»Ich glaube, mein Vater hat mich als Kind kaum wahrgenommen«, sagt Reinhard Pahle, während er im Kamin Holz nachlegt. »Ich hatte auch Angst vor ihm. Er war ja so stark und groß, und ich war so unsicher. Immer meine Sorge: Mache ich es ihm recht?« Er beschreibt sich als ein weiches, fast weinerliches Kind, das häufig den Satz zu hören bekam: »Sei doch nicht so empfindlich«. Einmal bewarf ihn der jüngere Bruder mit Steinen. Er bat den Vater einzugreifen, aber der lachte nur und stellte sich auf die Seite des anderen. Für den Vater war klar: Wer sich nicht wehrt, hat selbst Schuld. Dennoch war Reinhard als Kind der Überzeugung: Ich habe es gut. Mir fehlt nichts. Damit lief er lange durchs |132|Leben. Erst in der psychosomatischen Klinik begriff er, dass es keine gute Kindheit war, dass ihm die Grundlagen für ein stabiles Selbstbewusstsein fehlten, mit der Folge, dass er seinen Arbeitseinsatz ständig überzog. Er kannte das Maß nicht. Wann hatte er genug getan? Seinem Gefühl nach war es nie genug. Auf diese Weise manövrierte er sich in ein Burnout.
Heute weiß er: Kindheitserinnerungen, die so spät einsetzen wie bei ihm, sind ein Merkmal der emotionalen Unterversorgung. Erinnern muss man mit Kindern einüben. »Aber wir Kinder waren in dieser Familie so unwichtig, dass man überhaupt keine Erinnerungskultur gepflegt hat«, erklärt er. »Mein einziges Fotoalbum habe ich von der Grundschule bekommen. Die Familienfotos kamen in eine Kiste, die wurde nur selten geöffnet.« In der Familie seiner Frau gebe es eine ausgeprägte Fotoalbenkultur, fährt er fort, dies könne ihn regelrecht neidisch machen. Auch seien dort die verwandtschaftlichen Beziehungen sehr gepflegt worden – im Unterschied zu seiner Familie, wo man darauf keinen Wert gelegt habe, entsprechend spärlich seien heute die Kontakte zu seinen Verwandten.
Im Laufe unseres Gesprächs tauchen dann doch mehr Erinnerungen auf, als ich auf Grund seiner Ankündigung erwartet habe. Zum Beispiel, wie Vater und Mutter sich auf einen Betriebsausflug vorbereiteten, in dem sie das korrekte Essen mit Messer und Gabel übten, denn beide kamen aus einem einfachen Bauernmilieu, wo die Pfanne mit der Bratwurst mitten auf den Tisch gestellt wurde. Der Sohn erzählt von der Einweihungsparty im neuen Haus, ein Fest mit Verwandten. Man trank viel, grölte Nazilieder, man hatte sich Hitlerbärtchen angemalt. Ein Ulk sei das gewesen, sagt er, davon gebe es noch Fotos. Sein Vater sei in den 1940er Jahren in die NSDAP eingetreten, allerdings kenne er das Motiv nicht. Im Grunde gebe es nur zwei Möglichkeiten: Karrierevorteile oder Bewunderung für den siegreichen Führer.
Vom Krieg hörte der Sohn so gut wie nichts, aber immer wieder redete der Vater von den Schafen in Russland, Schafe mit |133|breiten Schwänzen, »wie Butterpakete«. So etwas prägt sich tief ein in Menschen, für die jahrelang der Hunger der schlimmste Feind war. Doch man darf sich Karl-Ernst Pahle nicht als Russenhasser vorstellen, er sah sich im Kalten Krieg auch nicht von der Sowjetunion bedroht. Eines stand für ihn unzweifelhaft fest: »Meine Söhne gehen nicht zum Militär!«
An einem Herbsttag im Jahr 1969 kam der Vater nicht mehr nach Hause. Zunächst machte sich die Familie keine Sorgen. Man dachte, man müsse einfach nur warten. Schon mehrmals war er ohne Erklärung verschwunden, er war nach drei Tagen oder einer Woche heimgekehrt und hatte so getan, als sei nichts gewesen. So wartete seine Familie auch diesmal einigermaßen gefasst. Später stellte sich heraus: Karl-Ernst Pahle hatte am Morgen des Tages, als er zum letzten Mal gesehen wurde, eine heftige Auseinandersetzung mit seinem Vorgesetzten gehabt. Angeblich attackierte er den Chef mit einem Stuhl – andere Mitarbeiter konnten ihn zurückhalten und Schlimmeres verhindern. Man rief seinen Hausarzt herbei. Der gab ihm eine Beruhigungsspritze und meinte: »Herr Pahle, so geht das nicht weiter. Sie müssen mal richtig raus …« Reinhards Vater war klar, was der Doktor damit meinte: Er wollte ihn ins »Irrenhaus« schicken.