Ten

Meinen ersten Arbeitstag bei Jerome Constantine begann ich in denkbar schlechter Laune. Vor dem Einschlafen hatte ich mir stundenlang ausgemalt, wie romantisch es hätte wer­den können. Alan Rodnick hatte mich in seine eigene Wohnung mitnehmen wollen! Unzählige Frauen hätten den gesamten Inhalt ihres Kleiderschranks für diese Gelegenheit gegeben.

Und warum machte ich überhaupt so ein Getue wegen seines ständigen Geredes über sich selbst? Irgendwann hätte er schon damit aufgehört, spätestens dann, wenn er seine sämtlichen Theateranekdoten abgehandelt hatte. Und dann wäre ich dran gewesen. Sicher hätte er mitfühlend gelauscht, wenn ich ihm von Peters Untreue erzählt hätte.

Anstatt mich vernachlässigt zu fühlen, hätte ich an seinen Lippen hängen sollen, wie jeder ernstzunehmende Fan es getan hätte.

Doreen hätte mich für solche ketzerischen Gedanken aus der WG geworfen. “An actor is just like any other man”, hätte sie gesagt. “The fact that he’s famous doesn’t give him the right to treat women like dirt.” Solche Reden schwang sie des Öfteren, und ich war dessen schon ein wenig überdrüssig.

Es gab schließlich nicht nur untreue Männer, sondern auch untreue Frauen. Es gab Mistkerle und Mistbienen. Dass Doreen einige schlechte Erfahrungen gemacht hatte, von denen sie die letzten auch noch selbst provoziert hatte, gab ihr nicht das Recht, das männliche Geschlecht zu verdammen und das weibliche zu glorifizieren.

Als Mr Constantine mich bereits lächelnd an der Haustür erwartete, machte sich meine schlechte Laune so schnell davon, dass nur eine Staubwolke und das Wort ‘Wuuuusch’ vor meinem geistigen Auge zurückblieben.

“Hi, Amanda. Please call me Jerome. I’m glad you’re starting to work for me today. I’ve just received a new book to translate, and I can hardly find a moment to proof-read my last translation. But first I’d like to show you around a little.”

Er führte mich durch das Erdgeschoss seines Hauses, zeigte mir das Gäste-WC, die große Wohnküche mit gemüt lichem Essplatz und das Wohnzimmer mit Wintergarten, wo er einen kleinen, kuscheligen Arbeitsplatz für mich eingerichtet hatte, bestehend aus einem gemütlichen Stuhl und einem hellen Schreibtisch mit allem an Schreibmate rial, was ich brauchen würde. “I hope you like it.”

Ich sah mir die wuchernden Pflanzen an, die Aussicht in den Garten und dachte mit Schaudern an den neonbeleuchteten Arbeitsplatz bei TruTrans zurück.

“It’s lovely. Thank you.”

“If you need anything to eat or drink, there’s always plenty in the kitchen. And if you have any questions, don’t hesitate to ask. You’ll find me in the garden. I’m reading the book I’m going to translate.”

Er öffnete eine Schiebetür, die in den Garten führte, setzte sich an den Tisch, an dem er mich beim Bewerbungsgespräch mit Orangensaft und Sandwichs verköstigt hatte, und vertiefte sich in seine Lektüre.

Auf dem Schreibtisch lagen ein Ausdruck seiner Übersetzung und das dazugehörige Buch, das den Titel Vergangene Wege trug. Ich starrte beides eine Weile an und bekam Herzklopfen. Was, wenn ich schlichtweg zu dumm war, um mit etwas Anspruchsvollerem als Bedienungsanleitungen umzugehen? Wenn man Cathy glauben durfte, war ich selbst denen nie wirklich gewachsen gewesen.

