Fifteen

Eines meiner größten Probleme ist, dass ich über keine vernünftige Methode zum Stressabbau verfüge außer Tanzen. Ich konnte ja wohl schlecht am Waterloo Pier, mitten in London, eine Samba hinlegen. Irgendeine Art von Bewegung brauchte ich allerdings; darum lehnte ich Peters Angebot ab, mich in der Limousine heimzubringen, und machte mich zu Fuß auf den Weg.

Die meisten Frauen können Stress durch exzessives Einkaufen kompensieren. Sie kaufen Schuhe, die sie nie tragen werden, Hosen, die ihnen zu eng sind, Blusen mit Mustern, für die sich sogar ein Tischtuch schämen würde, überteuerten Modeschmuck und Handtaschen, in die nicht mal ein Lippenstift passt. Danach fühlen sie sich wie neugeboren.

Ich muss an einer hormonellen Fehlfunktion leiden, denn bei mir wirkt das nicht. Sollte es einmal Kurse für min derbemittelte Kreaturen wie mich geben, würde ich mich sofort einschreiben, von ‘Kaufrausch ohne Reue’ bis ‘Schnäppchenjagd mit allen Schikanen’.

Sogar die in allen Lebenslagen so vernünftige Sabine ist in der Lage, sich durch sinnloses Einkaufen zu entspannen. Wenn sie beruflich zu sehr unter Druck steht, wirft sie ihren kompletten Kosmetikbestand in den Mülleimer, behauptet, ihre Haut brauche eine modernere Pflege und kauft jeden einzelnen Artikel einer Kosmetikserie, die ihr noch straffere, jugendlichere und feinporigere Haut verspricht. Wenn sie die Töpfchen und Tiegelchen auspackt, strahlt sie so selig, dass ihre Haut in Sekundenschnelle straff und jugendlich aussieht. Es wirkt also.

Ich kann meine Kosmetikserie leider nicht wechseln, weil ich gar keine habe. Wenn mir eine Creme oder die Reinigungsmilch ausgeht, kaufe ich einfach, was mich von der Verpackung her anspricht. Ich habe ein Mischmasch aus allem, was der Kosmetikmarkt hergibt. Angeblich ist überall sowieso mehr oder weniger die gleiche Pampe drin.

Während ich mich durch die Touristenströme nach Bloomsbury durchschlängelte, kam mir der Gedanke, dass andere Frauen sich viel mehr Gedanken bei der Auswahlihrer Dessous und ihrer Antifaltencreme machten als bei der Wahl ihres Partners. Bei mir war es umgekehrt. Ich würdejetzt stunden- und tagelang darüber nachgrübeln, warum ich Peter nicht sofort um den Hals gefallen war. Er hatte mirewige Treue geschworen, mir sein Leben zu Füßen gelegtund dabei zum Anbeißen gut ausgesehen. Warum zögerteich? War es nur wegen Cathy? Oder dachte ich, da käme noch etwas Besseres nach? Traute ich mir möglicherweise selbst nicht mehr? Immerhin hatte ich ernsthaft mit dem Gedanken gespielt, mit Alan eine Affäre anzufangen, nur weil er so wunderbare Augen hatte. Ich sollte mich schämen. Ich hatte Peter überhaupt nicht verdient.

Mein Gedankenkarussell trug mich bis zur Euston Station, wo ich in die U-Bahn nach Camden stieg. Mir bangte vor der Konfrontation mit Doreen und Jill. Am besten sagte ich ihnen gar nicht, dass Peter nach London zog, sonst würden sie mir die Hölle heiß machen.

Zum Glück war nur Jill daheim. Mit ihrer Schmachtromantik kam ich besser zurecht als mit Doreens plötzlichem Sinneswandel. Jill packte gerade Jogurts und Käseecken in den Kühlschrank. “I went to the supermarket”, erklärte sie unnötigerweise. “I had to keep myself busy somehow because I was so excited after Peter’s call. A lunch cruise – that’s terribly romantic. And then there was the marvellous surprise he had for you. You must be over the moon that he’s moving to London.”

Sie sah mich so von Glück beseelt an, dass ich es nicht übers Herz brachte, sie zu enttäuschen. “Yes, I’m happier than happy”, schwindelte ich, während ich mich darüber ärgerte, dass Peter Jill bereits über seine Umzugspläne informiert hatte.

“I’m sure he’ll never cheat on you again”, plapperte Jill weiter. “Doreen explained it to me. He didn’t mean to be unfaithful at all. It was just a case of sexual immaturity.”

Mit ein bisschen gutem Willen kann man sich alles schönreden. Für mich blieb es schlichtweg Untreue.

