Fourteen

Anstatt wie sonst festen Schrittes zu Jeromes Haus zu marschieren, kroch ich am Donnerstagmorgen dahin wie eine Schnecke, jedenfalls bis mir einfiel, dass ich zu spät kommen und Jerome unweigerlich denken würde, ich hätte eine anstrengende Nacht in Alans Armen verbracht.

Warum quält man sich ständig mit der Frage, was wohl in anderen vorgeht und wie sie über einen denken? Jemand wie ich, der beim Schach nie weiter als anderthalb Züge vorausplanen kann, ist mit zwischenmenschlichen Komplikationen überfordert.

Ich beschleunigte meine Schritte und kam mit fünf Minuten Verspätung an. Jerome sah nicht böse aus, als er öffnete. Er schaute auch nicht stirnrunzelnd auf die Uhr oder hielt mir einen dreistündigen Vortrag darüber, dass Unpünktlichkeit die schlimmste Manifestation von Unhöflichkeit sei und den endgültigen Verfall der Sitten einläute, wie Cathy es in solchen Fällen zu tun pflegte.

Dafür hielt er ein aufgerolltes Seil in der Hand. “In case you want me to tie you to a chair.”

So wie ich beim Schach immer eine halbe Ewigkeit brauche, um zu kapieren, dass ich im nächsten Zug wirklich matt bin, dämmerte mir auch jetzt sehr langsam, worauf Jerome hinaus wollte. Er dachte anscheinend, er müsste mich vor Peter beschützen. Auf die Idee, dass er Alan für Peter gehalten hatte, war ich bis zu dem Moment noch gar nicht gekommen. War ja auch naheliegend. Logik war noch nie meine Stärke gewesen. Anstatt ständig da rüber zu grübeln, was andere von mir denken, wäre ich besser beraten, endlich mal in meinem eigenen Kopf aufzuräumen.

Ich folgte Jerome in sein Arbeitszimmer. “Thanks for the offer, but I’m not going to Alaska. That wasn’t Peter at the Salsa!last night. It was Alan Rodnick.”

“Alan Rodnick? I think I’ve heard or read the name somewhere.”

“He’s a theatre actor.”

“Ah, Hamlet in a Hammock.”

Hamlet in a Hamlet”, korrigierte ich.

“Whatever.” Er wirkte düpiert. (,Düpiert‘ ist eines dieser faszinierenden Wörter, von denen ich nicht genau weiß, was sie bedeuten, die ich aber manchmal ganz intuitiv passend finde. Ich habe es einmal im Duden nachgeschlagen, und dort steht, es heißt “betrogen” oder “wie ein begossener Pudel”. Das mit dem Pudel jedenfalls trifft es ein bisschen.)

“One thing’s for sure”, sagte ich. “He can’t dance at all.”

Jerome warf das Seil über die Schulter auf den Schreibtisch, nahm eine stocksteife Haltung ein, hielt die Arme verkrampft von sich gestreckt und begann eine imaginäre Partnerin in unrhythmischen Schritten durch den Raum zu führen, stolperte mal über seine, mal über ihre Füße, rempelte eine Stehlampe an und machte dabei ein Gesicht, als hätte er einen Ingwerkeks quer im Hals stecken.

Ich lachte über diese hinreißende Imitation von Alan.

“But you”, meinte er, “you can dance.”

Sofort wurde seine Haltung lockerer, sein Gesichtsausdruck gelöster. Nach nur zwei Sambaschritten war ich nicht mehr zu halten, glitt in seine Arme und ersetzte seine imaginäre Partnerin. Sicher und mit gekonnten Schwüngen führte Jerome mich um den Schreibtisch herum in den Garten hinaus, wo er mich drehte, bis mir schwindlig wurde und ich glücklich ins Gras sank. Er reichte mir die Hand und zog mich hoch. “Now let’s get some work done.”

Das nenne ich Mitarbeitermotivation. Cathy könnte eine Menge von Jerome lernen. Das galt auch für mich, wie ich ein paar Stunden später feststellte, als Jerome mit einem Kochlöffel bewaffnet in den Wintergarten kam, wo ich mich durch die letzten Seiten von Vergangene Wege quälte.

