan drohte uns mit ihrem hübsch manikürten Zeigefinger und verzog sich in die Küche.
Als ich meinen Rucksack auf den Wohnzimmertisch stellte, sah ich den großen, dicken Umschlag von der University of Rhode Island. »O mein Gott, ist das, was ich glaube, dass es ist?«
Nadia nickte. »Heute angekommen. Hast du auch einen gekriegt?«
»Nein. Ich meine, noch nicht.« Ich nahm den Umschlag und musterte ihn eingehend. »Herzlichen Glückwunsch, Nadia.« Ich grinste. »Sieht aus, als hätten wir heute was zu feiern.«
Ihr Mund lächelte, aber nicht ihre Augen. »Danke.«
Sie drehte sich um und ging zur Küche, anscheinend dachte sie, dass ich ihr folgen würde. Aber ich stand einfach da, den Umschlag in der Hand, und überlegte, was sich verändert hatte. Vor einem halben Jahr hatte sie mich praktisch gezwungen, ein Bewerbungsformular auszufüllen. Bis dahin hatte ich nie ernsthaft über die Zukunft nachgedacht. Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, ums Überleben zu kämpfen. Als ich Nadia kennenlernte, wurde alles anders. Also hatte ich die Bewerbung ausgefüllt und abgeschickt. Anfangs war Nadia in Hochstimmung. Sie machte mit mir einen Rundgang auf dem Campus, schwärmte ununterbrochen davon, wie toll es wäre, wenn wir beide genommen würden. In letzter Zeit hatte sie aber nicht mehr so viel darüber geredet. Ich legte den Umschlag wieder hin und ging in die Küche.
Ein paar Stunden später lümmelten wir vor dem Megaflachbildfernseher im Wohnzimmer. Tegan war nach dem dritten Glas Merlot ziemlich hinüber.
Nadia drückte ihr Weinglas an die Brust, als hätte sie Angst, es fallen zu lassen. »Du bist die Erste, die mir gratuliert hat, weil die URI mich nimmt. Tegan war nicht sonderlich beeindruckt, weil sie auf die Wellesley geht, und Mom …«
Ich stellte meine Limo auf einen Untersetzer und machte den Ton des Fernsehers aus. »Ich vermute mal, sie war nicht glücklich?«
Es gab nicht viel, was Mrs. Vetter glücklich machte – vor allem seit ich mit Nadia befreundet war. Ich hatte sie nicht gekannt, bevor Nadias Vater starb, also versuchte ich, ihr nicht unrecht zu tun.
Nadia schüttelte den Kopf und nippte an ihrem Wein. »Sie will, dass ich mit Teg auf die Wellesley gehe.« Sie lächelte traurig. »Ich würde lieber hier bleiben. Die URI war gut genug für meinen Dad …«
Ich stand auf, trat ans Fenster, schob die schweren Vorhänge ein wenig zurück und schaute hinaus auf die Narragansett Bay. Nadia war es gewesen, die das Thema College aufgebracht hatte, und ich hatte mir ausgemalt, dass ich das alles mit ihr durchziehen würde.
Als ich mich wieder umdrehte, sah sie mich mit ihrem Gedankenleserblick an. »Du würdest mir fehlen, Lela. Aber keine Sorge. Wir gehen zusammen aufs College – und zwar hier. Ich brauche dich, damit ich nicht die Nerven verliere.«
Das hatte sie schon öfter mal zu mir gesagt. Dass ich sie davon abhalte durchzudrehen. »Du traust mir viel zu viel zu«, murmelte ich.
»Und du traust dir viel zu wenig zu. Komm schon. Ich brauche dich. Du musst mich jeden Morgen mit einem Tritt in den Hintern aus dem Bett holen, damit ich nicht zu spät zur Vorlesung komme – dafür bist du doch berühmt.« Sie faltete die Hände unterm Kinn und klimperte mit den Wimpern. »Teilen wir ein Zimmer?«
»Ein Zimmer teilen? Hast du schon mal mein Zimmer gesehen?« Ich lachte, wollte mir nicht zu große Hoffnungen machen. Schließlich hatte ich noch nicht mal eine Zusage.