‘Ruhig Blut’, dachte ich. ‘Am besten lese ich erst mal einKapitel des Originals, um mich mit dem Stil des Autors ver­traut zu machen. Dann lese ich die Übersetzung des Ka­pitels und merke an, wo mir stilistische Brüche auffallen. Undwenn ich das habe, gehe ich Satz für Satz vor und suche nach Tippfehlern und Wörtern, die Jerome übersehen hat. Er ist ein Profi, da wird es nicht viel zu korrigieren geben.’

Doch dann stolperte ich bereits über den ersten Satz. “Abgefangen in meiner Einsamkeit, eingenebelt von deinem Vertrauen, sank ich in die Zeit zwischen den Tagen, die uns noch blieben bis zum Abschied von der Illusion, wir wären füreinander geschaffen.”

Was war denn das für ein Roman, der mit so einem verqueren Geschwafel begann? Würde das jetzt hunderte von Seiten so weitergehen? Das war ja um ganze Größenordnungen schlimmer als “Achten Sie darauf, die Schutzhülle erst zu entfernen, wenn der Sicherungskontakt nicht mehr mit Feuchtigkeit in Berührung kommen kann”. Das hatte wenigstens irgendwie Sinn ergeben.

Ich las Jeromes Übersetzung, die nicht minder bescheuert war. Nun, den Stil des Autors hatte er getroffen, das musste man ihm lassen. Ich kämpfte mich weiter und war dankbar für jeden kleinen Kommafehler, den ich fand. So erweckte ich wenigstens den Eindruck, etwas von meinem Job zu verstehen, denn der Text selbst erschloss sich mir nicht. Nach einem Kapitel war ich fix und fertig und konnte keine zwei Worte mehr sinnvoll aneinanderreihen. “Kaffee”, ächzte ich. “Durst. Jetzt.”

Ich wankte in die Küche und starrte die Kaffeema schine an, als wäre sie das Steuerelement eines Raumschiffs. Mein küchentechnisches Unvermögen geht so weit, dass ich vor einer gewöhnlichen Kaffeemaschine kapituliere.

“Shall I make coffee?”, kam es von der Tür.

Dankbar lächelte ich Jerome an und beobachtete, wie er all die wundersamen Dinge tat, die man tun muss, um aus gewöhnlichem Wasser und gemahlenen Kaffeebohnen etwas Trinkbares zu zaubern.

“How are you getting on with the text?”

Diese Frage hatte ich befürchtet. Dummerweise neige ich dazu, immer ehrlicher zu sein, als gut für mich ist. Anstatt souverän zu behaupten: “It’s a fascinating story. I’m amazed at how you managed to hit exactly the right note in translation”, gestand ich: “It’s quite a struggle because I don’t understand the whole thing. Even after reading the cover blurb, I’ve no idea what the author is trying to say.”

Das war dann wahrscheinlich das Ende meiner kurzen, ruhmlosen Laufbahn als Assistentin eines literarischen Übersetzers. Und das, nachdem ich seit Jahren davon geträumt hatte, selbst einmal Bücher zu übersetzen.

Jerome grinste überraschenderweise. “I stopped trying to make sense of it after chapter two.”

Ich war baff. “You mean, you didn’t understand it either?”

“No, and it was hardly any work translating that nonsense. I’m really glad I don’t have to proof-read it all again.” Er schenkte Kaffee in zwei große Tassen und stellte Zucker und Sahne auf die Arbeitsplatte.

“You’re a terrific employer”, sagte ich. “A few minutes ago I thought I was stupid and hopeless. Now you’ve made me feel like I’m doing a useful job. Do you always get books as strange as this one?”

Vergangene Wege is definitely the worst book I’ve ever translated.” Er hob seine Tasse wie zu einem Toast. “Cheer up, the next book is a lot better. It’s a medical thriller.”

