14
Unmöglich, einen schöneren Nachmittag auf Savaii zu erleben.
Die goldgelbe Sonne thronte über einem wolkenlosen Himmel, und die manchmal unbarmherzige Kraft ihrer Strahlen wurde an diesem Tag von einem leichten, kühlen Wind gemildert. Die Blüten der Büsche wippten munter auf und ab, und gelegentlich löste sich ein Blatt und wehte wie ein Stück buntes Konfetti über den kurz geschorenen Rasen. Seit dem frühen Morgen war Evelyn auf den Beinen und hatte sich um alles gekümmert, was eine Party – oder besser gesagt eine fiafia – ausmacht. Sie hatte mit Bens Hilfe samoanische Spezialitäten zubereitet und ein paar deutsche hinzugefügt, hatte Ola-Olas besorgt, den Rasen gemäht, die Sträucher geschnitten und Blumen auf Tischen dekoriert.
Zufrieden blickte sie auf die bunte Schar von Gästen, Samoaner, Europäer und Australier, die mit Sektgläsern, Teetassen oder Kavaschalen im Garten standen und sich unterhielten. Dort, wo die meisten Menschen standen, war Ili. Es war der 21. Dezember, ihr zweiundneunzigster Geburtstag. Auf einen Stock gestützt, wirkte sie noch ein wenig schwach, und die Versuchung, sie von den Besuchern zu befreien, war für Evelyn groß. Doch sie wusste, dass Ili sich selbst helfen könnte, wenn sie wollte. Ihre Genesung nach der Attacke von Ray Kettner war derart schnell vonstatten gegangen, dass sie einer vierzig Jahre Jüngeren zur Ehre gereicht hätte.
Es ist das Land, dachte Evelyn. Seit sie weiß, dass sie auf dem Land bleiben und eines Tages hier sterben kann, will sie es noch nicht verlassen.
Ilis Idee war phänomenal gewesen. Am Morgen von Moanas Bestattung, als ihr noch die Enteignung durch die Regierung drohte, war sie zu ihrem Notar nach Apia gefahren und hatte Haus, Plantage und Wald mit sofortiger Wirkung einer großen Naturschutzorganisation geschenkt, weil sie wusste, dass die Regierung es nicht wagen würde, gegen eine weltweit einflussreiche Umweltlobby vorzugehen. Einzige Bedingung Ilis: lebenslanges Wohnrecht für sie im Papaya-Palast – und für Evelyn. Darüber hinaus sollte Evelyn von der Organisation als Beraterin für das neue »Naturschutzgebiet Savaii« eingestellt werden, und die Plantage musste für die Finanzierung der Stelle fortbestehen. Die Organisation wie auch Evelyn hatten begeistert zugestimmt, und die heutige fiafia zu Ilis Ehren war zugleich die feierliche Einweihung des Naturparks, zu der neben samoanischen Regierungsmitgliedern auch die Führungsriege der Organisation und das Dorf Palauli eingeladen waren.
Evelyns Lächeln, während sie allein über den Rasen schritt, schmolz langsam dahin. Wenn etwas den heutigen Tag trübte, dann war es nicht das Wetter oder die viele Arbeit wegen der Party, sondern der Gedanke an Carsten. Er war fort. Nachdem die Rettung des Papayalandes perfekt war und Evelyn ihre Entscheidung, in Samoa zu bleiben, durch die Annahme der Stelle als Beraterin bekräftigt hatte, war Carsten abgereist. Sein Abschied war dünn ausgefallen, und mit keinem Wort war er auf ihre Affäre mit Ray Kettner eingegangen. Seither, seit vier Wochen, hatte sie nichts von ihm gehört. Sie wusste nicht, ob er wieder in der Welt herumreiste und Kredite rettete oder sich Urlaub genommen hatte und allein in Frankfurt saß. Ob er bereits dabei war, die Scheidung einzureichen. Ob er sich jeden Tag sinnlos betrank so wie sie früher. Sie hätte ihn anrufen und fragen können, doch das wollte sie nicht. Was zu sagen war, hatte sie gesagt. Er war am Zug. Er musste eine Entscheidung treffen. Ihre stand fest.