Er verkündete, dass er mir die Grundlagen des Kochens beizubringen gedachte. “If I teach you to cook, we can take turns at preparing lunch.”

Ich hatte schon den Kochlöffel in der Hand, als mir siedend heiß einfiel, dass ich mit Peter verabredet war. “Oh – sorry, I just remembered: someone’s taking me out to lunch today.”

Jerome roch den Braten sofort. “Is it Peter from Alaska?”

Ich senkte beschämt den Blick. “It’s only to say goodbye properly.”

“There is no way to say goodbye properly. Believe me, I’ve been through the same thing. You have to make a clean break, or you’ll suffer and suffer and never see the end of it.”

Er räusperte sich und fuhr mit sanfter Stimme fort. “Sorry, Mandy, I didn’t mean to patronize you. You have every right to make your own mistakes. Just remember: you can always turn to me for help.”

“Thanks”, murmelte ich und spielte mit dem Gedanken, dass ich ja noch ein bisschen herumtrödeln, den nächsten Bus verpassen und Peters Einladung dadurch umgehen könnte. Während ich noch mit meinem sofort einsetzenden schlechten Gewissen rang, klingelte es.

Jerome ging, um zu öffnen. Wenige Sekunden später hörte ich eine vertraute Stimme. Peter! Das konnte doch nicht wahr sein. War ich denn nirgends vor ihm sicher? Den Kochlöffel wie ein Schwert vor mir her tragend, stürmte ich zur Haustür.

“I hope you don’t mind”, sagte Peter gerade zu Jerome.

Bevor Jerome antworten konnte, herrschte ich Peter an: “What the hell are you doing here?”

Zugleich registrierte ich mit schmerzlichem Entzücken, wie gut Peter aussah. Er trug einen beigefarbenen Anzug aus sommerlichem Leinen. Schon bei meiner ersten Begegnung mit ihm war mir die legere Eleganz aufgefallen, die er ausstrahlte. Peters Körper war dazu geschaffen, in Anzüge gesteckt zu werden. Niemand konnte einen Anzug so vollkommen ausfüllen, so perfekt sitzen lassen. Ich wette, wann immer Peter einen Herrenausstatter betritt, fangen alle Anzüge unruhig auf ihren Bügeln zu schaukeln an und raunen: “Take me, I’m yours.” Der Anzug, für den er sich letztlich entscheidet, ist dankbar bis in die tiefsten Tiefen seiner Knopflöcher. Von Peters perfekten Krawattenknoten will ich gar nicht erst anfangen. Von unserem ersten Abend, als ich rittlings auf seinem Schoß saß und ihm die Krawatte ganz langsam auszog. Aufhören! Nicht mehr daran denken, Mandy, sonst verlierst du die Selbstkont­rolle.

“I’ve come to pick you up for lunch”, sagte er ungerührt.

Ich setzte ihm den Löffel an die Brust. “Who gave you this address?”

“Jill. I told her I’d booked a boat trip. It starts at twelve-thirty at Waterloo Pier, so to be there on time – ”

“A boat trip?” Ich war nahe daran, mich hinter Jerome zu verstecken. Peter würde mich doch nicht etwa auf einem Kreuzfahrtschiff nach Alaska verschleppen?

“Oh, is that one of those Thames river lunch cruises?”, fragte Jerome. Er wirkte reserviert, unangenehm berührt, aber immer noch um Höflichkeit und Umgangsformen bemüht. “They’re supposed to be great.”

Warum sagte er Peter nicht klipp und klar, dass es eine Frechheit war, einfach hier aufzukreuzen und ihm noch vor Ende der Arbeitszeit die Assistentin zu entführen?

“I haven’t finished work yet.” Ich legte größte Betonung auf jedes Wort, in der Hoffnung, dass Jerome die Botschaft verstand. Er würde mich retten, indem er sagte, dass er mich jetzt noch nicht gehen lassen konnte, weil ich eine Terminsache fertigstellen musste. So einfach war das.

“No problem”, meinte Jerome stattdessen. “You can just stay a bit longer tomorrow.”

