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Bis zu dem Tag, als Cathy Truman mir zum achtundzwanzigsten Geburtstag ein Geschenk überreichte, das mein Leben völlig aus der Bahn warf, war ich auch ohne Wespentaille eine glückliche, erfüllte Frau.

Nicht, dass meine Lebensplanung in soliden Bahnen verlaufen wäre. Aber ich hatte immerhin einen Job, eine Wohnung und ein abwechslungsreiches Liebesleben. Nach Cathys Geschenk hatte ich plötzlich haufenweise Selbstzweifel und traf eine Fehlentscheidung nach der anderen.

Cathy Truman, eine große, dürre Mittdreißigerin mit strengem Blick und fester Hand, war meine Chefin, und ich hasste sie von Herzen. Sie leitete ihr Übersetzungsbüro nicht, sie regierte es. Außer mir arbeiteten bei TruTrans Munich eine schüchterne Chinesin, mit der ich nie warm wurde, und sechs Männer, die Cathy alle nur nach einem Aspekt ausgesucht hatte: ihrer Unterwürfigkeit.

Meine Arbeit – das Übersetzen von Bedienungsanleitungen – war gnadenlos langweilig. Sätze wie “Drücken Sie den Schalter bis zum Anschlag und warten Sie, bis die rote LED blinkt” verfolgten mich bis in meine Träume.

Einmal hatte ich die achtseitige Bedienungsanleitung für einen Radiowecker mit eingebautem CD-Player und Sendersuchlauf ungelesen in den Aktenvernichter gegeben und die Übersetzung kurz und bündig so formuliert: “Probieren Sie so lange herum, bis Sie alles zum Laufen gekriegt haben. Viel Glück.” Die Hälfte aller Menschen macht das erwiesenermaßen sowieso (Männer lesen bekanntlich keine Bedienungsanleitungen).

Cathy sah das aber nicht ein und regte sich noch mehr auf als in der Woche davor, als ich bei dem verzweifelten Versuch, einen hartnäckigen Schluckauf loszuwerden, die Damen-Toilette unter Wasser gesetzt hatte.

Aber an meinem achtundzwanzigsten Geburtstag schien es, als hätte meine Chefin mir beides verziehen. Warum sonst sollte sie mir ein Geburtstagsgeschenk machen?

Es war der zwanzigste April, zwei Sekunden vor Feierabend. Bei Cathy gab es keine gleitende Arbeitszeit, derlei betrachtete sie als eine Form von Anarchie. Sie rauschte ins Großraumbüro, baute sich vor mir auf, bellte: “Happy birthday, Amanda, and many happy returns” und knallte mir ihr Geschenk auf den Tisch. Es sah ganz harmlos aus: eine Schachtel mit Rosenmuster, DIN-A4-Format, etwa fünfzehn Zentimeter hoch.

Unter ihrem wachsamen Blick hob ich den Deckel ab. Zuoberst lag ein Bogen rosafarbenes Elefantenpapier. Ich erwartete nicht unbedingt ein Gedicht über meine Tugenden – nicht weil ich keine Tugenden hätte, sondern weil Cathy nicht dichten kann. Sie hat sich einmal an einem Zweizeiler versucht, als ihre Schwester Zwillinge bekam. “Two kids are better than one, although I prefer to have none.” Charmant, oder?

Ich las, was sie für mich verzapft hatte.

Dear Mandy,

Congratulations on your 28th birthday. I decided to give you what you need most: good intentions.

Here’s a list of the things you need to change in your life to become a happy, fulfilled woman:

· Stop fiddling around with your hair when you’re nervous. It drives everybody crazy.

· Don’t be so spontaneous. Remember: think first, then act!

· Stop fooling around and find a nice, reliable partner.

· Drink less wine – it’s bad for your waistline.

· Start doing regular workouts – they’re good for your waistline.

Was sollten diese Anspielungen auf meinen Taillenumfang?

Gut, es stimmt schon. Mein Bauch ist das, was Frauenzeitschriften, Modemacher und Schönheitschirurgen als Problemzone bezeichnen. Problemzone, was für ein scheußliches Wort! Das Unwort des Jahrhunderts, wenn es nach mir ginge. Wie kann ein völlig gesunder Körperteil ein Problem sein?

Ich selbst nenne meinen Bauch liebevoll “meine ausgeprägte kulinarische Zone”, denn ich esse leidenschaftlich gern. An die wichtigsten Ereignisse und die schönsten Reisen in meinem Leben erinnere ich mich vor allem mit dem Geschmackssinn, zum Beispiel die knusprigen Schokoriegel aus meiner Schultüte am ersten Schultag; das mit Schinken und Tomaten belegte Pausenbrot an dem denkwürdigen Morgen, als ich zum ersten Mal einen Jungen süß fand; die Spaghetti Bolognese in einem Strandrestaurant an der Adria, als ich unter einem heftigen Sonnenbrand litt; das Blumenkohlcurry, das meine Mutter nach jedem Umzug kochte, um die fremde Umgebung mit einem vertrauten Duft zu erfüllen.

Tatsache ist, wenn ich so göttlich kochen könnte wie meine Mutter, wäre ich breiter als hoch. Nur meiner völligen küchentechnischen Unbedarftheit verdanke ich es, dass ich noch in Größe 38 passe, jedenfalls morgens, wenn ich ganz flach atme und mich weder hinsetze noch bücke.