Bevor ich erneut den Kampf mit dem Text aufnahm, überreichte Jerome mir meinen Arbeitsvertrag. Ich wollte ihn sofort unterschreiben, aber Jerome bat mich, ihn daheim erst einmal in Ruhe durchzulesen. Die Vernunft schien bei ihm in der Familie zu liegen, denn dazu hätte mir Sabine, die seine entfernte Kusine war, auch geraten.

Als ich am frühen Nachmittag heimkam, fand ich drei Nachrichten für mich auf der Kommode im Flur. Ich ging mit den Zetteln ins Wohnzimmer, ließ mich in die weiße Ledercouch sinken und atmete tief durch. Ich war ermattet von der ungewohnten mentalen Anstrengung, aber immerhin satt, weil Jerome mich zum Mittagessen eingeladen hatte. Der Tortellini-Auflauf war sehr lecker, aber so kalorienreich gewesen, dass ich drei Augenbinden hätte tragen müssen, um nicht zu viel davon zu essen.

Die erste Nachricht war noch harmlos.

Hi Mandy,

We’ve both gone out. Jill has to do some research, andI’m at the university – there’s an interesting lecture this afternoon.

Love, Doreen

Die zweite Nachricht war in Jills Handschrift und versetzte mich in Angst und Schrecken.

Peter Conrad called. Wow, he’s got a fantastic voice. He said he finally managed to get your phone number from someone, but he doesn’t have your address. I refused to give it to him because I know you don’t want to see him, but I was very tempted because I’d love to see what a man with such a great voice looks like.

He left the following message:

“Mandy, I miss you like crazy. I know I made a really big mistake and I hope you’ll give me a chance to tell you how sorry I am. I arrive on Wednesday around noon and I’ll be staying at the Hyde Park Hotel in Paddington. I’ll be waiting for your call. I love you more than ever.”

Isn’t he romantic?

Jill

Wenn Jill gesehen hätte, wie sich Peter mit der quiekenden Cathy vergnügt hat, wäre ihr die Romantik gründlich vergangen.

Natürlich würde ich ihn nicht anrufen. Nie und nimmer. Und wenn, dann nur, um ihm zu sagen, dass ich ihn nicht sehen wollte. So viel Willensstärke würde ich doch aufbringen, oder? Jill hatte schon recht, seine Stimme war etwas Besonderes. Ich hatte mich erst in Peters Foto in Love Around the World verliebt, dann in seine Stimme am Telefon und zuletzt in den ganzen verdammten Kerl. Das Ergebnis hatte ich nicht vergessen. So etwas wollte ich nie wieder erleben!

Nein, kein Anruf. Nur so war ich auf der sicheren Seite. Aber dann würde ich Peters wundervolle Stimme nie wieder hören.

Um auf andere Gedanken zu kommen, las ich den dritten Zettel, der mich augenblicklich in die harte Realität zurückholte.

Mandy, it’s your turn to clean the bathroom. I’ve put ev erything you need on the washing machine. Have fun. D.

Das war die zweite Krise in meinem Zusammenleben mit Doreen und Jill. Ich raffte all meinen Mut zusammen und ging nach oben ins Bad. Drei Sorten Putzmittel standen für mich bereit, zwei Lappen, ein Schwamm und ein Eimer.

Ich fand, allzu schmutzig sah das Bad nicht aus. Konnte ich mich irgendwie ums Putzen herummogeln? Ich könnte beispielsweise Jill davon überzeugen, dass ihre Diät noch schneller anschlug, wenn sie auch im Bad eine Augenbinde trug.

Doreen war weitsichtig und trug ihre Brille nur zum Lesen. Das konnte ich schamlos ausnutzen. Ich pflückte ein paar Haare aus dem Waschbecken und schaltete das Licht über dem Spiegelschrank aus. Schon verschwanden die Kalk flecken. Sauberkeit ist eine Frage der richtigen Beleuchtung, genau wie Schönheit. Schauspieler und Models werden so raffiniert ausgeleuchtet, dass man weder ihre Falten noch ihre Pickel sieht. Ein Profifotograf könnte mich mit den richtigen Licht- und Schatteneffekten gertenschlank erscheinen lassen.

