Anfang der fünfziger Jahre erlitt er seinen ersten Herzinfarkt, dem drei weitere folgten. Alle Risikofaktoren trafen auf den Patienten zu: Rauchen, Alkohol, Übergewicht und Stress. Seine Wutanfälle trieben den Blutdruck in die Höhe. Sein Sohn vermutet, irgendwann |169|habe Karl Brenner resigniert und aufgegeben. »Schon lange vor seinem biologischen Tod ist er psychisch und sozial gestorben«, stellt Michael Brenner fest. »Ich habe es immer gespürt, aber nie so aussprechen können wie heute.« Erst jetzt kann er sehen, dass sein Vater um viele Jahre seiner Jugend betrogen wurde und welchen Preis er für sein anfängliches Lebensglück zahlte. Darum sieht er ihn nicht nur als Täter, sondern auch als ein Opfer des Krieges. Die Jahre in der Wehrmacht haben, wie der Sohn es sieht, Karl Brenners Persönlichkeit, seinen Charakter und sein Sozialverhalten beschädigt. Mental ist er nie in der Bundesrepublik angekommen.
Aber, betont Brenner, die komplette Sicht auf seinen Vater sei ihm wichtig. Der sei eben nicht nur Opfer gewesen. Er gehörte zu den Tätern. »Er kämpfte nicht für die Nazis, er kämpfte als Nazi.« Brenner ist davon überzeugt: Diese Aussage trifft auf neunzig Prozent aller Väter in den entsprechenden Altersgruppen zu.
Wir kommen noch einmal auf seine dünnen Kontakte zu seiner Herkunftsfamilie zu sprechen. Michael Brenner sagt, er habe diese Entscheidung schon früh getroffen. Spätestens nach seinem zwanzigsten Geburtstag habe er sich für sein Leben selbst verantwortlich gefühlt. Er zweifelt nicht an den guten Absichten seiner Eltern. »Sie werden getan haben, was ihnen möglich war und so gut wie sie es eben konnten.« Ihnen die Schuld für eigene Misserfolge und Defizite zu geben, lehnt er ab. Er macht keine Vorwürfe – er sieht Prägungen und früh gelernte Muster. Freimütig bekennt er sich zu seinen »autistischen Phasen« – Reste eines Überlebensprogramms aus Kindheit und Jugend. Es kann geschehen, dass er sich ein halbes oder dreiviertel Jahr zurückzieht, wenig soziale Kontakte hat. Depressiv sei er dann nicht, versichert er, sondern er kreise dann um sich selbst.
Tendenziell sieht er sich als Einzelgänger. Seine Ehe ist gescheitert, er war mit einer sehr viel jüngeren Ausländerin verheiratet. »Natürlich denkt man da an den eigenen Vater«, fügt er hinzu. »Diese Analogien sind mir schon bewusst. Und was meine Kinderlosigkeit |170|betrifft: Kinder hätte ich mir vorstellen können, aber ich brauchte keine. Für Familie fehlten mir die positiven Vorbilder.« Als sein Vater 1981 starb, sei es für ihn eine Befreiung, aber auch ein Verlust gewesen. »Doch, ich war auch traurig, ich habe schon an ihm gehangen«, bekennt er. »Mein Vater hat viel für mich getan, er hat den Schulerfolg ermöglicht, er hat mich lange im Studium unterstützt, obwohl wir sehr kontroverse Ansichten hatten.«