Als ich mich aufmachte, um für dieses Buch ehemalige Wehrmachtsangehörige zu interviewen, kam ich fast zu spät. Die meisten alten Männer, die ich anrief, wollten von meinem Vorhaben nichts wissen, oder ihre Frauen hatten mir schon im Vorfeld erklärt, es rege ihren Mann zu sehr auf, man möge ihn bitte in Ruhe lassen. Ähnliches hörte ich von den Kindern noch lebender Soldatenväter: Dem Vater gehe es gesundheitlich nicht gut, und auch: Er versinke mehr und mehr in der Demenz. Doch schließlich gelang es mir, mit einem Mann Kontakt aufzunehmen, der mit 17 in den Krieg gezogen und mit 25 nach jahrelanger Gefangenschaft heimgekommen war. Herbert W. kann als Industriekaufmann auf erfolgreiche Berufsjahre zurückschauen. Mit 86 Jahren bewohnt er zusammen mit seiner Frau das Haus, in dem auch seine Kinder aufwuchsen.
Sie wurden 1924 geboren. Wann kamen Sie zur Wehrmacht?
Ich habe mich mit 17 Jahren freiwillig gemeldet, im Februar 1941. Wir alle in der Abiturklasse hatten Angst, dass wir den Krieg versäumen. Wir dachten ja, es müsste nur noch England geschlagen werden, und dann wäre der Krieg vorbei. Diejenigen, die sich freiwillig gemeldet haben, brauchten kein Abitur zu machen, sie bekamen den sogenannten Reifevermerk. Also bin ich am 12. Mai eingezogen worden und im August war ich schon in Russland.
Was hielten Ihre Eltern davon,
dass Sie sich freiwillig gemeldet haben?
Mein Vater lebte
nicht mehr. Meine Mutter war nicht sehr begeistert davon, aber sie
hat schließlich nachgegeben. Ich brauchte ja ihre Zustimmung, ich
war ja noch nicht volljährig.
|101|Wie sah Ihr erster Einsatz an der Front aus?
Ich wurde zur Artillerie einberufen und wurde als Kanonier am Geschütz eingesetzt. Ich war derjenige, der die Munition fertig machen musste. Wir waren zu fünft am Geschütz: ein Kellner, ein Bauer, ein Arbeiter und einer, der in Babelsberg eine Ausbildung beim Film machte. Es war für mich eine unglaubliche Erfahrung, denn mit dieser Art von Leuten hatte ich ja noch nie zu tun gehabt. Das ging bis Oktober, wir hatten Verluste. Danach waren wir vor Leningrad, den ganzen Winter 1941/42. Wir haben versucht Leningrad einzuschließen.
Das war also die Belagerung von Leningrad.
Ja nun, Leningrad ist nie vollkommen eingeschlossen gewesen. Nur die Eisenbahn- und Straßenverbindungen waren abgeschnitten. Im Osten gab es einen Zugang über den Ladogasee, im Winter übers Eis. Ab November, Dezember war der Krieg stationär. Wir lagen uns gegenüber. Es gab keine große Bewegung bei teilweise minus 50 Grad. Im Februar habe ich Gelbsucht gekriegt und den großen Zeh erfroren, weil es keine anständige Winterausrüstung gab, und bin dann nach Deutschland ins Lazarett gekommen. Die zweite Hälfte meiner Kriegszeit bin ich in Jugoslawien gewesen und habe dieselben Erfahrungen gemacht, die jetzt die Soldaten in Afghanistan machen: Partisanenkrieg.
Und wie lange waren Sie in Jugoslawien?
Bis August 1944. Dann kam ich zur Offiziersschule nach Großborn in Pommern. Vorher gab es vier Wochen Urlaub, unglaublich, eine große Ausnahme, zu diesem Zeitpunkt gab es keinen Heimaturlaub mehr. Aber ich ging jeden Tag bei herrlichem Wetter ins Strandbad. Ab September besuchte ich in Ostpommern die Artillerieschule und wurde zum Leutnant befördert. Ende Januar/Anfang Februar sollte die Schulung beendet sein, aber wegen der russischen Offensive gingen wir alle an der Ostgrenze bei Schneidemühl in Stellung. Anfang März wurden wir von den Sowjets |102|überrollt, aber nicht gefangengenommen. Ich hatte fünfzig Mann unter mir, die habe ich in Zehnergruppen aufgeteilt und gesagt, wir versuchen uns nach Westen bis zur deutschen Front durchzuschlagen. Das waren sehr abenteuerliche vier Wochen, immer nur nachts marschiert, tagsüber zum Schlafen Löcher gegraben und mit Zweigen abgedeckt. Wir gerieten in das Aufmarschgebiet für die Offensive auf Berlin. Am 1. April Ostersonntag um 12 haben sie uns erwischt und am 9. Oktober 1949 bin ich nach Hause gekommen.
