11
Samoa, November 2005
Ein gellender Schrei durchbrach die Stille.
Evelyn schreckte aus dem Schlaf, sah sich um. Sie lag allein in ihrem Bett, noch immer bekleidet mit der roten Seidenbluse, die sie für den Abend mit Carsten angezogen hatte. Die weiße Jeans war sorgfältig über den Stuhl gelegt worden, die Schuhe standen neben dem Bett. Auf der Anrichte tickte leise die Armbanduhr, draußen piepten ein paar Vögel, alles war still und friedlich.
Mein Gott, dachte sie, ich habe geträumt. Ich träume tatsächlich von den Schreien Atonios, die ich nie selbst gehört habe.
Sie fasste sich mit beiden Händen an die Stirn. Alle drei Sekunden zuckte ein kurzer, energischer Schmerz wie ein Blitz durch ihren Hinterkopf – eine Nachwirkung der zwei Flaschen Champagner.
Sie stand behutsam auf und kramte in ihrer Tasche nach Kopfschmerztabletten, konnte aber keine mehr finden.
Gerade, als sie sich wieder hinlegen wollte, schallte ein weiterer Schrei durch das Haus.
Ich habe also nicht geträumt, dachte sie. Im nächsten Augenblick wurde die Tür aufgerissen, und zu ihrer großen Überraschung stand Ane im Zimmer.
Hatte sie neulich schon furchtbar mitgenommen ausgesehen, so war sie jetzt ein einziges Nervenbündel, zitternd am ganzen Körper, als sei ihr ein Geist begegnet.
»Du lieber Himmel«, stieß Evelyn hervor. »Was ist passiert?«
Ane rang nach Luft, aber außer ein paar gequälten Tönen brachte sie nichts heraus. Sie wirkte, als könne sie jeden Moment tot umfallen.
»Ich rufe einen Arzt«, sagte Evelyn und holte das Handy, das Carsten ihr gegeben hatte. Sie bekam jedoch keinen Empfang, und Ane presste schließlich heraus: »Bitte, kommen Sie.«
Ane rannte aus dem Zimmer und Evelyn hinter ihr her in den Garten; in der Aufregung merkte sie nicht einmal, dass sie außer der Bluse nur Unterwäsche trug. Vergeblich versuchte sie, Ane zu veranlassen, stehen zu bleiben. Erst als sie um das halbe Haus gelaufen waren und die Veranda betraten, hielt Ane inne, und als Evelyn sie eingeholt hatte, verharrte auch sie.
Vor ihnen lag Moana, starr, mit leerem Blick, die Finger zu Krallen verkrampft.
Ane war derart durcheinander, dass sie Evelyn noch nicht einmal die Notrufnummer nennen konnte. Evelyn führte Ane zu einem Stuhl und nötigte sie, sich zu setzen. Wie eine hilflose Puppe ließ Ane, von Weinkrämpfen geschüttelt, alles mit sich machen. Evelyn redete ihr beruhigend zu und ging dann zurück zur Veranda, wo Moana lag. Jeder konnte erkennen, dass sie tot war, trotzdem kniete Evelyn sich neben den Körper, ergriff den Arm mit einer Vorsicht, als sei er aus chinesischem Porzellan, und fühlte den Puls. Wie zu erwarten, spürte sie nichts. Ein Schauder erfasste sie.
Sie atmete ein paar Mal tief durch, und als sie aufstand, war ihr schwindelig, doch sie fasste sich schnell und ging – nachdem sie sich vergewissert hatte, dass Ane etwas ruhiger geworden war – ins Haus. Dort suchte sie nach Telefonbüchern, um die Notrufnummern von Polizei oder Ärzten zu finden, bis ihr einfiel, dass ein Haus ohne Telefon vermutlich auch keine Telefonbücher aufbewahrte.
Sie überlegte, entweder mit dem Wagen nach Salelologa zur Polizei zu fahren oder zu versuchen, Ili zu finden.
