Seven

Es hatte wenig Sinn, Doreen oder Jill von Jerome Constantine vorzuschwärmen. Doreen würde mir nie und nimmer abnehmen, dass es auch völlig normale Männer gab, die ohne Hintergedanken nett zu einer Frau waren. Sie würde dem armen Mr Constantine sofort tausend böse Absichten unterstellen.

Jill war heute generell nicht ansprechbar, so kurz vor dem Theaterabend. Sie kämpfte sich in Klamotten, die ihr eindeutig zu eng waren, verfluchte alle Diäten, die sie je gemacht hatte, weil sie nicht gewirkt hatten, und schwor sich, erst wieder feste Nahrung zu sich zu nehmen, wenn sie aussah wie Kate Moss.

Diese Selbstkasteiung konnte ich einfach nicht mit ansehen. “Men don’t like thin women”, behauptete ich. “There are plenty of studies to prove it.”

“It’s easy for you to say that. You’re not as fat as I am.”

Ich klopfte auf mein Bäuchlein. “What about that? People keep telling me I look five months pregnant.”

Jill sah meinen Bauch an, als würde sie ihn zum ersten Mal wahrnehmen. “Funny, now that you mention it ...”

Schnell lenkte ich ab. “I’m not going to talk about inner values, although they certainly mean a lot more than the shape of your body. But believe me, there’s nothing as beautiful as a smile that comes from the heart.”

Jill versuchte ein Lächeln, das in ihrem nervösen Zustand zu einer erbärmlichen Grimasse geriet.

“No, not like that. Smile the way you always smile.”

Jill schüttelte den Kopf. “It’s useless. I can’t smile. I’ll never be able to smile again.”

“Look, if it’s such a strain for you to go to this play, why don’t we have a nice, relaxing evening at home instead?”

“Are you crazy? This is finally my chance to get an autograph with my real name on it.” Jill nahm einen Bilderrahmen vom Nachttisch und reichte ihn mir.

Ein freches, jungenhaftes Gesicht grinste mich an, mit erstklassigen Lachfältchen und sympathisch schiefen Mund­winkeln. “To Juliet, with love, Alan Rodnick” war schwungvoll ins untere Drittel geschrieben, direkt auf sein hellblaues Hemd.

“This is an autograph for someone else, then?”

“No, it’s for me. He gave it to me personally, at the stage door, after ,Housewife Alert‘. When he asked me my name I couldn’t for the life of me remember it. So I said the first name I could think of, and that happened to be Juliet, as in ‘Romeo and Juliet’.”

“But Doreen was with you. Why didn’t she correct you?”

“Ha, Doreen! She wasn’t much help.” Jill öffnete die Nachttischschublade und reichte mir einen Umschlag. “Don’t tell Doreen I showed you that. It’s the autograph she got that night.”

Das gleiche Foto, diesmal mit der Widmung: “For Catherine, all the best, Alan Rodnick.”

“Catherine?”, fragte ich.

“Doreen was so smitten by Alan that she forgot her name as well. But she won’t give in to emotions like that. I guess that’s why she refuses to come tonight.” Nervös nestelte Jill an ihrem Zopf.

Ich hatte eine Idee, wie ich sie ein wenig beruhigen konnte. Ich schrieb ihr einfach einen Spickzettel:

My name is JILL.

“Here.” Ich reichte ihn ihr. “Your cheat slip.”

Über unser Styling hätten Jill und ich uns keine Gedanken zu machen brauchen, wie ich feststellte, als wir das Foyer betraten. Das Publikum wies alle Modefacetten von underdressed über betont cool bis superschick auf. Ein paar richtig ausgeflippte Erscheinungen gab es auch, darunter einen großen, weißhaarigen Mann mit Monokel und Zigarettenspitze, der komplett in Rosa gekleidet war: Rüschenhemd, Anzug, alles rosa, und als Krönung rosafarbene Cowboystiefel. Seine Begleiterin, eine bildhübsche Frau in bodenlangem schwarzem Kleid, schien das völlig normal zu finden und wand sich auch nicht unter den vielen neugierigen Blicken und dem Getuschel.

