Eleven
Am Dienstagmorgen war ich so genervt, dass ich wütend vor mich hinbrabbelnd meinen Weg von der Bushaltestelle zu Jeromes Haus zurücklegte.
Erstens: Jill hatte mir gestern den ganzen Abend von Peters Stimme am Telefon vorgeschwärmt, von seiner ehrlichen Reue und davon, dass das Schicksal ihn und mich füreinander bestimmt habe. Sie bestand darauf, ein Foto von Peter zu sehen. In meiner Geldbörse, die ich seit der Trennung von Peter noch nicht entrümpelt hatte, fand ich das Foto, das ich aus Love Around the World ausgeschnitten hatte, und schenkte es ihr. Leider warf ich selbst auch einen Blick darauf. Warum musste er bloß so verdammt gut aussehen? Und in natura sah er sogar noch besser aus, mit seinem vom Eishockeyspielen gestählten Körper. Da konnte nicht mal Alan mithalten. Ich wusste, wenn Peter mir gegenüberstände, wäre ich nicht mehr Herr meiner Gefühle. Also beschwor ich wieder und wieder das Bild herauf, wie ich ihn mit Cathy erwischt hatte, doch das verblasste zusehends und verlor an Wirksamkeit. Ich wurde höchstens wütender auf Cathy anstatt auf Peter.
Zweitens: Doreen und Jill hatten es völlig normal gefunden, dass ich das Bad in die perfekte Kulisse für einen Putzmittelwerbespot verwandelt hatte. Weder ergingen sie sich in Lobeshymnen über die glänzenden Oberflächen, noch fragten sie mit vor Entzücken geweiteten Augen: “How did you do that? Tell us your →secret.” Ob meine Mutter und die reinliche Jana auch so enttäuscht waren, dass sie nie jemand lobte? Ich würde das bei Gelegenheit nachholen.
Drittens: Ich hatte nachts davon geträumt, dass ich bei der Verfilmung von Vergangene Wege mit Alan Rodnick als Hauptdarsteller Regie führte. Bei der Oscarverleihung, gerade als ich sagen wollte: “I want to thank my dear friend Löffi for all his love and →support”, bekam ich Schluckauf.
Als ich aufwachte, hatte ich tatsächlich Schluckauf, samt der dazugehörigen Panikattacke, verfeinert mit einer soliden Prise Kopfweh, weil ich gestern Abend zu viel Rotwein getrunken hatte.
Der Schluckauf verschwand nach einer kalten Dusche, das Kopfweh nach einer Tasse Kaffee, die Angst vor der Begegnung mit Peter schließlich, als ich Jerome den Arbeitsvertrag auf den Schreibtisch legte und dabei einen genialen Einfall hatte. “I’d like to add something before I sign it.”
“Sure”, sagte Jerome freundlich. “It’→s all →open to negotiation.”
“All right then, add this: if I should ever tell you that I want to leave my job because I’m moving to Alaska, you’ll →tie me to a chair and →hold me prisoner until I’ve →come to my senses.”
Jerome zog die Augenbrauen zusammen und sah mich ernst an. “Are you →in trouble? Do you want to talk about it?”
“It might help.”
Er drückte sich mit den Händen vom Schreibtisch ab. “Let’s go for a walk.”
Bis Hampstead Heath waren es nur wenige Minuten zu laufen.
Während wir langsam die ausgetretenen Pfade entlangspazierten, erzählte ich Jerome eine ganz andere Version meiner kurzen Liebe zu Peter, als ich sie Doreen und Jill erzählt hatte. Es war eine Version, die mir bis dahin selbst nicht bewusst gewesen war. Sie handelte von meiner Unsicherheit und der Angst, im Leben etwas zu verpassen. Davon, die falschen Entscheidungen zu treffen, oder die richtigen Entscheidungen zur falschen Zeit. Davon, dass ich im Herzen noch lange nicht erwachsen war und immer hoffte, jemand würde sich um mich kümmern und mir versichern, dass alles gut würde. Sie handelte von all den Umzügen, die mich ruhelos gemacht hatten, während ich mich nach einem sicheren Hafen sehnte. Ich redete und redete ohne nachzudenken, und es tat ziemlich gut, um ehrlich zu sein.
