Six
Sabine rief mich am nächsten Tag von Deutschland aus auf meinem Handy an. Es hatte ihr keine Ruhe gelassen, dass ich so ganz ohne ihre Hilfe, mutterseelenallein, hier in London ein neues Leben aufbauen wollte.
“Stell dir vor”, sagte sie. “Cathy ist nicht mit Peter in Alaska. Sie hat ihn sitzen lassen. Geschieht ihm recht.”
“Woher weißt du das?”
“Ich bin ihr in der Stadt begegnet, als sie ihren gefütterten roten Anorak umtauschen ging.”
“Ha!” Das hatte Peter nun davon, dass er mich so schmählich betrogen hatte. Ein Teil von mir wünschte sich nach Alaska, aber das sagte ich Sabine natürlich nicht.
“Hast du schon eine Anstellung gefunden?”
“Nein, aber eine wunderbare WG.” Ich gab Sabine die Festnetznummer, damit sie sich nicht arm telefonierte.
Zwei Stunden später, als ich bei einer Tasse Tee und einem Ingwerkeks, den ich in abhärtenden Bröselchen aß, über Stellenangeboten brütete, rief sie schon wieder an.
“Ich hab einen Job für dich in Aussicht. Schreib mit!”
Nachdem ich ihr tausendfach gedankt und mich dabei nur ein ganz klein wenig aufgeregt hatte, dass sie mich auch aus der Ferne bemutterte, ging ich ins Wohnzimmer. Doreen zog dort gerade alle psychologischen Register, weil Jill auf dem besten Weg war, sich wegen des morgigen Theaterbesuchs in die ultimative Panikattacke hineinzusteigern.
“I’ve got a →job interview tomorrow morning”, verkündete ich stolz. “Jerome Constantine is a →literary translator. He translates novels from German into English. So far he’s always worked →alone, but now he needs an →assistant.” Ich war mir sicher, dass Jerome Constantine keine Ahnung gehabt hatte, dass er eine Assistentin brauchte, bis Sabine es ihm eingeredet hatte. “Isn’t that great?”
“Fantastic.” Jill klappte ihren Laptop auf. “I’m going to write a new reference for you.”
Doreen teilte meine Begeisterung nicht. “Assistant is just another word for →slave. You’ll have to do all the →boring jobs, like making coffee, →sharpening his pencils and answering phone calls for him.”
“We’ll see.”
Ich ging auf mein Zimmer und überlegte, wie ich mich für mein Vorstellungsgespräch anziehen sollte. Jugendlich-leger oder konservativ-brav? Ich hätte auch noch sinnlich-gewagt und langweilig-bequem zu bieten gehabt, aber ich entschied mich souverän für sportlich-unauffällig.
Da sich die Sonne am nächsten Morgen mächtig ins Zeug legte, disponierte ich kurzfristig auf sommerlich-leicht umund trug ein rotes Kleid mit Spaghettiträgern. Ich saß im Bus und zupfte an meinen Haaren herum. Löffi hatte zu Hausebleiben müssen, aber er würde mir die Pfoten drücken.
Ältlich, hager und auf kauzige Art intelligent, so stellte ich mir Jerome Constantine vor. Grau meliert, blass, leicht nach vorn gebeugt. Verfärbungen an den Zähnen von Tabak und Tee. Schlecht sitzende Brille, noch schlechter sitzende Hose mit glänzenden Stellen am Po und an den Knien. Hemd mit abgewetzten Manschetten, nervöse Ticks.
Ich las das gefälschte Arbeitszeugnis durch, das Jill endlich aus dem Drucker gefischt hatte, als ich bereits ganz verzweifelt und halb aus der Tür war.
To Live and Translate
At TruTrans, the translation agency Cathy Truman runs with an iron →fist, Amanda Bauer’s claustrophobic job →consisted of translating instruction manuals.
Amanda, a lost soul in this →hostile →environment, found ways to →cope with her suffering.
Torn between faith and doubt, she carried on, →delivering one translation after the other, never →giving up, never complaining, →no matter how often she got the hiccups.
With her excellent sense of timing, she left no stone unturned to find the perfect translation, even when faced with →tight deadlines and disturbing situations, such as the →flooding of the agency’s bathroom.
Amanda’s humour adds inner momentum to her translations. Her emotional honesty and freshness made her a great →asset to the agency. She’→ll be deeply missed.
Don’t hesitate to add her to your →staff.
Jill Connolly
Ich zog die Nase kraus. Jill hatte einfach ihre völlig überzogene Theaterkritik umformuliert. Wenn ich das Mr Constantine vorlegte, würde er mich für verrückt halten. Oder irrte ich mich? Die Briten haben nun mal eine andere Art, sich auszudrücken. Wer zu Nieselregen “Nice day today” sagt, findet es vielleicht auch ganz normal, wenn eine Übersetzerin “torn between faith and doubt” tapfer ihre Bedienungsanleitungen übersetzt, trotz des “hostile environment”, in dem sie arbeitet.
Je länger ich darüber nachdachte, desto besser fühlte ich mich von dem Text portraitiert. Mein Leben taugte zum Theaterstück. Mandy in a →Mansion.
Mr Constantine wohnte in Hampstead. Der Zettel mit der Adresse und mein Finger auf dem Stadtplan brachten mich zu einem kleinen, hübsch renovierten Einfamilienhaus ganz in der Nähe von Hampstead Heath, dem riesigen Park mit wuchernder Heidelandschaft, dem dieser Teil Londons seinen Namen und seinen idyllischen, fast schon ländlichen Charakter verdankt.