Ich stupste Jill an. “Look at the pink gentleman over there.”

Aber sie hörte mir nicht mal zu, während sie verzweifelt in ihrer Handtasche kramte. “I lost it.”

“You mean you lost the photo for your autograph?”

“No, I lost the cheat slip.”

“Then write your name on your palm”, schlug ich vor.

“I can’t. I forgot my pen. What was my name again?”

“Jill.” Beinahe hätte ich Juliet gesagt. Ich war auch schon ganz konfus, denn das war nicht die erste Panikattacke, die Jill durchlitten hatte, seit wir aufgebrochen waren. Und es ging im Fünfminutentakt so weiter, bis wir endlich auf unseren Plätzen in der dritten Reihe saßen und sich der Vorhang hob.

Danach wurde sie schon fast beängstigend ruhig. Wie hypnotisiert starrte sie auf die Bühne, wo ein Mann mit schulterlanger, roter Perücke einen Monolog hielt, der sich wie die Bedienungsanleitung für eine Küchenmaschine anhörte, und in etwa genauso interessant war. War das Alan Rodnick? Musste er wohl sein, aus Jills leisen Glücksseufzern zu schließen.

Ich war direkt erleichtert, als ich feststellte, dass er auf mich keinerlei Wirkung hatte. Wieso auch? Als Teenager hatte ich mich in heftige Schwärmereien verstiegen und dabei nicht mal vor meinen Lehrern Halt gemacht, aber inzwischen war ich zu alt für solchen Kram. Schauspieler oder nicht, Alan Rodnick kochte auch nur mit Wasser.

Ich ließ meinen Blick über das Bühnenbild schweifen: Schauspieler, die hingebungsvoll ihren Text deklamierten und eine Choreografie präzise eingeübter Bewegungen abspulten. Was, wenn einer seinen Text vergaß, vom Bühnenrand stolperte, sich übergeben musste oder womöglich Schluckauf bekam?

So unwahrscheinlich war das schließlich nicht, denn mir war genau das einmal passiert.

Ich war acht Jahre alt gewesen und hatte die Hauptrolle in einer Aufführung des Schultheaters. Ich spielte Schneewittchen. Oder sollte es zumindest tun, denn gleich mein erster Satz geriet mir daneben. Er erstickte in einem lauten, bis in die letzten Reihen hörbaren “Hicks”. Gegen Tränen und Schluckauf ankämpfend rannte ich von der Bühne und weigerte mich, wieder zurückzukehren. Als wir zwei Monate später in eine andere Stadt zogen, war ich das erste und einzige Mal im Leben erleichtert über das Nomadentum meiner Eltern, denn die Schmach hatte mir ständig im Nacken gesessen und ich hatte kaum gewagt, meiner Klassenlehrerin in die Augen zu sehen. Das war sie gewesen, die Geburtsstunde meiner Schluckaufphobie.

Ich schaffte es, den Schauspielern zuzuhören, aber es lohnte sich nicht. Die Dialoge waren gestelzt, die Handlung nicht nachvollziehbar. Womöglich war Hamlet in a Hamlet nur deswegen so ein Publikumserfolg, weil die Kritiker Besprechungen schrieben, ohne das Stück gesehen zu haben. Nach der Pause war ich versucht, einen Vorwand zu finden, nicht wieder reingehen zu müssen, aber ich konnte Jill nicht im Stich lassen. In ihrem Zustand vergaß sie womöglich nicht nur, wie sie hieß, sondern auch, wo sie wohnte und in welchem Jahrhundert wir gerade lebten.

Eine geschlagene Stunde standen wir anschließend an der Stage Door, zusammen mit einem Rudel weiblicher Fans, die sich mit vor Aufregung geröteten Gesichtern über die Höhepunkte der Aufführung unterhielten.