Der alte Ben brachte Evelyn eine Schale Kokosmilch, die mit Limettensaft abgeschmeckt war. »Zur Erfrischung«, sagte er. »Seit heute Morgen sind Sie nicht mehr zur Ruhe gekommen. Jetzt bleiben Sie mal einen Moment stehen und tun gar nichts. Die Gäste können sich auch selbst ihre Getränke nachfüllen. Wir sind hier schließlich nicht im Ritz.«
Evelyn lächelte entschuldigend. »Ich benehme mich ziemlich unsamoanisch, nicht wahr?«
»Nein«, erwiderte er. »Sie benehmen sich schon so wie Ili.«
Sie lachten beide, und Evelyn bekam einen Eindruck davon, wie Ben gewesen war, bevor ihn die Existenzsorgen niedergedrückt hatten. Seine Schwermut war wie weggewischt.
»Schauen Sie sich diese Frau an«, sagte Ben. »Zweiundneunzig, und sie ist noch immer der Mittelpunkt einer fiafia. Moana würde blass vor Eifersucht werden.«
»Sie ist so beschäftigt, dass sie noch nicht einmal Zeit hatte, die Geschenke auszupacken.«
»Ich habe ihr wie jedes Jahr ein paar Gläser importierte französische Mirabellenmarmelade geschenkt. Und Sie?«
Evelyn hatte ihr schon am Morgen einen kleinen Briefumschlag überreicht, und sie gebeten, beim Öffnen vorsichtig zu sein. Ili hatte sich bedankt, ihn aber ungeöffnet in eine Tasche ihres Kleides gesteckt. Sie war Evelyn angespannt vorgekommen, aber vor so einem Fest war das vermutlich normal. Evelyn hatte nicht weiter darüber nachgedacht, wenngleich sie gerne dabei gewesen wäre, wenn Ili das Geschenk sehen würde.
»Das ist ein Geheimnis«, erklärte sie Ben.
Er nickte. »Da wir von Geschenken sprechen: Ich habe mich noch überhaupt nicht bei Ihnen bedankt. Sie haben sich dafür eingesetzt, dass mein Vertrag mit dem Amerikaner für ungültig erklärt wurde …«
»… woraufhin Sie es Ili nachgemacht haben und alles der Naturschutzorganisation überschrieben …«
»… was dazu führte, dass ich in meinem alten Laden das Informationszentrum betreiben soll – und dafür bezahlt werde. Deswegen danke ich Ihnen.«
»Ich habe schon mal nachgerechnet: Die Plantage wird genug abwerfen, damit wir noch eine Hand voll Parkwächter einstellen können«, prophezeite Evelyn. »Nicht so viele, wie Ray Kettner zum Holzfällen geholt hätte, dafür aber sichere Stellen für eine gute Sache.«
Ben räusperte sich. »Übrigens: Der Amerikaner wurde heute ausgeflogen. Offenbar war er wieder transportfähig, und die Regierung hat zugestimmt, dass er zurück in die Vereinigten Staaten gebracht wird. Er kommt also straflos davon.«
»Er ist bestraft worden«, sagte Evelyn. Ray hatte sein Geld verloren – und das ist für einen Menschen wie ihn die schlimmste Strafe überhaupt. Er wird nie wieder der Alte sein.
Und Ane, fügte sie in Gedanken hinzu, wohl auch nicht.
Nach dem Schuss auf Kettner hatte einige Sekunden lang die Welt stillgestanden. Ane hielt die Pistole im Anschlag, starrte vor sich hin, und Evelyn verharrte bewegungslos hinter ihr. Ili und Ray lagen wie tot auf dem Küchenboden, Joacino räkelte sich und kam langsam wieder zu Bewusstsein. Während Evelyn sich um Ili kümmerte, wandte sich der junge Samoaner Ane zu, nahm ihr die Pistole aus der Hand, umarmte sie und flüsterte ihr beruhigende Worte zu. Danach rief er, trotz seines angeschlagenen Zustandes, einen Arzt und die Polizei.
Ili erwachte schnell wieder aus ihrer Bewusstlosigkeit, aber sie hatte Mühe zu sprechen und konnte sich kaum auf den Beinen halten. Man legte sie ins Bett, und Evelyn verabreichte ihr täglich die verordneten Säfte und Umschläge.
Natürlich leitete Leutnant Malu sofort eine Untersuchung ein. Tagelang befragte er Evelyn, Joacino und vor allem Ane. Diesmal dachte sich niemand eine Geschichte aus. Ane hatte im Affekt gehandelt, so jedenfalls beschrieben Evelyn und Joacino im Gericht übereinstimmend die Geschehnisse. Die Tatsache jedoch, dass Ane zuvor von Kettner getäuscht worden war und daher Grund für Rachegedanken hatte und dass außerdem ein Schuss ins Bein völlig ausgereicht hätte, um ihn außer Gefecht zu setzen, verhinderte einen Freispruch wegen Notwehr. Vergangene Woche war sie zu zwei Jahren Haft im Gefängnis von Upolu verurteilt worden.
