Der Neffe wurde den Töchtern vorgezogen

Erich Mallek hatte seinen in der Nachbarschaft lebenden Neffen Jochen den Töchtern vorgezogen. Mit ihm unternahm er ausgedehnte Wanderungen. Mit ihm unterhielt er sich gern. Männergespräche. Jochen wusste sie zu schätzen. Oft hörte Iris, wie der Jugendliche den Älteren aufforderte: »Komm Erich, lass uns wieder für 50 Pfennig diskutieren.«

Iris litt, weil sie als Mädchen nicht ernst genommen wurde – nicht würdig genug war, um Vaters wohlwollende Aufmerksamkeit zu verdienen. Das schwäche sie bis heute, glaubt sie, an Selbstbewusstsein und Vertrauen ins Leben habe es ihr immer gemangelt. »Mit dem Vater gab es nur die Sonntagsspaziergänge, alle fein angezogen«, berichtet sie. »Wir mussten Beeren pflücken, was ich furchtbar fand.« Ihr Vater sei auch viel allein im Wald gewesen, erinnert sie sich. »Dorthin ist er regelrecht geflüchtet, wenn ihm alles zu viel wurde. Er war ja immer voller Spannung |75|und hat wie ein Schlot geraucht. Ich habe ihn nie entspannt erlebt.« Doch das Merkwürdige ist: Obwohl er keine Widerworte duldete und seinen Töchtern das Naturerlebnis an jedem Sonntag geradezu aufzwang, profitiert seine Älteste bis heute davon. Erich Mallek kannte jeden Baum und jeden Felsen »Trotz des Drucks hat er mir einen guten Naturbezug vermittelt«, sagt sie »Dass ich weiß, wie Bäume heißen, dass ich weiß, welcher Vogel da fliegt, das hab ich von meinem Vater …« Ihre Stimme wird zittrig. »Gleich fange ich an zu heulen …« Iris Mallek schenkt mir Tee nach, was sie ein bisschen beruhigt.

Noch etwas anderes sei positiv gewesen, fällt ihr plötzlich ein. Er habe seine Kinder zu Höflichkeit und Rücksichtnahme erzogen. Nein, dies finde sie heute absolut nicht altmodisch, sondern richtig und notwendig. Sie würde ihren Vater sogar als liberal bezeichnen. Der hätte, würde er noch leben, gewiss weniger Vorurteile als sie – sie finde muslimische Frauen mit Kopftuch unerträglich.

Erich Mallek mochte keine Leute mit Standesdünkel. Für ihn sind alle Menschen gleich gewesen, für ihn gab es kein Oben und Unten. Nur für die Frauen seiner engsten Umgebung galt das nicht. Die hatten sich ihm unterzuordnen. Iris berichtet von einer Situation, die fast vierzig Jahre zurückliegt. Zu Ostern trafen sich die vier Schwestern, die inzwischen alle in der Großstadt lebten, in ihrem Elternhaus. Wenn sie mit ihrer Stiefmutter zusammensaßen, gab es immer viel zu erzählen. Plötzlich riss der Vater die Tür auf und brüllte: »Vier Weiber hocken einfach zusammen und quatschen, dabei ist nicht mal die Treppe geputzt!« Seine Älteste stand auf und brüllte zurück: »Hättest ja die Treppe selber putzen können, anstatt auf deinem faulen Hintern zu sitzen.«

Seit Iris ihr Elternhaus verlassen hatte, ließ sie sich von ihrem Vater nicht mehr einschüchtern. Sie fühlte sich genau so stark wie er, und manchmal sogar stärker. Die Tochter konnte ungeheuer wütend werden, wenn er seine Frau vor anderen demütigte. Eines Tages, bei einem Kaffeetrinken mit Verwandten, war Erich Mallek |76|ganz besonders übler Laune, und ein Regen von Beleidigungen ging auf seine Frau nieder. »Niemand kam meiner Stiefmutter zur Hilfe«, erinnert sich Iris. »Da bin ich ausgerastet und habe ihn angebrüllt: ›Weißt du, warum ich keinen Mann gefunden habe? Weil ich so ein Arschloch als Vater habe!‹ – Da wurde er aschfahl und verließ den Raum.«

Der Gedanke war selbst für Iris völlig neu, und er entsprach der Wahrheit. Der Satz kam aus den tiefsten Tiefen – sie hatte ihn regelrecht erbrochen. Aber die Wahrheit half ihr nicht weiter. Am Grundproblem, an ihrem Misstrauen gegenüber Männern, änderte diese Erkenntnis nichts. »Das Männerbild, das mein Vater mir hinterließ, war eine Katastrophe«, stellt sie fest: »Wenn ich mich in einen Mann verliebte, musste der genau das Gegenteil von meinem Vater sein. Wehe, da ist jemand aufgebraust oder er wollte unbedingt Recht behalten oder er wollte faul sein und sich bedienen lassen … Was ich damit sagen will: Wenn ein Mann nur einen einzigen Funken des Verhaltens meines Vaters zeigte – dann war es von meiner Seite vorbei.« Anderseits, erklärt sie mir, habe sie auch keine Weicheier geschätzt, die zu allem Ja und Amen sagen, sondern der Mann, den sie sich wünschte, sollte ruhig und souverän sein.

Ich sage ihr, ein so perfektes Exemplar sei mir noch nicht über den Weg gelaufen. Und dann frage ich sie, wie das denn funktionieren solle: Alle Frauen und Männer ihrer Generation seien mehr oder weniger in Rollenklischees gebadet worden. In jedem Mann, der Karl May und Jerry Cotton – wo Frauen bekanntlich nie eine Rolle spielten – verschlungen habe, stecke ein Macho-Reflex, der noch heute gelegentlich aufblitze …