Jerome sagte lange Zeit nichts, auch nachdem ich geendet hatte. Ich fand es ganz angenehm, nicht mit Ratschlägen überhäuft zu werden, denen ich erfahrungsgemäß doch nicht folgen würde.
Wir setzten uns auf eine Bank an einem Teich. Jerome fuhr mit den Fingern nachdenklich die Rillen in dem spröden Holz der Sitzfläche nach, dann sagte er: “It is often hard to →sort out emotions. Why isn’t it as easy as cleaning a bathroom?”
Ich musste lachen. “Absolutely.”
Dann wurde mir erst bewusst, dass ein trauriger Unterton in seinen Worten mitgeschwungen hatte.
“Do you have a family?”, fragte ich. Es war ja schließlich möglich, dass seine Frau längst bei der Arbeit und seine Kinder in der Schule waren, wenn ich morgens zu ihm kam.
Er schüttelte den Kopf. “I’m →single. →Divorced.” Im nächsten Moment war er aufgestanden, als wäre es ihm unangenehm, das Thema weiter zu verfolgen. “Let’s go back. We have a lot of work to do.”
Auf dem Heimweg, kurz vor dem Ende des Heath, begegneten wir zwei Mädchen, die mit einem Hund unterwegs waren, der mir bekannt vorkam: ein großer, brauner Mischlingshund mit freundlichen Augen.
“Ken! →Heel!”, rief das eine Mädchen. Es hatte einen unmöglichen Haarschnitt und einen liebenswert frechen Gesichtsausdruck.
“I’m glad you found your dog”, stellte ich zufrieden fest.
Das zweite Mädchen war etwas größer und hatte mein feines, blondes Haar.
“How do you know we were looking for him?”
“I saw your →poster. May I →stroke him?”
“Sure.”
Ich klopfte Kens breite Flanken und fuhr ihm über den Nacken, während Jerome mich grinsend beobachtete.
“If you ever have a daughter, she’ll look like that blonde girl”, sagte er, als wir weitergingen.
“And if I ever have a dog”, ergänzte ich, “he’ll look like Ken.”
Am nächsten Tag erlebte ich bei der Arbeit eine angenehme Überraschung. Ich war wieder in die seltsamen Wortkonstrukte vertieft, als plötzlich rhythmische, zum Tanzen anregende spanische Gitarrenklänge den Raum erfüllten. Sofort wippten meine Füße mit. Kam es mir nur so vor, oder ging jetzt das Korrekturlesen schneller voran? Als die Musik nach etwa einer halben Stunde aufhörte, ging ich ins Arbeitszimmer und bat Jerome, der an seinem PC saß: “Could you play that CD again, please? It’s my kind of music.”
Jerome sah nur kurz auf und versprach: “→A bit later, okay?”
“Okay.”
Vielleicht störte ihn Musik in bestimmten Phasen seiner Arbeit. Kurz vor der Mittagspause setzten die Gitarrenklänge wieder ein. Ich schloss summend und gut gelaunt ein Kapitel ab und ging in die Küche, um mir vor dem Heimweg noch eine Tasse Kaffee zu gönnen. Die Musik wurde lauter. Sie kam gar nicht aus dem Arbeitszimmer, wie ich gedacht hatte, sondern aus der Küche. Und sie stammte auch nicht von einer CD, sondern wurde live gespielt.
Ich lehnte mich an den Türrahmen und beobachtete Jerome, der mich noch nicht bemerkt hatte. Völlig selbst vergessen, die Augen geschlossen, hockte er auf einem Küchenstuhl und haute mit atemberaubender Geschwindigkeit in die Saiten.
Als das Stück fertig war, sah er auf.
Ich applaudierte. “That was fantastic.”
“I only practise a little →every now and then”, meinte er bescheiden.
“You could →do this for a living.”
Er grinste. “That’s what I dreamed of as a →teenager, but my →parents insisted I get a →proper job.”
“I always wanted to be a dancer, but I hated →ballet classes. I do a lot of Latin dancing, →though.”
Er zupfte noch ein paar Riffs, dann nahm er die Gitarre am Hals und lehnte sie an die Wand. “There’s a Latin →bar near Leicester →Square– the Salsa with an →exclamation mark.”
“With an exclamation mark?”
“Wait, I’ll show you.”
Er wühlte in einer Schublade herum, bis er einen Infoflyer fand, den er mir reichte.
Salsa!