»Komisch«, hatte Ane gesagt, als Evelyn sie besucht hatte. »Ich sehe die zwei Jahre nicht als Strafe für den Schuss auf Ray. Für mich ist es die Strafe für etwas, für das ich nie bestraft worden bin: für das Feuer, und dafür, dass ich drauf und dran gewesen war, Ili umzubringen.«
Evelyns Gedanken waren sogar noch weiter gegangen. Natürlich empfand auch sie die Strafe für schwere Körperverletzung als ungerecht. Doch irgendwie kam es ihr vor, als müsse Ane für das büßen, was Ivana angerichtet hatte, ihre Großmutter, nämlich Tuila das halbe Land wegzunehmen. Erst dieser Diebstahl hatte all das möglich gemacht, was an Unglück über die Valaisis gekommen war, bis hin zu dem Versuch, dieser Fehde das ganze Land zu opfern.
»Das ist glücklicherweise nun vorbei«, hatte Evelyn geantwortet. »Wenn Sie hier herauskommen, Ane, können Sie wieder von vorn anfangen. Ili wird Ihnen dabei nicht im Weg stehen, im Gegenteil. Sie wird Ihnen helfen.«
»Sie ist so alt. Wer weiß, ob ich sie noch einmal … ob ich sie überhaupt …«
»Ob Sie sie wiedersehen? Da kann ich Sie beruhigen. Sobald es ihr besser geht, wird keiner Ili davon abhalten können, Ihnen einen Besuch abzustatten. Das hat sie schon verkündet.«
Ane hatte gelächelt und ihr Haar, das ein wenig von seinem seidigen Schimmer verloren hatte, zurückgestrichen. »Wirklich? Das hat sie gesagt?«
»So wahr ich hier vor Ihnen sitze.«
Evelyn hatte die Lider gesenkt und vorsichtig hinzugefügt: »Ili hat mir angeboten, in jenen Teil des Papaya-Palastes einzuziehen, den Moana und Sie bewohnt haben. Ich bin mir aber nicht sicher, was Sie davon halten, Ane.«
»Natürlich ziehen Sie ein. Wie Sie schon sagten: Wenn ich hier herauskomme, fange ich neu an. Ich finde schon ein Plätzchen, wo ich bleiben kann.«
Und so war Evelyn noch am Abend vor dem Fest offiziell in den Papaya-Palast eingezogen. Sie war durch die vielen Räume gestreift und hatte sich zugleich aufgehoben und allein gefühlt, ein Gefühl, das auch heute noch andauerte.
Evelyns Blick fiel auf einen Punkt unten an der Bucht. Obwohl nur die Umrisse einer Gestalt zu sehen waren, erkannte sie, um wen es sich handelte.
Die Unruhe befiel Ili nicht plötzlich, sie schlich sich an. Es war, als ob tief in ihr eine Stimme rief, die sie nicht verstand.
Es lag nicht an der Geburtstagsfeier. Evelyn hatte eine Party organisiert, auf der sich jeder wohlfühlte und jeder wohlgefühlt hätte, sogar Clara Hanssen und die Gouverneursgattin. Viele trugen Weiß und standen wie Marmorskulpturen verteilt im Garten, aber eine samoanische Band entlockte so manchem einen Hüftschwung, und ein paar Einheimische tanzten bereits. Ili wusste, dass noch vor Einbruch der Dunkelheit die letzten gesellschaftlichen Schranken gefallen sein würden und alles ein Gemisch aus Musik und Lachen, ein Reigen der Fröhlichkeit werden würde. So verlief eine fiafia nun einmal.
Vorerst behalf man sich noch mit höflichen Gesprächen. Mr. Dean, der Leiter der pazifischen Sektion der Naturschutzorganisation, berichtete Ili und einigen anderen, welche Maßnahmen man zum Schutz und Erhalt des Waldes von Savaii plane, wobei er mit erhobener Stimme sprach, wohl weil er glaubte, Ili sei vielleicht schwerhörig. Tatsächlich hörte sie ihm kaum zu. Was Mr. Dean vortrug, hatte nichts mit dieser seltsamen Nervosität zu tun, die mit jedem Tag, und seit heute mit jeder Minute, anstieg wie ein Wasserpegel.