Sie zuckte die Achseln. »Es ist ein bisschen unordentlich und du hast eine seltsame Schwäche für Fotografie. Aber damit kann ich leben.«
»Hey, die Kamera hast du mir doch selbst geschenkt.«
Sie lachte. »Das hab ich schon mehr als einmal bereut. Ich habe ein Monster geschaffen.«
Mein Leben lang hatte ich versucht zu vergessen, was mir passiert war. Seit ich Nadia kannte, hatte ich Augenblicke, an die ich mich erinnern wollte, die mir eine Menge bedeuteten. Als sie mir diese Kamera zum siebzehnten Geburtstag geschenkt hatte, war das, als hätte sie mir die Erlaubnis gegeben, das alles einzufangen, als hätte sie gesagt, dass wir echt befreundet sind.
»An deinem Geburtstag hast du dich nicht beklagt.«
»Nein. Das Foto, das du mir geschenkt hast, ist schön.« Ich hatte mich richtig ins Zeug gelegt für die perfekte Aufnahme von ihrer Lieblingsstelle an der Küste von Newport; stundenlang hatte ich auf den Felsen gehockt, bis die Sonne genau an der richtigen Stelle angelangt war.
Nadia grinste als wüsste sie, was ich dachte. »Ich hab einen neuen Rahmen besorgt – wir können es in unser Zimmer im Wohnheim hängen!« Impulsiv umarmte sie mich und ich zuckte zurück, ein Reflex, den ich nicht unterdrücken konnte. Nach einem Jahr Freundschaft flippte ich immer noch aus, wenn sie mich anfasste – zu viele Leute hatten mich ohne Erlaubnis angegrabscht und jetzt war dieses instinktive Zurückschrecken ein Teil von mir, ganz gleich wie sehr ich mir wünschte, ich könnte es loswerden. Sie ließ die Arme sinken und lächelte reumütig, was es noch schlimmer machte. Sie hatte ja nichts falsch gemacht. Dass ich kaputt war, lag nicht an ihr.
Ein leises Klappern riss mich aus dem Schlaf – eine Erlösung, weil ich schon wieder einen Albtraum hatte. Nach dem, was mir Rick, mein ehemaliger Pflegevater, angetan hatte, hätte man vermuten können, dass er in meinen Träumen herumspukte. Immerhin hatte er etwas damit zu tun – denn er hatte mich wiederbelebt in der Nacht, als ich mich umbringen wollte. In den Augenblicken, bevor er mich zurückholte, war ich überzeugt, dass ich vor den Toren der Hölle stand und gleich aufgesogen würde. Leider brachte ich, als ich wieder zu Bewusstsein kam, ein Stück Hölle mit zurück. Und davon träumte ich. Jede Nacht. Eine dunkle, von Mauern umgebene Stadt. Ich irre umher. Ausweglos. Eine Stimme, die mir zuflüstert: Du bist perfekt. Komm zurück.
Bleib.
Schaudernd setzte ich mich auf, schüttelte den Traum ab, lauschte angestrengt. Tegans leises Schnarchen kam von der Couch an der gegenüberliegenden Wand. Und Nadia lag nicht in ihrem Bett.
Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch stand ich auf, tapste durchs Zimmer, sah den gelben Lichtstreifen unter Nadias Badezimmertür. Ein leises Wimmern. Ich biss die Zähne zusammen und klopfte. »Nadia?«
»Ich komm gleich raus.«
Meine Hand umschloss den Türknauf. »Ich komm rein.«
Sie saß auf dem Fußboden und wischte sich mit den Fingern eine Träne aus dem Gesicht, als ich eintrat und die Tür hinter mir zumachte. Das Pillenfläschchen hielt sie noch in der Hand.