96 Charing Cross Road
The best place in London to listen to Latin music, dance and have fun. Enjoy the →style and →culture of Central & South America under one →roof.
We offer live music, dance classes and dance shows. It’s like a party, but better!
Opening Hours:
Mon-Sat 5.30 p.m. – 2 a.m.
Sun 6 p.m. – 12.30 a.m.
“Sounds great. I’ll →check it →out.”
Als ich zwei Stunden später nach Hause kam, war ich immer noch erfüllt von fetzigen Rhythmen und angenehm gesättigt von der Paella, die Jerome zubereitet hatte. Ich drehte gerade den Schlüssel im Schloss um, als meine Alarmglocken anschlugen. Aus der Wohnung hörte ich lautes Gelächter, darunter ein vertrauter, samtiger Klang.
Ich schob langsam die Tür auf und schloss sie geräuschlos. Die Tür zum Wohnzimmer stand halb offen. Ich sah Jills Profil. Sie saß auf der Couch, lachte und redete und griff hin und wieder in eine Pralinenschachtel, wobei sie sich kurz die Augen zuhielt. Wer auch immer die alberne Augenbinden-Diät entwickelt hatte, so hatte er sich das bestimmt nicht vorgestellt.
Mit angehaltenem Atem drückte ich mich an die Wand, so dass Jill mich nicht sehen konnte, falls sie in Richtung Haustür schaute. Auch Doreens Stimme konnte ich jetzt ausmachen. Sie klang lebhafter als sonst. Und dann, wie ein Tiefschlag, die vertraute Männerstimme, die etwas sagte, das Jill und Doreen köstlich zu amüsieren schien. Mein Ex-Alaska-Peter in unserem Wohnzimmer!
Jill und Doreen hatten mir gestern Abend, als wir gemeinsam zwei Flaschen Rotwein leerten, hoch und heilig versprochen, ihn am Telefon sofort abzuwimmeln, falls er sich noch mal meldete. Und was hatten sie stattdessen getan? Ihn eingeladen.
Ich schlich die Treppe hoch und versteckte mich in meinem Zimmer. So lange sie nicht wussten, dass ich daheim war, konnte nichts passieren.
Eins stand fest: Ich brauchte einen Notfallplan, eine Fluchtmöglichkeit, eine Rettungsleine. Jerome wollte ich nicht schon wieder mit meinen Problemen belästigen. Aber es gab ja noch Alan.
Ich fand seine Visitenkarte und tippte seine Nummer in mein Handy. Von mir aus konnte er mich hinschlep pen, wo er wollte, sogar in seine Wohnung. Haupt sache, weg von der Versuchung, Peter um den Hals zu fallen.
Ich hatte Glück, er war daheim.
“Hi, it’s me, Mandy. I’m sorry I →walked out on you on Sunday. I didn’t mean to be →rude. It just all happened too quickly. But the food was great, and I wanted to say thank you. I had a great time.”
“What a lovely surprise.” Es war die erste richtig nette Bemerkung, die ich von ihm zu hören bekam.
Sofort sah ich seine schönen Augen vor mir und konnte es kaum erwarten, ihn wieder zu sehen. “I’m glad you’re not angry.”
“Not at all. I’m the one who should →apologize. Sometimes I just don’t have a good sense of timing. I’m →spoilt by all the →fans who’d give their right arm to kiss me.”
Sein Lachen klang etwas zu überheblich, aber ich verzieh ihm sofort, als ich Peters Stimme aus dem Wohnzimmer hörte. Peter und sein umwerfender Charme! Dass er damit sogar die eisige Doreen zum Schmelzen gebracht hatte, war schon ein starkes Stück. Konnte man sich nicht mal mehr auf die Solidarität unter Frauen verlassen? Ich schob Peters Stimme beiseite und konzentrierte mich wieder auf Alan.
“Could we meet again?”, wagte ich mich vor.
“Tonight my →understudy is playing my →part. Where would you like to go?”
Ich erinnerte mich an Jeromes Tipp. “I’d love to go to the Salsa with an exclamation mark.”
“The what?”
“It’s in Charing Cross Road near Leicester Square. Just take me there and you’ll see.”
“I’ll pick you up at seven. Is that okay?”
“Perfect. See you.”
So, das war geregelt. Jetzt musste ich nur noch die nächsten vier Stunden herumkriegen, ohne Peter in die Arme zu laufen.