In den heutigen Aussagen der Nachkriegskinder überwiegt das Mitleid mit Familienmitgliedern, die Opfer waren, auch dann, wenn sie gleichfalls Täter waren. Väter, die noch kurz vor Kriegsende eingezogen wurden, manche im Alter von 16 Jahren, werden |30|als »Kindersoldaten« eingestuft. Wer 1933 noch nicht erwachsen war, wird darüber hinaus als Opfer der fanatischen Propaganda gesehen, der sich Jugendliche kaum entziehen konnten. Im späteren Leben blieben sie häufig einer reaktionären Weltsicht verhaftet, weshalb sich die Kinder ihrer schämten. Schon deshalb hatten sie nicht so werden wollen wie ihre Eltern.
In fast allen Gesprächen wiederholte sich das große Bedauern über seichte, schwierige oder extrem spannungsreiche Beziehungen. Auf Wut oder Empörung stieß ich nur noch selten.
Fakt bleibt, man hätte es sehr viel leichter haben können, hätten die Eltern nicht jede Schuld oder profitierende Beteiligung an den Untaten der NS-Zeit zurückgewiesen, und sich damit grundsätzlich geweigert, sich dem Unbeschreibbaren zu stellen. Zu den wenigen Ausnahmen zählte der Schriftsteller Heinrich Böll – er wurde von der jüngeren Generation dafür verehrt und geliebt. Aber Fakt ist auch: Die Bedingungen für das eigene Leben hätten sehr viel schlechter sein können. Um das zu erkennen, ist der Blick auf die ehemalige DDR ein hilfreicher. Das Nachkriegselend dauerte im Osten weit länger als im Westen. Wer wusste das besser als wir Kinder, die diesseits des Eisernen Vorhangs aufwuchsen und der Mutter halfen, die regelmäßig Pakete und Päckchen »nach drüben« schickte. Dort gab es keine demokratischen Verhältnisse, kein Wirtschaftswunder, keinen Schüleraustausch mit den USA. Das erfuhr man als Kind des Westens schon lange bevor die Mauer fiel. Die deutsch-französische Freundschaft brachte vermutlich mehr Annehmlichkeiten mit sich als die deutsch-sowjetische Freundschaft. Aber auch in der DDR gab es rebellierende oder doch zumindest sich verweigernde Jugendliche. Aus der Reihe zu tanzen erforderte bekanntlich viel Mut, es konnte Verhöre durch die Stasi und drastische Gefängnisstrafen nach sich ziehen. Dagegen verblüffte mich, als ich nach der Wende von Gleichaltrigen erfuhr, sie hätten sich nicht geschämt, deutsch zu sein, sie hätten sich wegen der NS-Verbrechen nicht schuldig gefühlt, denn der offiziellen Propaganda zufolge habe man sich als |31|Erben des antifaschistischen Widerstandes gesehen. Um es noch deutlicher zu machen, griff die ehemalige DDR-Bürgerin und Bundesbeauftragte für Stasiunterlagen, Marianne Birthler, zu leiser Ironie. »Hitler war ja, wie Peter Bender es auf den Punkt brachte, Westdeutscher. Wir waren erklärtermaßen der antifaschistische Staat, und es gab auch offizielles und öffentliches Gedenken, aber wir haben über andere geredet, nicht über uns. Denn die Verbrecher – ich sag’s jetzt etwas verkürzt –, die waren alle im Westen.«1