Also mehr als acht Jahre Krieg und Gefangenschaft …
Ja, als ich heimkam, war ich 25. Da konnte ich erst anfangen zu studieren. Ich meine, das darf man ja auch nicht vergessen: Nach dem Völkerrecht durfte es nicht sein, dass wir nach Kriegsende fünf Jahre als Zwangsarbeiter in der Sowjetunion festgehalten wurden. Wenn der Krieg zu Ende ist, müssen die Kriegsgefangenen entlassen werden. Das haben wir mit den Holländern gemacht, mit den Franzosen usw., in den früheren Stadien des Zweiten Weltkriegs.
Sie haben mir gegenüber erwähnt, Sie hätten Glück gehabt als Gefangener. Wieso?
Weil ich mich als Gefangener mit den Russen verständigen konnte. In Jugoslawien hatte ich eine Menge Serbokroatisch gelernt, und darauf konnte ich aufbauen. Ich habe sehr schnell Russisch gelernt. Ab Sommer 1946 bin ich im Büro tätig gewesen. Ab Januar 1947 kam ich nach Moskau, das war praktisch ein Lotteriegewinn, denn Moskau war besser mit Lebensmitteln versorgt als jeder andere Ort in der Sowjetunion. Einmal haben wir einen Hungerstreik gemacht, da kam sofort eine Kommission aus dem Innenministerium und hat unsere Lage überprüft. Insofern ist es uns sehr viel besser gegangen als den meisten anderen deutschen Gefangenen. Wir haben auch Hunger gehabt, aber wir konnten Geld verdienen. Unser Lager in Moskau funktionierte nach dem |103|Gulagsystem. Das heißt: Die Vorschriften, die im Gulag galten, galten auch für uns.
Wie kam es, dass Sie so gut über die Lagervorschriften Bescheid wussten?
Das erste Lager, in dem ich mich befand, wurde aufgelöst. Wir mussten uns nackt aufstellen und ein Arzt entschied, wer körperlich zu welcher Arbeit in der Lage war. Während dieser Phase gab einen Personalinspektor, der hat mich in seinem Büro eingeschlossen mit dem Auftrag, die Personalpapiere fertig zu machen. Da standen die ganzen Vorschriften im Schrank. Die habe ich mir angesehen und gut gemerkt. Ich wusste also, was sie mit uns Gefangenen machten durften und was nicht. In der ersten Nachkriegszeit waren viele Gefangene verhungert. Da gab es ganz harte Befehle, damit sich das nicht wiederholte. Zum Teil war das Theorie. Wenn Gefangene verhungert sind, lag das daran, dass es nichts oder zu wenig zu essen gab. Es wurden etwa eine Million Gefangene bei Kriegsende nach Russland transportiert, 15 Prozent sind gestorben.
Wo gingen Sie tagsüber arbeiten?
In Moskau vorwiegend im Wohnungsbau. Ich war »Arbeitsingenieur«, ich organisierte die Arbeit. Das war mein Glück. Ich musste nicht körperlich arbeiten.
Wie waren Ihre Kontakte zur russischen Bevölkerung?
Immer positiv. Die Kriegsgefangenen haben ja mit den Russen zusammengearbeitet. In meinem Fall war es eine Zeitlang eine sehr hübsche Ingenieurin. Mit ihr habe ich dann am besten Russisch gelernt. Wir haben auch heimlich miteinander geschlafen. Das war alles drin, nur nicht auf Dauer. Eines Tages schöpften sie Verdacht. Dann wurde es unterbunden, und ich habe sie nie wieder gesehen. Die Bevölkerung war immer sehr freundlich. Die alten Frauen haben uns Mut machen wollen, wenn sie bei jeder |104|Gelegenheit sagten: Es kann nicht mehr lange dauern – ihr kommt bald nach Hause. Und ich muss ganz ehrlich sagen: Wir haben die Russen bedauert. Denn wir haben gewusst: Eines Tages kommen wir nach Hause, aber sie müssen immer hier bleiben. Sie lebten unter armseligen Bedingungen, das hat man ja gesehen, sie wohnten zum Teil in großen Gemeinschaftsunterkünften, dazu der Zwang, dem sie ausgesetzt waren.
