Die Theaterfrau trägt einen Blaumann, verwaschene Jacke und Hose, und sieht darin aus wie ein Handwerker der Sechziger. Seit drei Jahrzehnten versorgt sie kleine private Theater mit Bühnenbildern. Weil sie selbst finanziell am Rande der Existenz lebt und nie anders gelebt hat, bedeuten für sie Aufträge mit kleinen Budgets nicht Einschränkung sondern Herausforderung. Ihr Improvisationstalent wird gerühmt. Iris Mallek, so heißt es in der Szene, löst jedes Bühnenproblem.
Sie ist ausgebildete Tischlerin. Mit 20 Jahren zog sie in die Großstadt. Über den zweiten Bildungsweg holte sie das Abitur nach, dann studierte sie Politologie und Sozialwissenschaften – das Modestudium der damaligen linksorientierten Studenten. In den Semesterferien jobbte sie, denn sie wollte ihren Vater nicht um Unterstützung bitten. Sie dachte, sie könne genügend Geld auf die Seite legen, um für die Examenszeit ausreichend versorgt zu sein. Aber dann entdeckte sie ihre Liebe zum Theater, wo die |70|Aushilfsarbeiten – wenn auch erbärmlich bezahlt – weit mehr Spaß machten als im Büro. Irgendwann strich sie ihre Examenspläne und wurde Bühnenbildnerin.
Sie lebt und arbeitet in einem Stadtteil, in dem inzwischen über die Hälfte der Familien ursprünglich aus arabischen Ländern stammen. Die Arbeitslosigkeit ist beunruhigend hoch. Iris macht deutlich, sie fühle sich nicht mehr wohl, weil die meisten Jugendlichen und jungen Männer nichts mit sich anzufangen wüssten. Es ist bei ihr eingebrochen worden. Fast das gesamte Werkzeug wurde mit ihrem Kleintransporter fortgeschafft. Ein Totalverlust, der sie 8000 Euro kostete. Eine Versicherung hatte sie nicht abgeschlossen. Gute Freundinnen erkannten, dass sich Iris von dem GAU nicht erholen würde und riefen hinter ihrem Rücken zu einer Spendenaktion auf. Eine beachtliche Summe kam zusammen. Als Iris mir davon erzählt, werden ihre Augen feucht: »Da habe ich eigentlich erst begriffen, was für tolle Wahlverwandte ich habe!«
In ihrer Werkstatt steht der Tisch, von dem eingangs die Rede war. Die Frau im Blaumann öffnet die Schublade, zieht eine alte Mappe hervor, der sie Papiere und Fotos entnimmt. Sie hält das schwarze, abgenutzte Leder an ihre Nase. Ja, so habe es in ihrer Kindheit gerochen, sagt meine Gastgeberin, legt die Mappe zurück und schenkt Ingwertee aus einer Thermoskanne ein. Zur Einstimmung hält sie mir Familienfotos hin und es wird klar: Sie ist ihrem Vater auch äußerlich sehr ähnlich: groß gewachsen, körperlich stark, ein breites, ausdrucksvolles Gesicht, ehemals blonde Locken, die in die Stirn fallen. Außerdem, verrät sie, habe sie den Gang von ihm geerbt – weit ausholende Schritte. Sie sei nun mal der burschikose Typ.
Sie zeigt mir Fotos von ihren Großmüttern, und nun höre ich sie erstmals Gutes über ihre Herkunft sagen. »Ich stamme aus einer nazifreien Familie. Meine einfach gestrickte Oma, eine Schneiderin, konnte die Zeitung zwischen den Zeilen lesen und hat schon früh vor Hitler gewarnt.« Die zweite Großmutter hatte einer |71|jungen Nachbarin gegenüber den Hitlergruß verweigert und gesagt: »Mein liebes Mädchen, ich grüße immer noch, wie ich will.« Sie führte eine Gaststätte mit Festsaal, der wurde eine Woche später von den Nazis als Unterkunft für Zwangsarbeiter beschlagnahmt.
Eines der Fotos, die Iris für mich bereitgelegt hat, vermittelt einen Eindruck von der am Telefon beschriebenen Kindheitsidylle. Das Haus mit Garten gehörte Mutters Mutter. Die hatte auch die Erziehung der vier Mädchen übernommen. »Nach allem, was mir erzählt wurde, konnte Mutter mit uns nichts anfangen«, berichtet die Tochter. »In den Fotoalben findest du keine Mama auf den Bildern. Bei Einschulung und Klassenaufführungen, da war immer nur die Tante dabei – und damals hatte meine Mutter noch keinen Krebs.«
Die Großmutter nahm die Erziehungsgewalt, die sie über die vier Enkelinnen besaß, wörtlich. Sie kommandierte und schlug. Oma habe immer einen Grund gesucht und gefunden, um zu prügeln, wird mir berichtet. Der Vater sei feige gewesen. Er habe seine Kinder nicht geschützt, und die Mutter habe es wohl auch nicht getan, glaubt Iris. Wie gesagt, es gebe da keinerlei Erinnerung, aber in der Verwandtschaft erzähle man sich, Mutter und Großmutter seien stets einer Meinung gewesen und hätten Front gemacht gegen den Vater. Die Ehe der Eltern müsse ein Alptraum gewesen sein – »ein einziger Horror«, wie sie sich ausdrückt. Während einer langen Therapie habe sie das begriffen. Und natürlich auch dies: Ihre Amnesie ist alles andere als das Merkmal einer intakten Kindheit. In ihrem Gedächtnis sind Szenen von Dorffesten gespeichert, vom Spielen mit anderen Kindern, aber nichts von den Eltern. »Ich habe drei Jahre Analyse gemacht, drei Mal in der Woche auf der Couch, aber das hat nichts an Erinnerung gebracht. Manchmal dachte ich, ich bin nah dran, gleich geht das Licht an – und dann bin ich jedes Mal eingeschlafen.«