Nach einer Portion Tiramisu sehe ich aus wie im fünften Monat. Darum werde ich oft auf eine vermeintliche Schwangerschaft angesprochen. Ich kenne davon inzwischen mehr Varianten als es Coverversionen von White Christmas gibt. Hier ein paar Beispiele:

—“Ich wusste gar nicht, dass du eine Familie gründen willst.”

Eine Familie? Gott bewahre, ich komme schon mit mir selbst kaum zurecht.

—“Ich hoffe, du weißt, wer der Vater ist.”

Das ist immer wieder lustig, weil ich darauf ein dummes Gesicht mache und sage: “Natürlich weiß ich, wer mein Vater ist.”

—“Das war bestimmt nicht geplant, wie ich dich kenne.”

Stimmt. Wer nicht einmal eine brauchbare Einkaufsliste aufsetzen kann, ist mit Familienplanung restlos überfordert.

—“Macht es dir etwas aus, wenn ich Fisch esse? Als ich meinen Julius bekam, wurde mir schon beim Geruch von Fisch übel.”

Warum sieht Julius dann aus wie ein Karpfen?

Das wird vermutlich so weitergehen, bis ich in die Wechseljahre komme. Und dann wird es heißen: “Sag mal, bist du nicht längst viel zu alt, um ein Kind zu kriegen?” Darauf weiß ich noch keine Antwort. Schlagfertigkeit will hart erarbeitet sein.

Aber was soll’s: Mit der Abweichung von Idealmaßen muss ich leben, denn ich bin rigorose Diätverweigerin. Um mein Gewissen zu entlasten, nehme ich entwässernde Zinnkrauttropfen, mache täglich Übungen gegen Hohlkreuzbildung und rege meine Verdauung mit Leinsamen an. Außerdem tanze ich viel – aber weniger meiner Figur zuliebe, sondern aus schierer Lust am Rhythmus.

Trotzdem hatte Cathy mit ihrer Karte meinen wunden Punkt getroffen. Nein, schlimmer, sie hatte aus einer kleinen Abweichung von der Norm überhaupt erst einen wunden Punkt gemacht und ihn dann getroffen. Gerade noch war ich eine zufriedene, ausgeglichene, geradezu beneidenswert selbstbewusste Frau gewesen – und jetzt fühlte ich mich zum ersten Mal in meinem Leben unfrisiert, unzurechnungsfähig, ungeliebt und unförmig.

Ein kleiner Trost blieb mir – dass Cathy meinen wahren Schwachpunkt nicht kannte: die panische Angst vor Schluckauf. Daran leide ich, seit ich acht bin. Nachdem ich vor ein paar Jahren im Praxismagazin einen verstörenden Beitrag über einen Amerikaner gesehen hatte, der seit vierzig Jahren an Schluckauf litt, nahm meine Angst noch weiter zu. Ich habe mir geschworen, nie wieder Gesundheitssendungen zu schauen, um nicht noch mehr Phobien zu entwickeln. Das muss man sich einmal vorstellen: vierzig Jahre Schluckauf! Was für ein Martyrium.

Ich wusste, dass ich meinen Job riskierte, aber ich musste mich für Cathys Unverschämtheit rächen. Ich sah auf und sagte zuckersüß: “Cathy, I’m glad you started this. It’s so good to be honest with each other. I’ve always wanted to tell you that the colour red doesn’t suit you at all. The red dress you like so much is as ugly as sin. It makes you look at least ten years older. And you need a new haircut. Short bobs are totally out.”

Nein, um ehrlich zu sein – das sagte ich nicht. Ich wünschte mir nur, ich hätte den Mut gehabt, es zu tun. Stattdessen lachte ich gekünstelt und verkündete, ich müsse jetzt leider ganz schnell verschwinden, weil heute Abend eine rauschende Geburtstagsparty für mich steige.

Cathy drückte mich auf den Stuhl zurück. “You haven’t looked at the rest yet.”

Was, da kam noch mehr? Ich legte das Elefantenpapier beiseite und fand:

— Einen grobzinkigen Kamm. Weichspüler wäre sinnvoller gewesen. Den verbrauche ich literweise, um meine dünnen, blonden Haare daran zu hindern, sich zu verknoten.

— Eine Broschüre mit dem Titel Twenty Exercises to Activate Your Brain. Die würde ich meiner tüchtigen Mitbewohnerin Sabine vermachen. Merkwürdigerweise ist es nämlich so, dass die Menschen, die es am wenigsten nötig haben, auf solche Übungen am meisten abfahren.

Love Around The World, eine Zeitschrift mit internationalen Kontaktanzeigen. Wollte Cathy mich nach Sibirien verkuppeln, um mich los zu sein?

— Ein Merkblatt der Anonymen Alkoholiker. Dazu sage ich nur: Wein ist Nervennahrung. Das hat nichts mit Alkoholismus zu tun; ich muss doch sehr bitten.

— Ein Thera-Band mit Übungsposter. Eigentlich ganz nützlich. Aber Tanzen für die Fitness ist mir lieber; das geht ohne angeleitete Verrenkungen.

Dann war endlich der Boden der Schachtel erreicht.

Cathy glättete ihren ordentlichen Pagenkopf. “If you need any help keeping these resolutions, you can come to me any time.”