Wie sah Ihre finanzielle Lage als Gefangener aus?
Zuletzt, also ab 1947/48 einigermaßen. Wir bekamen maximal 150 Rubel für unsere Arbeit ausbezahlt. Das heißt: Es gab die Lagerverpflegung und von unserem Verdienst konnten wir uns zusätzlich Nahrungsmittel kaufen. Ein Brot kostete zu der Zeit 3 Rubel. Da hatte man keinen Hunger mehr. Ein Problem war die Kleidung. Die Schuhe gingen am schnellsten kaputt.
In wie vielen verschiedenen Lagern waren Sie?
In vier Lagern. Im Prinzip ging es mir immer besser. Zuletzt war ich im Wohnungsbau eingesetzt.
Was war denn für Sie das Schlimmste in der Gefangenschaft?
Die Unsicherheit. Man wusste ja nicht, ob man jemals wieder nach Hause kommt. Fliehen hatte auch keinen Zweck. Ich weiß nur von einem, ein Sudetendeutscher, der es bis nach Hause geschafft hat. Der hat uns eine Karte geschrieben. Wenn sie einen Flüchtenden wieder eingefangen hatten, wurde er der Lagerbewachung übergeben, und die hat ihn halb totgeschlagen.
Dem Vater einer meiner Gesprächspartnerinnen ist es so ergangen, er war im »Knüppelgang«.
Das war furchtbar. Das habe ich selbst einmal gesehen. – Ich habe mir die ganze Zeit gesagt, du musst überleben, du musst sehen, wie du durchkommst. Ich glaube, ich habe sehr günstige Wege gefunden und auch viel Glück gehabt, so dass es mir besser ergangen |105|ist als 95 Prozent der anderen. Wer 1949 noch in Russland war, der war auch kräftig und gesund. Auf der Baustelle arbeiteten viele Studentinnen von einer benachbarten Hochschule. Die Mädchen waren ganz scharf auf die gut aussehenden jungen Deutschen. Da gab es manche Freundschaft. Das gehörte auch mit zu unseren Erlebnissen.
Wie groß war die Unsicherheit in der Frage, ob und wann Sie entlassen würden?
Es war uns versprochen worden, wir würden Ende 48 repatriiert. Aber es geschah nichts. Anfang Januar war in der Prawda zu lesen, die Westalliierten hätten auf ein bestimmtes Abkommen zur Freilassung der Kriegsgefangenen hingewiesen. Die Sowjetunion hat sich auf Transportschwierigkeiten berufen. Was aber unsere Lage verschlimmerte: 1949 fing die Suche nach Kriegsverbrechern unter den Gefangenen an, und zwar nach einem sehr groben Raster. Wenn man zum Beispiel 1941 bei einer Division war, die 1943 an Kriegsverbrechen beteiligt war, gehörte man automatisch zu den Verdächtigen. In unserem Lager wurden im Keller Arrestzellen eingerichtet und es kam zu Verhören. Es war eine furchtbare, verzweifelte Stimmung. Diejenigen, die pauschal als Kriegsverbrecher eingestuft wurden, mussten gewöhnlich tagsüber noch arbeiten und wurden am Abend mit Lastwagen abgeholt. Wer abgeholt wurde, stand auf der Liste vermerkt, die ich als Arbeitsingenieur bekam und verlesen musste. Voll Spannung habe ich sofort nachgeschaut, ob ich auch auf der Liste vermerkt bin. Die sogenannten Kriegsverbrecher wurden später zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Das waren die 10 000, die 1955 von Adenauer heimgeholt wurden.
Wann wurde Ihr Lager in Moskau aufgelöst?
Ende September 1949. Plötzlich musste alles ganz schnell gehen. Es kam dann am Bahnhof zu herzzerreißenden Abschiedsszenen, zwischen den Deutschen und ihren Freundinnen. Ich hatte nicht |106|einmal mehr die Zeit, mein Geld auszugeben, ein paar hundert Rubel. Die habe ich dann, kurz bevor wir in Brest-Litowsk die Sowjetunion definitiv verließen, einem Landsmann gegeben, der noch dort bleiben musste.