Zum ersten Mal war Ili in der Stunde nach Kettners Mordversuch davon befallen worden. Sie hatte im Bett gelegen. Um sie herum war das reinste Chaos gewesen, weil der Amerikaner in einen Hospitalwagen geschafft worden war und Leutnant Malu mit Handschellen herumgefuchtelt hatte und drauf und dran gewesen war, Ane zu verhaften – was er dann doch unterließ. Ili jedoch hatte keine große Notiz von diesen Dingen genommen. Sie lag einfach nur da und dachte die ganze Zeit: Wenn du jetzt gestorben wärst, wäre dein Leben nicht komplett gewesen.
Ja, dachte sie auch jetzt, umringt von Gästen, etwas fehlt noch in meinem Leben. Etwas ist unerledigt geblieben.
Sie sah, wie sich unten an der Bucht zwei Menschen in die Arme fielen, miteinander sprachen, erneut in die Arme fielen. Evelyn und Carsten. Gestern war Carsten ohne Evelyns Wissen zu ihr, Ili, gekommen und hatte um Erlaubnis gebeten, im Papaya-Palast einzuziehen. »Ich habe die Zeit zum Nachdenken gebraucht. Vorher, wissen Sie, habe ich jahrelang überhaupt nicht nachgedacht, jedenfalls nicht über Evelyn und mich und Julia, nicht über unser Zusammenleben. Einen ganzen Monat habe ich nichts anderes getan, als zu denken, und ich weiß jetzt, dass ich da sein will, wo auch Evelyn ist. Ich hoffe, sie will mich noch.«
»Oh, sie will Sie, mein Lieber. Und mir sind Sie herzlich willkommen. Aber haben Sie sich das wirklich gut überlegt? Was werden Sie hier auf Samoa tun?«
Carsten hatte schelmisch gezwinkert und gesagt: »Raten Sie mal, wer künftig für die Naturschutzorganisation als Lobbyist arbeiten wird. Ich werde viel unterwegs sein, aber ich werde immer wieder zurückkommen. Zu Evelyn. Nach Hause.«
Etwas Ähnliches musste er heute zu Evelyn gesagt haben, denn sie hielten sich so fest, als wollten sie sich nie wieder loslassen.
Sie hat ihr Leben wieder in die Hand genommen, dachte Ili, mit neuen Schwerpunkten, mit neuem Glauben. Sie ist wieder imstande, etwas zu schaffen.
Das, was noch unerledigt war, was Ili in Unruhe versetzte, hatte nichts mit Evelyn zu tun.
Hier, spürte sie, würde sie nicht finden, wonach sie suchte. Daher löste sie sich unauffällig von der Geburtstagsgesellschaft und ging ins Haus hinein.
Sie sah sich um. Das Dach war repariert, die Folgen des Brandes waren beseitigt worden. Die Bücher standen dort, wo sie immer standen, so als habe Tristan sie eben erst in die Regale eingeräumt; Blumenduft zog durchs Haus, die Bougainvilleen schimmerten vor dem Fenster, ein paar harmlose Fliegen schwirrten umher und genossen die Kühle der Zimmer. Die Seele des Hauses war intakt. Die Dinge waren zwar nicht mehr so, wie sie vor wenigen Wochen gewesen waren, aber nur deshalb, weil das Schlechte verschwunden und das Gute geblieben war. Nach Jahren und Jahrzehnten des Krieges gegen Ivana und Moana und die Phantome der Vergangenheit war etwas Neues in ihr Leben getreten, etwas, mit dem sie fast nicht mehr gerechnet hatte: Frieden. In diesem Haus, im Papaya-Palast, herrschte jetzt Frieden, und das war alles andere als beunruhigend.
Vom Inneren des Zimmers aus gesehen, war der Fensterrahmen vom Grün des Gartens und von fröhlich plaudernden Menschen erfüllt. Ili beobachtete, wie Joacino in einem klapprigen Wagen mit Ladefläche vorfuhr und zu den Festgästen trat. Der junge Mann kam regelmäßig vorbei und ging ein paar Schritte mit Ili spazieren. Dabei erzählte er von seinen Besuchen bei Ane und sprach enthusiastisch von der Zeit, wenn sie wieder frei wäre.
Er klopfte mit dem Finger an die Scheibe, kam herein und gratulierte ihr: »Ich habe Ihnen eine meiner Zuchtperlen mitgebracht, die größte und schönste natürlich. Hoffentlich gefällt sie Ihnen.«
»Sie ist wunderschön«, bestätigte Ili und freute sich über die Aufmerksamkeit des jungen Mannes.