Am nächsten Morgen gab Jerome mir einen Schlüssel für sein Haus, damit ich mich selbst hineinlassen konnte, falls er mal unterwegs war. “I do interpreting work sometimes”, erklärteer. Er wirkte sehr sachlich und reserviert. Ich war sicher, dass er gern gewusst hätte, wie mein Date mit Peter verlaufen war, aber zu höflich war, um direkt danach zu fragen.

“I’m not moving to Alaska”, verkündete ich, woraufhin er sofort sein Lächeln anknipste.

“I must admit I’m glad. I was really afraid I might lose you.”

Das tat gut. Nach der langen Durststrecke bei TruTrans war es eine Wohltat, dass endlich jemand meine Arbeit zu schätzen wusste. “Peter told me he’s moving to London.”

Jeromes Lächeln erlosch.

“No, don’t worry”, sagte ich schnell. “Even though he earns a lot of money, I won’t leave my job. I love working for you. I bet I’ll love it even more when I can finally start proof-reading the medical thriller.”

“Good.” Es klang aber nicht überzeugend. “So you forgave him.”

Ah, daher wehte der Wind. Jerome machte sich Sorgen. Er durchschaute meine komplexe Situation viel besser als Doreen, da konnte sie eine noch so versierte Psychologin sein. Sie hatte mich gestern Abend zugetextet, bis ich endlich soweit war, Peter noch einmal mein Vertrauen zu schenken. Aber ich wollte trotzdem noch ein paar Tage warten. Meine Gefühle mussten sich erst setzen wie der Schlamm in einem aufgewühlten Teich, damit ich klarer sah.

Ich erklärte Jerome: “I forgave Peter, but I’m not entirely sure about my feelings for him.”

“I see.” Jerome fuhr mit den Fingern durch sein glänzendes, schwarzes Haar. “At the risk of making your situation even more complicated, I think I should tell you that – ”

Das Telefon klingelte. Jerome brach ab und schüttelte den Kopf. “Actually, maybe I’d better not.” Dann hob er ab.

Ich hätte natürlich nur zu gern gewusst, was er mir hatte sagen wollen, aber ich trollte mich in den Wintergarten und machte mich an die Arbeit. Dafür bezahlte er mich schließlich.

Eine Stunde später hörte ich ihn Gitarre spielen, eine wehmü­tige Melodie, die mir schwer aufs Gemüt schlug. Ob er an seine Ex-Frau dachte? Es war ganz schön selbstsüchtig von mir, ihn ständig mit meinen Problemen zu belästigen, ohne mich je danach zu erkundigen, was ihn beschäftigte.

Ich wollte das während unserer Kaffeepause nachholen, doch er ließ mich gar nicht zu Wort kommen, sondern zeigte mir einen Stapel Briefe, den ich für ihn beantworten sollte, erklärte mir, welche Vorlagen in seinem PC für welche Art Schriftverkehr gedacht waren, und dergleichen Verwaltungskram mehr.

Dass er mir Kochen beibringen wollte, hatte er völlig vergessen, denn als es Mittag wurde, hockte er über seinem Text und beachtete mich kaum.

“See you tomorrow”, sagte ich, wobei ich den eingeschnappten Unterton nicht verbergen konnte, und fuhr enttäuscht nach Hause.

Doreen und Jill hockten schlecht gelaunt herum. Jill hatte eine private, Doreen eine berufliche Krise.

“My diet didn’t work”, beschwerte sich Jill. “I put on a pound.”

“My thesis is nothing but a lotof stupid theories that don’t make any sense”, jammerte Doreen. “Ever since I met Peter I’m not convinced any more that all men are idiots.”

So, das reichte. Ich hatte genug von schlechter Laune, ob es nun meine war, die von Jerome oder die meiner Mitbewohnerinnen.

Ich klatschte in die Hände und rief wie ein Animateur im Cluburlaub: “Ladies, we are going to stop thinking about men, diets and things like that. Life is too short to waste it on problems. Let’s go out and have some fun.”

Zu meiner Überraschung gingen sie sofort darauf ein. Eine halbe Stunde später hatten wir uns schick gemacht und zogen los, ohne Plan und Ziel. Wir folgten einfach dem Sonnenschein, hockten uns in ein Straßencafé und teilten uns einen Rieseneisbecher. Wir gingen in eine vornehme Boutique und taten so, als würden uns die seltsam geschnittenen Kostüme tatsächlich gefallen, probierten alles an und amüsierten uns wie Kinder, die Verkleiden spielen. Wir fütterten Eichhörnchen im Regent’s Park, fotografierten uns gegenseitig mit unseren Handys beim Grimassenschneiden, sangen laut und falsch ‘Girls Just Wanna Have Fun’ und lachten über alles und nichts.