Ich gähnte verstohlen, sonderte mich etwas von der Gruppe ab, sah verträumt in den Londoner Himmel hinauf und spekulierte, wie mein Leben wohl verlaufen wäre, wenn ich bei der Premiere von Schneewittchen nicht den verhängnisvollen Schluckauf bekommen hätte. Wäre ich mit stehenden Ovationen gefeiert worden, so wie das Ensemble von Hamlet in a Hamlet? Hätte ich, getragen von der Begeisterung, beschlossen, Schauspielerin zu werden? Von dieser Warte aus betrachtet, waren Alan Rodnick und ich fast soetwas wie verhinderte Kollegen. Für Jill wäre ich vermutlich ein Hassobjekt, wenn sie mich an seiner Seite aus dem Backstage treten sähe. Bauch hin, Bauch her. Weil ich Jill in derkurzen Zeit, in der wir zusammen wohnten, aber aufrichtigins Herz geschlossen hatte, war ich meinem Schluckauf dieses eine Mal in gewisser Hinsicht ganz dankbar.

Jedes Mal, wenn sich die Bühnentür öffnete, ging ein erwartungsvolles Raunen durch die Menge, um gleich wieder zu ersterben, wenn ein Nebendarsteller erschien.

Ich hatte schon jede Hoffnung aufgegeben, vor Sonnenaufgang ins Bett zu kommen, als er endlich auftauchte: Alan Rodnick höchstpersönlich. Ohne die rote Perücke sah er wesentlich besser aus, fast so gut wie auf dem Autogrammfoto, das Jill mir gezeigt hatte. Mit seinen leicht zerzausten, dunkelbraunen Haaren und dem jungenhaften Gesicht war er genau der Typ Mann, der mit fünfzig immer noch wie dreißig aussieht. Er würde mit jedem Jahr interessanter und attraktiver werden.

Das Signieren zog sich ewig hin, weil manche Fans drei Autogramme wollten, und ein Foto mit ihm. Endlich war Jill an der Reihe. Sie hatte sich ganz ans Ende der Gruppe gestellt. “Just in case I get too nervous and want to chicken out”, hatte sie mir erklärt.

Nun, sie war nicht davongerannt, sondern stand mutig ihre Frau, reichte Alan mit zitternden Händen das Foto und hauchte: “Jill.”

Sie warf mir einen fragenden Blick über die Schulter zu. Ich nickte. Richtiger Name, gut gemacht.

Alan signierte das Foto, lächelte Jill noch mal strahlend an und heftete dann seine nachtblauen Augen auf mich.

“Don’t you have a photo to sign?”, fragte er.

Plötzlich unfähig zu sprechen, schüttelte ich den Kopf, wobei ich meine Augen nicht von den seinen abwenden konnte. Was für ein unglaubliches Blau! Ich spürte seinen strahlenden, durchdringenden, unwiderstehlichen Blick bis in die Zehenspitzen.

“Let me see.” Er griff in die Außentaschen seines Jacketts, tastete darin herum. Da er dort anscheinend nichts Geeignetes zum Signieren fand, fasste er in die Innentasche.

Wie gebannt folgten meine Augen, die mir allmählich wieder gehorchten, seiner Hand. Er zog eine Visitenkarte heraus. Lächelnd, aber anscheinend etwas zögernd studierte er mich, als wollte er später aus dem Gedächtnis ein Portrait von mir malen. Meine Ohren glühten, mein Herz schlug wie verrückt. Ich lächelte, so gut ich konnte. Wahrscheinlich sah ich noch verkrampfter aus als Jill, oder so blond und bedröppelt,wie ich mich gerade fühlte. Kein Wunder, dass Doreen sich das nicht noch mal hatte antun wollen. Es hätte ihre ganze Lebensphilosophie über den Haufen geworfen.

“What’s your name?”, fragte Alan Rodnick.

“Mandy”, stammelte ich. Und dann signierte er für mich tatsächlich seine Visitenkarte. Er reichte sie mir mit einem Zwinkern. “Nice to meet you, Mandy”, sagte er, winkte noch einmal in die Menge, stieg in ein Auto und brauste davon, während ich noch dabei war, “Thank you” zu stammeln.