»Nur eine Perle ist noch größer und schöner«, räumte er ein. »Aber die muss ich für Ane aufheben. Am Tag, bevor sie entlassen wird, möchte ich ihr einen Heiratsantrag machen.«
Ili nickte ihm vertrauensvoll zu, doch sie machte sich nichts vor. Ane würde sich nicht von heute auf morgen ändern, nicht alle Träume über Nacht begraben. Aber vielleicht würden die Tage, Wochen und Monate im Gefängnis sie nachdenklich machen, und vielleicht würde Joacino ihr mit der Zeit wieder das nahe bringen können, worauf es im Leben ankam. Nach allem, was Ili über ihn erfahren hatte, war er der Richtige dafür.
Doch die Unruhe ließ sie nicht los. Anes und Joacinos Schicksal lag außerhalb ihrer Lebensspanne. Für die beiden konnte sie nicht mehr viel tun, sie mussten und würden allein zurechtkommen.
»Du würdest mir einen großen Gefallen tun«, sagte sie, »wenn du mich möglichst nahe an den Mafane fährst. Ich möchte auf den Gipfel. Aber lass uns bitte kein Aufhebens darum machen. Evelyn und die anderen müssen nichts davon mitbekommen. Kriegst du das hin?«
»Kein Problem«, sagte er. »Es könnte allerdings ein bisschen holprig werden. Die Stoßdämpfer an meinem Auto sind ziemlich schlecht.«
»Mach dir darum keine Sorgen, mein Lieber. Im Vergleich zu Bens Wagen fährst du geradezu eine Luxuskarosse.«
Tatsächlich bemerkte niemand, dass sie fortgingen. Auf versteckten, abenteuerlichen Wegen und Seitenwegen, die immer schmaler und steiler wurden, gelangten sie bis einhundert Meter unterhalb des Gipfels. Dort war mit dem Wagen kein Weiterkommen mehr möglich.
»Soll ich hier auf Sie warten?«, fragte Joacino, der verstanden hatte, dass sie allein sein wollte.
Ili streichelte ihm die Wange. »Danke, junger Mann. Das ist sehr lieb.«
Sie stieg aus, drehte sich aber noch einmal um und sah ihm in die Augen. »Ich liebe Ane«, sagte sie. »Bitte, richte ihr das aus, wenn du sie das nächste Mal siehst.«
Ohne eine Reaktion abzuwarten, ging Ili davon, tauchte ein in das Grün des Waldes, und bald war sie ganz eins mit der Insel.
Vor ein paar Wochen noch, am Tag der Schenkung, hatte sie das Gefühl gehabt, das Land sei nicht mehr dasselbe wie zuvor, weil es nicht mehr ihr gehörte, sondern einer fremden Organisation. Nun merkte sie, dass sie sich dieses Gefühl bloß eingebildet hatte, vielleicht weil Menschen nun einmal glauben, der Mittelpunkt von allem zu sein, sogar des Universums. Doch was scherten sich die Vögel um Besitzurkunden? Was machte es den Bäumen aus, ob sich Ili die Eigentümerin nannte oder ein anderer? Das Land gehörte sich selbst, es konnte keinem Menschen gehören. Für das Recht, mit dem Land zu leben, hatten die Menschen die Pflicht, auf das Land zu achten. Es war ein Tausch mit der Natur, ein fairer Handel auf Gegenseitigkeit. Statt Ili passten nun andere auf, dass das Gleichgewicht erhalten blieb, das war alles. Sie war lediglich mit der Zeit gegangen, denn gegen die Zeit kam niemand an.
Mit dem Land war Ili im Reinen. Trotzdem, auch als sie auf dem Gipfel des Mafane stand, dauerte ihre Anspannung an.
Sie setzte sich auf den Felsen, auf dem sie schon als Kind gesessen hatte, und fragte sich zum hundertsten Mal, was an ihr nagte. Als sie keine Antwort erhielt, fragte sie den Wind, so wie ihre Mutter hier oben immer mit dem Wind gesprochen hatte. Da bemerkte sie in einer Tasche ihres Kleides den Umschlag, den Evelyn ihr am Morgen gegeben hatte. Er war nicht so weich und biegsam wie normale Briefe, aber auch nicht fest und steif. Sorgfältig, wie ihr aufgetragen worden war, öffnete sie den Umschlag.