Sie sind als 17-Jähriger losgegangen und als 25-Jähriger zurückgekommen. Sie sind als Jugendlicher aufgebrochen und als Erwachsener mit viel schlechter, aber auch verantwortungsvoller Erfahrung heimgekehrt.
Diese Erfahrungen habe ich nie vergessen. Ich habe immer gesagt: Mir kann nichts mehr passieren. Ganz egal, was kommt, ich werde mit allem fertig werden. Ich war Gott sei Dank gesund. Anfang Oktober 1949 kam ich nach Hause.
Schon drei Wochen später begann in Göttingen das erste Semester.
Was war Ihr größter Wunsch auf dem Weg nach Hause?
Ein richtiges Bett! Neun Jahre hatte ich kein richtiges Bett gehabt. Neun Jahre war ich nicht auf einem WC gewesen.
Sie haben später nie Camping gemacht, oder?
Doch, einmal. Ich bin mit Freunden in Holland gesegelt. Da musste man eine öffentliche Wasch- und Toilettenanlage benutzen. Eine solche Gemeinschaftseinrichtung war nichts mehr für mich.
Würden Sie sagen, dass Sie in dieser Zeit, in der Sie so schnell erwachsen werden mussten, etwas unwiederbringlich verloren haben? Oder würden Sie sagen, Sie sind unbeschadet durchgekommen?
Im Wesentlichen bin ich gut durchgekommen. Ich hatte den Wunsch, diese verlorene Zeit möglichst schnell aufzuholen. Nach drei Jahren war ich schon Diplomkaufmann. Insofern kann ich nicht sagen, dass es da Belastungen oder Beschädigungen gab.
|107|Hatten Sie eine Zeitlang schlimme Träume?
Ja, Horrorträume. Jahrzehntelang habe ich geträumt, ich sei wieder in Gefangenschaft und wüsste nicht, wann ich nach Hause käme.
Gab es Menschen, die sagten, früher warst du anders?
Ich hatte zu denjenigen, die ich aus meiner Schulzeit kannte, kaum mehr Kontakt. Die Hälfte meiner Klassenkameraden ist gefallen oder wurde vermisst. Diejenigen, mit denen ich befreundet war, haben nicht überlebt. Außerdem hat man sich natürlich auch normalerweise nach neun Jahren verändert.
Wann haben Sie von der Vernichtung der Juden gehört?
Im Gefangenenlager in Posen hingen am Schwarzen Brett Bilder von den KZs. Da haben wir zunächst einmal reagiert wie: 1914/18 wurde auch behauptet, die Deutschen hätten den Kindern die Hände abgehackt u. ä. Den Holocaust haben wir erst später allmählich als Realität kennen gelernt. In den ersten Jahren bekamen wir keine Informationen und waren sehr mit unserem eigenen schweren Schicksal beschäftigt. Ab 1948 bekamen wir dann in Moskau DDR-Zeitungen. Dann bestand die Möglichkeit allmählich von den Ereignissen zu hören, die sich in der Zeit bis dahin abgespielt hatten.
Haben Sie während Ihrer Wehrmachtszeit von den Verbrechen gehört?
Nein.
Auch nicht in Jugoslawien?
Nein. Bei uns gab es keine Kriegsverbrechen. Wir haben ja dort einen Krieg gegen Partisanen geführt, die keine Gesetze kannten. Wir wussten: Sie würden uns als Gefangene sofort töten. Aber wir haben Partisanen gefangengenommen. Sie kamen dann in Kriegsgefangenenlager. Das müssen Sie sich so vorstellen wie |108|heute in Kundus. Wir lagen in einer Stadt und haben versucht, die Gegend zu befrieden, und da sind wir oft in Fallen gelaufen. Die Partisanen kannten das Gelände viel besser als wir. Und wer ihnen in die Hände fiel, der war tot. Das wussten wir. Daher waren wir sehr auf uns und unsere Lage konzentriert. Da gab es kaum Zeit und Gelegenheit, sich für andere Geschehnisse zu interessieren. Heutige Menschen, die mit Informationen von den Medien überflutet werden, die Fernsehen, Radio, Telefon und Handy haben, können sich kaum vorstellen, dass es das alles nicht gab und dass Menschen, die vielleicht verboten am Radio feindliche Sender hörten, zum Tode verurteilt wurden, wenn es ruchbar wurde. Wir bekamen in Jugoslawien gelegentlich eine deutsche Zeitung. In der stand nichts, was wir nicht wissen sollten.