Ich fühlte mich verraten und verkauft, so wie vor zwan zig Jahren, als ich mal wieder durch einen Umzug mit einem völlig neuen sozialen Umfeld konfrontiert wurde. Zwei verdreckte Mädchen aus der Nachbarschaft klin gelten und fragten, ob ich zum Spielen rauskäme. Ich sah Hilfe suchend zu meiner Mutter hoch und schickte ihr mit flehendem Blick die Bitte zu sagen, dass ich heute nicht raus dürfte, denn ich traute mich nicht zuzugeben, dass ich nicht mit diesen schrecklichen Mädchen spielen wollte.

Doch was tat meine Mutter? Sie wünschte mir viel Spaß und schob mich vor die Tür. Nun, nach anfänglichen Problemen hatte ich dann tatsächlich viel Spaß gehabt und kam am Abend genauso verdreckt heim wie meine beiden neuen Freundinnen.

Genau genommen hatte meine Mutter damals das Richtige getan. Aber hier lag der Fall anders. Ich wollte nie wieder mit Peter ‘spielen’ und war enttäuscht, dass Jerome mich ihm ohne Widerspruch überließ. Ich selbst hatte nicht den Mut, mich vor dieser Verabredung zu drücken, auf die ich mich niemals hätte einlassen sollen.

“Thanks.” Peter schüttelte Jerome die Hand.

“See you tomorrow.” Jerome nickte mir mit steifem Hals zu. “Take care.”

Ich reichte ihm seinen Kochlöffel und nahm meine Jacke von der Garderobe.

Peter musterte mich von oben bis unten. Ich trug eine hellgrüne Seidenbluse über einer weißen Hose. “I’m glad you’re not wearing jeans today. The dress code for the lunch cruises is smart casual.”

Peter wusste doch, dass ich mich nicht von solchem Firlefanz beeindrucken ließ. Lunch cruise. Dress code. Und dazu die Limousine mit Chauffeur, in der wir Platz nahmen! Warum glaubte er, diese ganzen Register ziehen zu müssen? Weil seine Konkurrenz ein Schauspieler war? Wenn er geahnt hätte, wie mein Abend mit Alan gestern verlaufen war!

Während der Fahrt schwenkten meine Gedanken dann um. Was war ich nur für ein undankbares Gör. Ich hatte zwei gut aussehende Verehrer, um die mich Tausende von Frauen beneiden würden, dabei war ich selbst alles andere als glamourös. Jemand hatte mal zu mir gesagt, wenn ich magersüchtig wäre, würde ich aussehen wie Gwyneth Paltrow. Zuerst hatte ich es für ein Kompliment gehalten, dann war mir so langsam gedämmert, dass es eine ganz subtile Beleidigung sein sollte. Was hatte ich schon groß zu bieten außer zerzausten Haaren, einem gebärfreudigen Becken und einem wirren Gemüt?

“I booked the Elite Lunch Cruise”, sagte Peter in meine Gedanken hinein. “It includes special seats at the front of the boat, a three-course menu and wine. I’m sure you’ll love it. But don’t get the idea that I’m trying to impress you. I just want us to have a good time together. Please relax a little. I promise I won’t try to talk you into coming back to me.”

Ich sah ihn von der Seite an. Gott, dieses Profil! Ich war versucht, meine Hand auszustrecken und die Finger durch die weichen, blonden Haare in seinem Nacken gleiten zu lassen. Aber Cathy stand immer noch zwischen uns. Wenn ich selbst jemals einem Kerl untreu gewesen wäre, hätte ich vielleicht toleranter reagiert. Aber Treue war für mich so selbstverständlich wie Atmen, Essen und Unfug reden. Es hatte nie mehr als einen Mann gleichzeitig in meinem Leben gegeben.

Peter sah mich an. “How was your night out?”

“I discovered that Alan can’t dance. That was a turn-off.”

Peter nagte an seiner Unterlippe. “I can’t dance either, as you know. And yet you wanted to move to Alaska with me.”

“You can’t dance because you haven’t learned how. A dance class can change that. But Alan can’t dance because he’s got no rhythm. He’ll never ever learn.”

“He’s out of the equation, then?” Ein Hoffnungsschimmer trat in seine graublauen Augen.

“He was never part of the equation. The three parts of our equation are you, me and Cathy Truman.”

Touché.”

Wir waren am Pier angekommen. Peter bestellte den Chauffeur für halb drei wieder her, dann führte er mich auf das elegante Schiff, wo man uns zum allerbesten Platz brachte: ganz vorne, nur durch eine Glasscheibe von der Aussicht auf ein sonniges London zu beiden Seiten getrennt.