Sie zog ein Papier hervor, eines von mehreren in dem Brief. In Evelyns schöner, geschwungener Handschrift stand da: »Liebe Ili, hier ist die Übersetzung eines Briefes, den ich vor einigen Tagen aus Deutschland erhalten habe:
Sehr geehrte Frau Braams,
Sie können sich meine Überraschung vorstellen, als ich Ihre Anfrage erhielt. Wenn ich und meine Familie uns auch ›Grafen von Arnsberg‹ nennen, haben wir uns bisher nicht sehr intensiv mit unseren Vorfahren beschäftigt. Wir besitzen kein Landgut mehr, kein Schloss oder so etwas. Das ist alles kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges bei Kampfhandlungen zerstört worden. Meine Eltern sind schon lange tot. Ich bin Arzt, meine Frau arbeitet in einem Kaufhaus, und unsere Tochter studiert Betriebswirtschaft. Schon daran sehen Sie, dass unsere Verbindung zur Vergangenheit kaum mehr existiert.
Sie erkundigten sich nach Tristan von Arnsberg. Ehrlich gesagt wusste ich noch nicht einmal, dass es jemanden dieses Namens in unserer Familie gab. Ich wollte Sie jedoch nicht mit einer so einfachen Antwort abspeisen, also bin ich auf den Speicher gegangen und habe in alten Dokumenten gesucht. Folgendes habe ich herausgefunden: Mein Großvater war offenbar der Vetter Tristans. Nach dem Tod des Grafen Lothar von Arnsberg ging der Titel an seinen Bruder und dessen Kinder und Enkel über, von denen ich einer bin. Viel mehr kann ich Ihnen auch nicht berichten, außer vielleicht, dass Tristans Mutter erst 1944 hochbetagt im Schloss Arnsberg starb, wenige Wochen, bevor es zerstört wurde.
Anbei das einzige Foto, das ich von Tristan finden konnte. Es stammt aus einem alten, völlig verstaubten Album.
Ich hoffe, Ihnen weitergeholfen zu haben, und verbleibe mit den besten Wünschen
Thilo von Arnsberg.«
Mit zittrigen Händen holte Ili das Foto hervor. Die Rückseite war gelblich, aber das Datum, mit vornehmer lila Tinte geschrieben, war deutlich zu lesen: 14. September 1913. Das war kurz vor Tristans Abfahrt nach Samoa gewesen.
Ili schloss die Augen, drehte das Foto um und hielt es einige Momente einfach in den Händen, spürte sein Alter, tastete über die geriffelten Kanten. Dann erst betrachtete sie es.
Es musste sich um jenes Foto handeln, von dem die Gräfin ihm nach Samoa geschrieben hatte, jenes sympathische Foto ohne Uniform, das er aus einer Laune heraus hatte machen lassen und das als einziges ein Missgeschick des Laborgehilfen überlebt hatte.
Lange blickte sie ihn an. Er war stets nur eine Figur für sie gewesen, eine Gestalt in einer Geschichte. Er hatte sie niemals gesehen und sie nicht ihn. Sie waren sich nicht fremd gewesen und nicht nah. Sie waren zwei Geschöpfe, die etwas verband, was man nicht durchschneiden und nicht aufrollen konnte. Über einen bestimmten Punkt hinaus konnten sie sich weder voneinander entfernen noch sich berühren Eine Sprache zwischen ihnen war nicht möglich. Bis jetzt.
Zum ersten Mal sah sie ihrem Vater in die Augen, und alles änderte sich. Sie erblickte einen gut aussehenden Mann mit blonden Haaren und in legerer Kleidung. Er saß bequem auf einem Gartenstuhl und lächelte zufrieden, aber – so schien es Ili – auch mit einer kleinen Unsicherheit in die Kamera. Noch konnte er nicht wissen, was ihm bevorstand, nicht ahnen, dass er ein Jahr später bereits tot sein würde. Er war einfach ein junger Bursche, der die Herbstsonne genoss und vorhatte, etwas von sich zurückzulassen, das ihm entsprach.
Dieses Foto entsprach ihm.
Ili entsprach ihm.
Sie lächelte, während ihr Blick über den Pazifischen Ozean glitt, über die fernen Fontänen vorbeiziehender Wale, über die Riesenfeigen und Muskatbäume und die Wolken, die wie Flammen hinter den Bergen hervorquollen.
Die Stimme in ihr, die so viel Unruhe erzeugt hatte, schwieg. Ilis Leben war komplett.
»Tristan«, flüsterte sie in den Wind, »Papa. Ich liebe dich.«
Sie stand auf und ging den Weg zurück, den sie gekommen war.