Aber ich bin kein Freund von Mogelpackungen, darum trage ich weder Push-up-BHs noch Bauch-weg-Zauber-Mieder. Auch beim Hausputz wollte ich ehrlich sein, auch wenn ich Putzen noch schrecklicher finde als Kochen. Ganz zu schweigen davon, wie doof ich mich dabei anstellte. Als ich noch daheim lebte, hatte meine Mutter immer hinter mir her geputzt, wenn ich fertig war. Das hatte mir nicht gerade Selbstvertrauen eingeflößt. In meiner ersten WG war mir das Putzen dann endgültig vergangen, weil da ein paar schreckliche Dreckspatzen wohnten, die zum Beispiel wochenlang halbvolle Jogurtbecher unter dem Bett horteten. Es hatte mich regelrecht geekelt, dort sauber zu machen. Der Umzug in die klinisch reine WG von Sabine, Hartmut und Jana war eine echte Wohltat gewesen.

Ich sah mir die bereitgestellten Putzmittel an. Eines da von war Allzweckreiniger, aber die beiden anderen sag ten mir nichts. Ich drehte die Flaschen um, doch der Text war so winzig gedruckt, dass man ihn nur mit einer Lupe hätte entziffern können. Was war das für Zeug? Womöglich ätzte ich damit etwas an, wenn ich es falsch verwendete.

Ich wählte Sabines Nummer. Sie hatte englische Verwandte und kannte sich sicher auch mit englischen Putzmitteln aus. Doch in meiner Ex-WG meldete sich nur der Anrufbeantworter.

Nun hatte ich wirklich ein Problem. In London kannte ich niemanden außer Doreen, Jill, Alan und Jerome. Mit mehr Verzweiflung als Mut wählte ich Jeromes Nummer. Ich kannte ihn inzwischen gut genug, um zu wissen, dass er keine hämischen Bemerkungen über meine Unfähigkeit machen würde. Das war einfach nicht sein Stil. Und schließlich hatte er gesagt: “If you have any questions, don’t hesitate to ask.” Das hatte sich zwar nicht auf Hausputz bezogen, aber es stimmte mich zuversichtlich.

“Hi, it’s Mandy”, meldete ich mich. “Listen, I need your help.”

“What’s the problem?”

“I’m →supposed to clean the bathroom, but I’m not sure what to do with Xotan and Supermoop.”

Xotan is a decalcifier, and Supermoop prevents stains”, sagte er so selbstverständlich, als würde er das Zeug täglich benutzen. Ich war fasziniert, denn ich war noch nie einem Mann begegnet, der irgendwelche Putzmittelsorten kannte, schon gar nicht so exotische.

“How exactly do I use them?”

“I’ll give you instructions.” In aller Ruhe und Ausführlichkeit erklärte er mir, was ich zu tun hatte.

Ich dankte ihm überschwänglich, legte auf und machte mich ans Werk. Ich wischte und scheuerte und war überrascht, wie befriedigend diese Beschäftigung war. Nach einer Weile überkam mich ein regelrechter Putzrausch. Ich nahm mir sogar die Wandfliesen und die Oberseiten der Schränke vor, die kein Mensch je zu Gesicht bekommen würde. Zuletzt putzte ich noch die kleine Trittleiter, bevor ich sie im Abstellraum verstaute, und betrachtete hingerissen mein Werk. Das Bad strahlte und blitzte so vollkommen, dass ich versucht war, einen Zettel mit ‘Betreten verboten – Authorized personnel only’ an die Tür zu kleben, um den Anblick für die Nachwelt zu erhalten. Selbst meine Mutter hätte nichts mehr auszusetzen gehabt.

Und das Beste war: Ich hatte die ganze Zeit keinen einzigen Gedanken an Alan und Peter verschwendet.