Wie lange hat Ihre Begeisterung für den Krieg angehalten?
Begeisterung hat es eigentlich überhaupt nicht gegeben. Wir führten einen uns aufgezwungenen Krieg und mussten unser Land verteidigen. Da wollten wir nicht zurückstehen. Die Realität des Krieges habe ich ganz schnell im Winter 1941/42 kennen gelernt, die vielen toten Kameraden, die wir begraben haben. Ich selbst habe auch keine positiven Siegeserlebnisse gehabt, sondern wir sind ganz schwer vorwärts gekommen und dann zurückgeschlagen worden.
Bei Leningrad?
Ja. Da habe ich gewusst, was Krieg ist und dass dieser Krieg lange dauern würde. Man hat natürlich noch gehofft, dass er gewonnen würde – bis Stalingrad. Man hatte als Soldat ja auch keinen Einfluss auf das Geschehen, man konnte ja nicht weglaufen. Ich habe noch Glück gehabt, denn vier Jahre in Russland hätte ich wahrscheinlich nicht überlebt. Eines Abends entdeckte ich einen Ausschuss aus meinem Koppelschloss. – Das Koppel kann ich Ihnen noch heute zeigen! Ich habe es noch. Ich dachte: Seltsam, der Schuss muss doch durch deinen Bauch gegangen sein, und du |109|hast nichts bemerkt. Ich hatte großes Glück, denn der Schuss traf die Patronentasche, die am Koppel befestigt war und darin eine Patrone. Dadurch wurde er abgelenkt und trat am Koppelschloss wieder heraus und hinterließ einen 2 cm großen Ausschuss.
Haben Sie eigentlich begriffen, was die Deutschen in Russland wollten? Ich meine, die Bevölkerung dort war so arm, das haben Sie ja vorhin auch geschildert.
Es gab zwei Gründe: Der Kommunismus mit seiner bekannten Grausamkeit bedrohte uns. Wir kannten das ja aus der Zeit vor dem Krieg. Die ganze Welt sollte kommunistisch werden. Wir haben einen Präventivkrieg geführt. Dazu gab es die Wahn-Idee vom Volk ohne Raum. Da lockte die Kornkammer der Ukraine.
Haben Sie mal irgendwann gedacht: Meine Güte, was machen wir hier, die Leute sind so bettelarm, denen geht’s doch so viel schlechter als uns …
Ich glaube, darüber haben wir nicht nachgedacht. Der Krieg wurde uns so dargestellt, als müssten wir uns gegen den Bolschewismus verteidigen. Und ich meine: Die standen ja auch da! Ob die auch zu uns gekommen wären, wenn wir nicht vorher zu ihnen gekommen wären, das weiß man nicht. Die Geschichtsforschung ist da, glaube ich, nicht ganz am Ende.
Sie waren ein normaler deutscher Junge aus bürgerlichen Verhältnissen. Sie sind jahrelang der NS-Propaganda ausgesetzt gewesen. Wie haben Sie es verkraftet, dass Sie diesem Regime vertraut haben?
Man braucht viel Zeit dafür. Ich meine, wir haben bezahlt dafür. In den viereinhalb Jahren haben wir als Kriegsgefangene völkerrechtswidrig Zwangsarbeit geleistet. Wir haben uns nicht schuldig gefühlt. Wir haben gesagt: Wir sind eigentlich auch Opfer.
|110|Meine Frage bezog sich auf diese bodenlose Enttäuschung, auf das Erkennen, missbraucht worden zu sein.
Zunächst ist man natürlich am Kommunismus interessiert. Ich habe ja in Russland die entsprechende Literatur bekommen. Die ökonomische Entwicklung war positiv. Es ging der Bevölkerung von Jahr zu Jahr besser. Aber es tauchte natürlich schnell der Widerspruch auf zwischen dem, was als Anspruch in den Büchern stand und was ich ringsum als Realität wahrnahm. Die Willkür und Gewalt ist in den Geschichtsbüchern immer mit Bekämpfung von Verrat erklärt worden.
Konnten Sie erkennen, dass es sich um ein paranoides System handelte?
Natürlich, wir hatten ja viel Zeit dazu.