Irgendwann war die Luft raus. Um wieder neuen Schwung in unseren Frauentag zu bringen, schlug ich vor, ins Salsa! zu gehen.

“I can’t dance”, sagte Jill.

Doreen hatte ein Taxi angehalten und wir quetschten uns auf den Rücksitz. Ich sagte dem Fahrer, wo wir hin wollten. “Alan can’t dance either, but at least he tried”, ermunterte ich Jill.

Doch sie wirkte nicht sonderlich überzeugt. “Of course he can dance. He did a fantastic tango in Housewife Alert.”

“That’s impossible. He made a complete mess of the rumba.”

Einer meiner schlimmsten Charakterfehler ist, dass ich Dinge nicht auf sich beruhen lassen kann. Das wäre jetzt ein guter Moment gewesen, um sich zu sagen: Schwamm drüber, Alan habe ich sowieso schon abgehakt. Stattdessen entflammte mein bereits fast erloschenes Interesse an ihm wieder. Wieso hatte er den ungeschickten Tänzer gemimt? Wie tickte dieser Typ? Wenn Alan mich rumkriegen wollte, hätte er doch nur mit mir zu tanzen brauchen. Das war die älteste Verführungsmasche überhaupt. Wozu hat er es sich unnötig schwer gemacht? Es war so fürchterlich unlogisch.

Gerade weil ich selbst kein besonders logisch denkender und handelnder Mensch bin, erwarte ich von anderen, dass sie vernünftig sind, und dass ihr Verhalten jederzeit mit einer Kausalkette erklärbar ist. Ich wusste genau, das würde mich jetzt so lange beschäftigen, bis ich Alan auf die Schliche gekommen war.

Doreen und Jill waren vom Salsa! begeistert und stürzten sich sofort in den Samba-Kurs für Anfänger.

Ich brauchte erst mal eine Grundlage und bestellte mir eine Tortilla-Pizza mit Hühnchen und Käse.

Die Musik kam aus dem CD-Player, keine Live-Band weit und breit. Schade, ich hätte Doreen und Jill gegenüber gern damit angegeben, dass der Gitarrist mein Chef war.

Doreen hatte schnell einen Tanzpartner gefunden, doch Jill stand etwas ratlos am Rand der Tanzfläche. Schließlich nahm der Tanzlehrer selbst sich ihrer an, ein drahtiger Kerl mit langen Locken und glutvollen Augen. Als ich ein paar Minuten später von meiner Tortilla aufsah, wirbelte er sie bereits so schwungvoll herum, dass ihr Zopf ihm an die Nase schlug. Er lachte, drehte sie noch schneller und beugte im entscheidenden Moment jeweils den Oberkörper nach hinten, um ihrem fliegenden Zopf auszuweichen.

Ich sah den beiden eine Weile zu, wie sie sich im Rhythmus der Musik aufeinander zu und voneinander weg bewegten, wie Jill ihre Hüften schwang, als hätte sie das Wort Problemzone für immer aus ihren Gedanken verbannt.

Nachdem der Kurs zu Ende war, brachte Jill den Tanzlehrer zu mir an den Tisch. “Mandy, this is Javier”, sagte sie, ohne den Blick von ihm abzuwenden. Javier nickte mir kurz zu, dann entführte er Jill schon wieder auf die Tanzfläche. Doreen, völlig außer Puste, setzte sich neben mich, verschlang den Rest der inzwischen kalten Tortilla und trank meine Caipirinha aus.

“Dancing is one hell of a workout. I’m going to freshen up a little.” Sie nahm ihre Handtasche und verschwand in Richtung Toiletten. Auf dem Podium baute gerade die Live-Band des heutigen Abends ihre Instrumente auf. Es war leider nicht Montezuma.

“Hi, Mandy”, hörte ich eine sanfte Stimme nah an meinem Ohr, um die Musik zu übertönen. Ich drehte mich um, gerade als Jerome sich wieder aufrichtete. Noch bevor ich darüber nachgedacht hatte, wie man seinen Chef standesgemäß begrüßt, wenn man ihm in freier Wildbahn begegnet, war ich ihm schon um den Hals gefallen, so sehr freute ich mich, ihn zu sehen.

“Are you alone?”, fragte er.

“No, one of my friends is dancing. The other one went to freshen up.”

“You mean you went out with Peter and Alan together?” Er hob die Augenbrauen. “You like to complicate your life, don’t you?”

Ich sah ihn erst ratlos an, und als ich es endlich ver stand, prustete ich laut heraus vor Lachen. Dann klopfte ich einladend auf den Sitz neben mir: “Come and sit down.”