Ich setzte mich vor ihr auf die Fliesen. »Was ist los?«
Sie schloss die Augen. »Ich konnte nicht schlafen.«
Ich nahm ihr das kleine braune Pillenfläschchen aus den schlaffen Fingern. Das Etikett war abgekratzt. Ich drückte auf den Deckel, drehte und schaute hinein. Kleine grüne Pillen, auf ihren runden Gesichtern war OC aufgedruckt. Gottverdammt. »Du hast mir gesagt, dass du mit dem Zeug fertig bist.« Das hatte sie mir sogar schon ein paar Mal versichert. Und jedes Mal hatte ich gehofft, dass es stimmte.
Ihr Lächeln war gespenstisch. »War ich auch. Und werde ich wieder sein. Nur in letzter Zeit war es so stressig.«
»Das ist mir klar. Aber die Dinger da machen dich nur blöd im Kopf und müde.« Sie war nie sie selbst, wenn sie auf dem Zeug war, und das machte mich stocksauer. Ohne Pillen war sie meine beste Freundin, die Freundin, die sich durch meine Abwehr durchgekämpft, zu der ich Vertrauen gefasst hatte, die mich glauben ließ, dass alles besser würde. Und wenn sie drauf war, war sie … weg.
Sie schniefte. »Das ist bloß eine Flucht, Lela. Hast du nie das Gefühl, dass du abhauen musst?«
Ich lachte freudlos. »Schon. Einmal hab ich’s versucht. Es wird stark überschätzt.«
»Manchmal bin ich so müde. Dann will ich einfach nur schlafen.« Sie zog die Knie an die Brust und warf mir einen scheuen Blick zu. »Und manchmal will ich nicht mehr aufwachen.«
Kalter Schweiß kribbelte auf meinen Handflächen und auf meinem Nacken, als ich mich darauf konzentrierte, ruhig und langsam zu sprechen. »Du weißt nicht, was du da redest. Ernsthaft.«
Sie runzelte die Stirn. Ich kniff die Augen zu und zwang mich, die Worte auszusprechen. »Weißt du, dass ich vor ein paar Jahren einen Selbstmordversuch gemacht habe?«
»Was?«
»Ja. Es war … eine echt harte Zeit. Und ich wollte abhauen. Also hab ich mir einen Gürtel um den Hals gelegt und zugezogen.«
Ich hörte, wie sie näher rückte, dann schloss sich ihre Hand um mein Handgelenk. »Mein Gott, Lela. Was ist passiert?«
Ich schlug die Augen auf und starrte auf ihre blassen Finger auf meiner Haut, warm und feucht. Sie ließ mich los. »Erst dachte ich wirklich, ich hätte es geschafft. Es fühlte sich super an. Als würde ich fliegen.« Ich sah sie an. »Das lag am Sauerstoffmangel im Gehirn.«
Sie zuckte zusammen.
»Aber dann fiel ich. Und bin ganz unten angekommen. Harte Landung.« Ich presste die Lippen zusammen, als sich die Eindrücke in meinem Kopf überschlugen und mich zurückholten zu dem Augenblick, in dem ich starb. Meine Finger ertasteten Kopfsteinpflaster, Steinchen bohrten sich unter meine Fingernägel. Ich hob den Kopf und sah das Tor. Seine Flügel schwangen weit auf wie die Zangen eines Rieseninsekts, seine Türme ragten in einen schwarz-roten Himmel, seine Angeln kreischten, kreischten, kreischten.
Jenseits des Tors sah ich eine Stadt in Finsternis gehüllt.
Mein neues Heim.
Sie griff nach mir, ein Haken, der sich in meinen Magen bohrte. Meine nackten Füße bewegten sich automatisch, patschten auf rauem Stein. Schultern rempelten mich an. Jemand stolperte und stieß mich an, packte mich am Nachthemd. Ich riss mich los. Ich war mitten in einer unendlichen, gesichtslosen Menge und wir alle taumelten wie Zombies auf das Tor zu.