Was Sie beschrieben haben, ist der intellektuelle Weg der Verarbeitung. Wie ging das emotional? Wie sind Sie damit umgegangen?
Wir haben uns gesagt: Das haben wir erlitten. Das ist jetzt vorbei. Wir müssen den Blick nach vorne richten.
Hatten Sie nach dem Krieg noch Kontakt mit anderen Männern aus Ihrer Wehrmachtszeit?
Ja, aber nur ganz sporadisch. Ich habe über meine Gefangenschaft ein Buch geschrieben. Das war für mich der Versuch, das zu verarbeiten, auch weil ich immer wieder davon geträumt habe. Solange ich im Beruf war, habe ich keine Zeit für solche Sachen gehabt. Ich habe aber immer davon erzählt, überall. Ich war beruflich viel im Ausland unterwegs. Manchmal saß ich mit Amerikanern, auch mit Juden zusammen und es kam vor, dass ich die halbe Nacht erzählt habe. Sie waren begierig davon zu erfahren, denn keiner hatte jemals davon gehört. Als ich dann pensioniert war, haben meine Kinder gesagt, das solltest du aufschreiben – das sollten mehr Menschen wissen.
|111|Haben Sie sich nach dem Krieg, nachdem Sie vom Holocaust erfahren hatten, nie geschämt, Deutscher zu sein?
Ich würde sagen: Nein. Ich habe damit nichts zu tun gehabt. Ich habe es nicht gewusst – ich hätte es auch nicht verhindern können, wenn ich es gewusst hätte. Ich rechne auf. Ich sage, dies ist nicht das Einmalige, als das es hingestellt wird. Die Franzosen haben fürchterliche Sachen noch nach dem Zweiten Weltkrieg in Algerien gemacht. Mao hat Millionen umgebracht, der Kommunismus hat Millionen umgebracht. Also, wir sind nicht nur die allein Schlechten, es gibt genug Schlechte – und das muss man einfach auch akzeptieren. Das ist wahrscheinlich nicht die politisch vorherrschende Meinung in Deutschland, aber es ist so. Dass an die Juden Entschädigungen gezahlt wurden, das sehe ich ein. Ich bin bestimmt kein Antisemit, ich habe auch eine jüdische Patentante gehabt – dass aber zum Beispiel der Zentralrat der Juden eine Stimme hat, als würde er in Deutschland 30 Millionen vertreten, und dann Dinge sagt, die absolut inakzeptabel sind, das finde ich nicht gut.
Man sieht – die Vergangenheit reicht immer noch in die heutige Zeit hinein, und deshalb würde ich gern noch über die Wehrmachtsausstellung sprechen. Das muss doch ein Schock für Sie gewesen sein.
Ja, absolut. Die Ausstellung ist auch großen Teils unwahr gewesen und tendenziös. Was ich weiß: Die Wehrmacht ist an diesen Dingen nicht oder kaum beteiligt gewesen. In Russland gab es diesen großen Bereich hinter der Front, wo der Nachschub durch transportiert werden musste. Da waren zur Sicherheit Landesschützen eingesetzt, ältere Männer, die noch eingezogen worden waren, aber nicht mehr fronttauglich waren. Und dort sind die Partisanen bekämpft worden, es war ja Krieg! Und nach der Genfer Konvention waren Partisanen rechtswidrig.
|112|Sie sprechen jetzt von der in der Wehrmachtsausstellung thematisierten Partisanenerschießung …
Ja, und ich meine, wenn man Soldat im Krieg ist, dann geht es nicht mehr darum, was ist gerecht und was ist gut, sondern dann muss man eben einfach die Befehle befolgen, und die lauteten: Die Versorgung der Front muss sichergestellt werden. Aber die Massenerschießungen, das war die SS. Daran war die Wehrmacht nicht beteiligt. Das ist aber in Zweifel gezogen worden durch diese Ausstellung. Philipp Reemtsma hatte einen Vater, der die Nazis so stark unterstützt hat, dass der Sohn ein schlechtes Gewissen hatte – also hat er versucht, auf diese Weise wieder etwas gut zu machen. So sehe ich das.
Sie selbst waren Kriegsteilnehmer, haben aber nach dem Krieg bei sich keine Schuld gesehen. Nun kommt da eine Generation der Nachgeborenen. Und die Nachgeborenen sagen, sie hätten sich lange Zeit als Deutsche schuldig gefühlt oder sie tun es heute noch – obwohl ihnen ständig gesagt wurde: Ihr müsst euch nicht schuldig fühlen, ihr habt diese Zeit nicht einmal miterlebt, Schuld ist immer individuell, eine kollektive Schuld gibt es nicht. Wie war das bei Ihren Kindern?