Am Gartenzaun des Nachbargrundstücks war ein Zettel mit dem Foto eines großen, braunen Mischlingshundes angebracht. Darunter stand: “Missing: Ken, our friendly dog. Have you seen him?” Dazu eine Handynummer.
Ich drückte Kens Besitzern die Daumen, dass sie ihren Hund wiederfanden. Dann ging ich durch den Vorgarten, der auf liebevolle Art verwildert aussah (sozusagen unauffällig gepflegt, wie so manche wilde Mähne, die in Wirklichkeit kunstvoll zurechtfrisiert ist), zum Eingang und klingelte.
Als ein junger Mann in Jeans und Polohemd öffnete, zog ich reflexartig den Bauch ein. Er war Anfang dreißig, mittelgroß, hatte sanfte, braune Augen und glänzend schwarze Haare, die aussahen, als wären sie erst kürzlich akkurat geschnitten worden. Das musste Mr Constantine Junior sein. “I’ve come to see your father”, sagte ich.
Er sah mich wohlwollend von oben bis unten an. “My father would certainly be delighted to meet you, but I’m afraid he doesn’t live here.”
Ich hielt ihm meinen Zettel vor die Nase. “But I was given this address.”
“So you must be Amanda Bauer. I’m Jerome Constantine. Please come in.”
Verblüfft folgte ich ihm durch einen dunklen Flur in einen Raum, der ein Mix aus Büro und Bibliothek war. Auf einem wuchtigen Schreibtisch lagen aufgeschlagene Wörterbücher. Im rechten Winkel zum Schreibtisch stand ein Computertisch mit einem Flachbildschirm. An zwei Wänden reichten Bücherregale bis zur Decke. Verschiedene Sessel und Beistelltische vervollständigten das Mobiliar. Durch eine zweiflügelige Terrassentür flutete Licht herein.
Mr Constantine öffnete die Flügeltüren. “It’s such a lovely day. Let’s talk outside.”
“Great idea.”
Er hatte bereits alles vorbereitet. Orangensaft und Wasser mit Eiswürfeln darin standen auf einem runden Holztisch, dazu Sandwichs. Was für ein reizender Empfang! Ich setzte mich auf einen dick gepolsterten Gartenstuhl, ließ mir Saft verdünnt mit Wasser einschenken und nahm ein Käsesandwich. Ich war zu aufgeregt gewesen um zu frühstücken, und jetzt hatte ich großen Hunger.
“How do you know Sabine?”, fragte ich.
“She’s a →distant →cousin. I usually only see her at →funerals and →weddings.”
“I’m sure she →talked you into needing an assistant.”
Mr Constantine lachte. “That’s true. Translators usually work alone or at an agency. But I’m actually →buried in work →right now and I could really use some help.”
Ich hatte das Sandwich vertilgt und griff erneut zu. “What kind of help?”
“I need someone to →proof-read my translations, to make sure I didn’t →skip a sentence or get a →meaning wrong. Would you enjoy that? You’d do the →quality control, so to speak.”
“Quality control” klang super. Das hatte bei TruTrans Cathy höchstpersönlich gemacht, mit zwei Linealen, mit denen sie das Original und die Übersetzung zeilenweise durchsah. Und wehe, wenn etwas falsch war, dann spielte sie sich auf, als wäre sie der einzig intelligente Mensch auf der Welt und hätte nur Halbaffen in ihrer Belegschaft.
“Absolutely.”
“Do you have any references?”
Ich hatte gehofft, er würde nicht danach fragen. “Yes, but I don’t want you to read them”, sagte ich ehrlich.
“Why’s that?”
“Because one is →faked and the other one is awful.”
Mr Constantine lachte herzlich. “Now →I’m really dying to see them.”
Ich fügte mich in mein Schicksal und ließ ihn erst mal Jills Text lesen. “That’s the faked one.”
Er schmunzelte, während er las, dann sagte er: “It →sounds more like a theatre review.”
Ich überließ ihm Cathys Machwerk. Diesmal runzelte er die Stirn. Oh je, gleich würde er sagen, dass ich hoffnungslos unterqualifiziert war.
“This letter of reference”, meinte er, während er den Brief zusammenfaltete, “tells me exactly one thing: Cathy Truman didn’t like you.”
Ich nickte. “It was →mutual.”
Mr Constantine schenkte mir Saft nach. “I notice that both letters →mention hiccups. Do you have a medical problem?”
“It’s more a →psychological problem. →Ever since I was little, I’→ve been scared to death that I would get hiccups that’ll never stop. I know it sounds →ridiculous, but →I can’t help it.”
“It’s not ridiculous at all. I →suffer from a very →odd →phobia →as well.”
Sein höfliches, unverkrampftes Benehmen und sein feiner Humor imponierten mir fast so sehr wie sein Einfühlungsvermögen und seine Aufrichtigkeit. Ein Traum von einem Chef.
“May I ask what it is that you’re scared of?”
“Empty rooms. →I can’t stand rooms without any furniture. It feels like I’m →being sucked into them and →eaten alive. When I was looking for a house, I took a small →collapsible chair with me. The man from the →real estate agency had to put it in the middle of each room before I had the →courage to go inside. Both he and I were very →relieved when I finally found this house. I’ll never move house again.” Er sah mich über den Orangensaft hinweg an. “Would you like to be my assistant? I can only offer you a →part-time job, a couple of hours in the mornings. Would that be all right for you?”
“It’s perfect.”
Er schüttelte mir in einer formellen, aber irgendwie auch possierlichen Geste die Hand. “So we have a →deal. I’ll ask a lawyer to prepare a contract. You can start on Monday.”