Ich griff nach der Menükarte. Wie alles in meinem Leben, würde auch diese wichtige Begegnung für mich anhand der Mahlzeit, die ich dabei zu mir genommen hatte, für immer in mein Gedächtnis gebrannt bleiben. Würde ich Peter bei ‘Quiche Lorraine und Roast Chicken’ für immer den Laufpass geben oder mich neu in ihn verlieben?

Leise, angenehme Musik von der Art, die man vergisst, noch während man sie hört, lief im Hintergrund, während das Schiff ablegte. Passend dazu begann Peter mit Smalltalk. Er wollte wissen, wie es mir in London gefiel, wie ich meine Mitbewohnerinnen fand, wo eigentlich der berühmte Londoner Nebel war. Im Gegensatz zu Alan redete er wenig über sich. Ich wusste nicht einmal konkret, was die Firma machte, für die er arbeitete, und warum sie ihn für eine Weile nach Deutschland und jetzt nach London geschickt hatte. Er hätte ein Spion sein können, eine nordische Variante von James Bond, und ich wäre ihm nie auf die Schliche gekommen.

Nach der Vorspeise kam er dann so langsam zum Thema. “You can’t imagine how much I regret my terrible mistake. I don’t know what I saw in Cathy. She isn’t pretty and she isn’t even nice. But maybe that was why I felt challenged when she made a pass at me. She – ”

Ich hob meine Gabel, eine deutliche Drohgebärde. “Spare me the details.”

“I wonder whether you’ll ever forgive me.”

Ich wollte einfach nur, dass er das Thema beendete. “I do. I do forgive you.”

“Thank you. You’re very generous. I’m sure I’ll never make a mistake like this again. From now on, I’ll always be faithful.”

“I’m happy”, sagte ich, “for your next girlfriend.”

Er spülte meine Abfuhr mit einem großen Schluck Rotwein hinunter. “I never stopped loving you, Mandy.”

Ich nippte an meinem Glas Mineralwasser. Ich hatte beschlossen, sicherheitshalber nüchtern zu bleiben. Das London Eye und die Millennium Bridge zogen an uns vorbei, der Hauptgang wurde serviert, Peter wartete geduldig da rauf, dass ich ihm wieder meine Aufmerksamkeit schenkte.

“How about you?”, fragte er. “Do you still love me a little bit?”

“I think I do, unfortunately. What do you see in me, anyway? I’m not beautiful or glamorous. I’m just me: crazy Amanda Bauer.”

“That’s it. You’re one of a kind.”

Jetzt brauchte ich doch ein Glas Rotwein. Ich nahm das von Peter und leerte es in einem Zug. “Problem is, I’ve started a new life here, and I like it. I like my flatmates, my wonderful job, everything. In just a couple of weeks, I’ve managed to feel completely at home in London, more than in any other place I’ve ever been. And I’ve been in a lot of places, all around the world. I finally want to settle down.”

In Peters Augen leuchtete ein geheimnisvolles Glimmen auf, das mich sofort misstrauisch machte.

“Let me sum it up. What you’re saying is that you don’t want to move to Alaska.”

“Absolutely not. Not for a million dollars.”

Aus dem Glimmen wurde ein Funkenregen. “I’m not going to ask you to move to Alaska with me.”Er lehnte sich zurück und betrachtete mich wie ein sehr zufriedener Eisbär den Seehund, den er gerade aus einem Eisloch gezogen hat. “I’m moving to London soon. My company is setting up a branch here.”

Meine Welt geriet so heftig ins Wanken, dass ich nicht gemerkt hätte, wenn das Schiff samt der köstlichen Nachspeise in der Themse versunken wäre.

“I need time to think about it”, brachte ich hervor, dann fiel ich über die Himbeertorte her, als wäre sie die letzte Mahlzeit meines Lebens.

Peter wirkte jetzt, nachdem er seine Bombe hatte platzen lassen, sehr entspannt. Er sah aufs Wasser hinaus und redete über sein Lieblingsthema: Eishockey. Ich tat so, als ob ich zuhörte, dabei lauschte ich nur dem Klang seiner wunderbaren Stimme.