Ich zwinkerte. Nadia sah mich mit großen Augen an. »Du bist ganz unten … Wie meinst du das?«, flüsterte sie.
»Keine Ahnung. Vielleicht fühlt sich das Sterben einfach so an. Als würde man ganz unten ankommen.« Ich sprach langsam. Überlegte mir jedes Wort. Ich wollte es ihr so gern erklären. Wenn du dich umbringst, landest du bei den Monstern. Aber inzwischen wusste ich, dass Leute, die ernsthaft solche Geschichten erzählten, von den Männern mit den weißen Kitteln abgeholt wurden. Manchmal fragte ich mich, ob ich in der Psychiatrie nicht ganz gut aufgehoben wäre. Ich schauderte, als sich die Bilder in meinem Kopf überschlugen.
Vor dem Tor standen Kolosse, wie Menschen und doch keine Menschen. Sie trugen Rüstungen wie Ritter im Mittelalter und Krummsäbel am Waffengurt. Sie schubsten die Leute durch das offene Tor, johlten und lachten, und ihre Augen glühten wie Laternen.
»Willkommen am Selbstmordtor!«, grölte einer von ihnen immer wieder, bis sein Singsang in meinem Kopf hallte wie ein Pulsschlag.
Mit einem Ruck stand ich auf und nahm einen Becher vom Waschbeckenrand. Mit zitternder Hand drehte ich den Wasserhahn auf, immer noch gefangen in meinen Erinnerungen.
Ganz gleich in welche Richtung ich mich drehte, das Tor war immer vor mir, sog mich ein, hungerte nach mir.
Ricks Stimme schloss sich um mich wie ein Netz. »Wach auf, du kleine Schlampe.«
Mein Kopf zuckte zur Seite, als er mich schlug. Unter der Wange spürte ich die schmuddeligen Noppen meines gelben Bettvorlegers. Der Gürtel lag nicht mehr um meinen Hals. Mein Pflegevater, der sich über mich beugte, hielt ihn in seiner Pranke und ließ ihn vor meinem Gesicht baumeln.
»Was zum Teufel wolltest du damit erreichen? Die Aufmerksamkeit auf dich lenken? Kriegst du etwa nicht genug von mir?« Er kniff mich in die Hüfte und legte sich auf mich, zerquetschte mich, während er mir seinen nach Bier stinkenden Atem ins Gesicht blies. Ich war so benommen und orientierungslos, dass ich diesmal nicht einmal versuchte wegzukommen.
Ich griff mir an den Hals und zuckte zusammen, als ich die rohen, geschwollenen Striemen berührte. Dann sah ich Rick ins Gesicht. Es war wut- und angstverzerrt, aber in seinen Augen flackerte auch eine Erregung, bei der mir schlecht wurde. Ich wusste, was jetzt kam.
Mein Schädel brummte und die Stimmen der monströsen Wächter hallten in meinem Kopf wieder, als Rick mich auf mein Bett warf. Seine plumpen Finger packten mich am Nacken, rissen an meinen verschwitzten, wirren Haaren, drückten mein Gesicht auf das Laken. »Ich lasse nicht zu, dass dir was passiert, Baby.« Seine Stimme war jetzt sanfter und davor graute mir.
Als er mir mit heiserer Stimme versicherte, welches Glück ich gehabt hätte, dass er mich rechtzeitig gefunden hatte, dass er nicht zulassen würde, dass ich in der Psychiatrie oder auf der Straße landete, dass er nichts verraten würde, wenn ich den Mund hielte, dass mir sowieso niemand glauben würde, dass ich es noch nie so gut gehabt hätte … starrte ich an die Wand. Aber alles, was ich sah, war das Selbstmordtor, das sich für mich auftat, mich heimrief. Das tat mir mehr weh als er. Weil ich jetzt wusste, dass der Tod kein Ausweg war.