Das Gymnasium unserer Kinder hatte eine enge Kooperation mit einer Highschool in Haifa. Meine Töchter sind beide in Israel im Kibbuz gewesen, sie sind dort sehr gut aufgenommen worden, und wir haben hier im Haus auch jüdische Kinder aus Israel als Gäste gehabt. In diesem Zusammenhang haben natürlich Diskussionen über den Holocaust stattgefunden. Dass wir während des Krieges davon nichts gewusst haben, das wird nicht geglaubt. Das kann man sich in einer Mediengesellschaft heute auch nicht vorstellen, dass so etwas geheim gehalten werden kann. Ich habe darüber schon früher in diesem Interview gesprochen. Helmut Schmidt, der hoch angesehene Altbundeskanzler, hat in einem Buch geschrieben, er hätte bis zum Kriegsschluss nichts gewusst, und er war Offizier und lange Zeit in Deutschland eingesetzt.
|113|Es bleibt der Fakt, dass die Nachgeborenen erst im Jahr 2006 zur Fußballweltmeisterschaft mit gutem Gewissen und mit Freude die deutschen Fähnchen an ihr Auto befestigt haben.
Das schlechte Gewissen war entstanden, weil es ihnen eingebläut wurde, auch von deutscher Seite. Und es ist noch nicht zu Ende mit dieser Beeinflussung.
Die Nachgeborenen wuchsen normal auf, dann mit 12–14 Jahren erfuhren sie vom Holocaust. Ist es für Sie nachvollziehbar, dass die positive Identifikation mit dem eigenen Land darunter erheblich leidet?
Ja. Ich muss selber sagen, ich bin nicht nach Israel gefahren. Nach Yad Vashem hätte ich nicht gehen können, das hätte ich nicht gekonnt. Da hätte ich mich wahrscheinlich auch geschämt. Meine Frau ist in Israel gewesen, die Kinder sind dort gewesen, ich habe eine halbjüdische Schwiegertochter. Aber jetzt, glaube ich, könnte ich nach Israel fahren. Da hat sich in mir etwas verändert. – Aber eines ist mir noch wichtig zu sagen: Die traurige Gewissheit ist, dass das Töten von Millionen Menschen überall passieren kann und geschehen ist, dass Menschen in der Lage sind, auf Befehl solche Dinge zu tun. Davon bin ich überzeugt. Man muss sich hüten zu sagen: Das kann nie wieder passieren. Da muss man aufpassen!
In den Schilderungen von Herbert W. werden viele Deutsche ihre eigenen Soldatenväter wiedererkennen: Männer, die sich durchweg als Opfer sahen, und bei denen in der Erinnerung häufig die Gefangenschaft und nicht das Kriegsgeschehen im Vordergrund stand. In ihren Berichten spielten die durch die Wehrmacht begangenen Kriegsverbrechen keine Rolle, zum Beispiel die schändliche Behandlung russischer Gefangener, durch die die Hälfte ums Leben kam. Ebenso war es Konsens unter den ehemaligen Kriegsteilnehmern, die Millionen Opfer des Holocaust gegen die |114|Massenverbrechen anderer Machthaber aufzurechnen. Sie sahen keinen Grund, sich als Deutsche in besonderer Weise schuldig zu fühlen. Wenn sie entsprechende Schamgefühle bei den eigenen Kindern entdeckten, empfanden sie diese als völlig überzogen und glaubten, dies sei ihnen von außen »eingebläut worden«, wie Herbert W. es nennt. Das Interview mit ihm hat mir noch einmal vor Augen geführt, wie schlecht die Chancen für Soldatenväter und ihre Friedenskinder standen, NS-Zeit und Krieg auch nur annähernd übereinstimmend zu bewerten. Wenn Jugendliche anfingen, ihre Eltern zu fragen: »Was habt ihr im Krieg gemacht?« und diese mit Schweigen antworteten, wuchs auf beiden Seiten das Misstrauen. Die weit verbreitete Sprachlosigkeit zwischen den Generationen war womöglich noch das Beste, was geschehen konnte, um ein Auseinanderbrechen der Familie zu verhindern.