Ich blinzelte, als ich wieder ins Jetzt zurückkehrte. Der Wasserhahn war noch offen, der Becher in meiner Hand lief über. »Das kannst du mir glauben«, sagte ich zu Nadia, als ich das Wasser abdrehte. »Es gibt keinen besseren, glücklichen Ort, wo du hingehen kannst. Flucht löst keine Probleme. Und als Zombie herumzulaufen auch nicht. Schau, dass du hier mit deinem Mist klarkommst, Nadia. Und zwar ohne Drogen.«
»Du hast gut reden, du trinkst nichts, du schluckst nichts. Du bist stark. Und ich kann mich nicht mal gegen meine eigene Mutter wehren.« Ihre Stimme klang kratzig, als würde sie die Tränen unterdrücken.
Ich sah zu ihr hinunter. Ich war nicht stark. Der einzige Grund, warum ich keine Drogen nahm, war meine Heidenangst, die Kontrolle zu verlieren, mich nicht mehr wehren zu können. Und in meinem Kopf ging es schon unheimlich genug zu. Wenn ich stark wäre, dann wäre es mir gelungen, über das alles hinwegzukommen. Zwei Jahre war es her, seit ich versucht hatte zu sterben. Mein Leben war jetzt so viel besser. Aber Nacht für Nacht wollte mich die dunkle Stadt schlucken, als hätte sie mich nicht ganz losgelassen, als ich ins Reich der Lebenden zurückkehrte. Dann wieder tauchte dieser grauenhafte Ort in meiner Nähe auf, als würde er darauf warten, dass ich wiederkomme. Und diese finstere, tiefe Stimme wisperte mir zu, drängte mich zu bleiben. Perfekt, sagte das unsichtbare Ungeheuer dann immer und sein ekelhafter heißer Atem streifte meinen Nacken. Du bist perfekt. Jedesmal schnappte ich beim Aufwachen nach Luft oder rieb mir die Augen, bis die echte Welt wieder da war, und fragte mich, warum es mich nicht in Ruhe ließ. Jetzt hatte ich doch etwas, wofür ich leben wollte. Ich würde nie dorthin zurückgehen.
Ich stellte den Becher ab und lehnte mich gegen das Waschbecken. »Du bist stärker, als du denkst. Wenn du das nicht wärst, würdest du es nicht aushalten, mit mir befreundet zu sein.« Ich versuchte es mit Humor, um die Erinnerungen zu vertreiben, die in meinem Kopf lärmten.
Sie lächelte und verdrehte die Augen. »Du machst es einem nicht leicht.« Ihr scherzhafter Ton beruhigte mein pochendes Herz. Sie klang fast wie sie selbst.
Das gab mir Mut. Ich hob das Pillenfläschchen vom Boden auf und gab es ihr. »Das werde ich auch nie. Kipp sie ins Klo.«
Sie nahm das Fläschchen und musterte es genau. Mir war klar, dass sie gern widersprochen hätte, aber dann sah sie zu mir hoch und nickte. Wie in Zeitlupe schüttete sie die Pillen in die Toilette und spülte – offenbar hatte sie schon so viel geschluckt, dass ihr schummrig war. Sie blinzelte, als die grünen Tabletten herumwirbelten und verschwanden. Erleichtert atmete ich auf. »Wenn du dich wieder so fühlst, redest du dann mit mir? Bevor du zu einem Dealer rennst?«
Ihre Wangen liefen rot an. »Klar. Mir geht’s trotzdem gut.« Ihre hellblauen Augen fanden meine. »Sag es niemandem, okay? Es ist nur der Stress.« Als sie meinen unsicheren Blick sah, lachte sie. »Komm schon, Lela. Ein alter Kitschfilm reicht mir, um dem Alltag zu entfliehen. Die Schnulze ruft.«
Ich schüttelte den Kopf und kicherte, meine Laune besserte sich sprunghaft, als wäre eine schwere Last von meinen Schultern genommen. »Was tut man nicht alles für die Freundschaft.«