Sie entschied sich für die zweite Variante und rief Ilis Namen wieder und wieder in die Plantage hinein. Außer dem Gekrächze eines Kakadupaares erhielt sie jedoch keine Antwort. Da ihre eigene Stimme wegen des nächtlichen Alkoholkonsums den Rufen der Kakadus bald ähnelte, brach sie ihre Versuche schließlich ab. Rasch zog sie sich die weiße Jeans über und teilte Ane mit, dass sie nach Salelologa fahren werde, um Hilfe zu holen. Natürlich hätte sie sie noch einmal nach der Notrufnummer fragen können, aber da ihr Handy noch immer keinen Empfang hatte, würde das ohnehin nichts nützen.
Während der Fahrt fiel ihr auf, dass sie, wie schon während des Brandes vor einigen Tagen, im Großen und Ganzen überlegt handelte. Sie war weder kopflos noch ängstlich, nur ein wenig angespannt – was unter diesen Umständen auch verständlich war. Verglichen mit dem Verhalten des Polizisten auf der Wache in Salelologa jedoch, erschien sie wie ein Nervenbündel.
Als sie die Polizeistation betrat, aß er gerade schmatzend eine Banane.
»Talofa«, sagte sie. »Ich möchte den Tod einer Frau melden. Leider weiß ich nicht, an wen ich mich sonst wenden kann. Ich kenne mich hier nicht gut aus.«
Er nickte stumm, schob das Stück Banane in die linke Backe und fragte dann: »Name der Toten?«
»Sie heißt Moana Valaisi.«
Er schob das Stück in die rechte Backe. »Sie sind sicher, dass Moana Valaisi tot ist?«
Evelyn runzelte die Stirn. Sie konnte sich irren, aber diese Frage wäre ihr nicht als Erstes eingefallen.
»Sie sieht jedenfalls sehr tot aus«, sagte sie.
»Was meinen Sie damit?«
Auch diese Frage wäre ihr niemals in den Sinn gekommen. »Grau. Bleich. Kein Puls.«
»Sie ist alt. Vielleicht schläft sie ja nur«, meinte er.
»Falls sie schläft, ist das die merkwürdigste Schlafhaltung, die ich je gesehen habe.«
Ein leiser Stoßseufzer kam ihm über die Lippen.
»Also schön: Ihr Name?«
»Evelyn Braams.«
Das war ihm zu kompliziert zu schreiben, daher warf er ihr ein Formular aufs Pult und machte eine Geste, die ausdrücken sollte, dass sie es auszufüllen habe. Dort, wo sein Finger das Papier berührt hatte, haftete ein Stück Banane. Sie entfernte es mit dem Kugelschreiber und fragte: »Wie geht es jetzt weiter?«
Er hatte sich gerade die halbe Banane in den Mund geschoben und brauchte eine geschlagene Minute, um ihr zu antworten. »Wir schicken jemanden.«
»Darf ich fragen, wann?«
»Wann?«, wiederholte er. Auf seinem Gesicht zeichnete sich zum ersten Mal eine Regung ab, nämlich Erstaunen.
»Ja, wann! Eine junge Frau hat einen Schock«, erklärte Evelyn. »Sie braucht unbedingt ärztliche Behandlung. Außerdem ist es heiß. Wer weiß, wie lange Moana dort schon liegt. Verstehen Sie, was ich meine?«
Er schob sich das letzte Stück Banane in den Mund, bevor er fragte: »Sind Sie eine Verwandte?«
»Nein, ist das wichtig? Wie Sie auf dem Formular sehen, bin ich aus Deutschland.«
Er zuckte mit den Schultern. »Einige Samoaner haben Vorfahren in Deutschland.«
»Sehe ich aus wie ein Vorfahr?«, fragte sie spitz. Sie wurde ungeduldig. Im Papaya-Palast lag eine Leiche, Ane war verstört und Ili verschwunden, und sie diskutierte mit einem Polizisten über Abstammung.
»Ich wohne bei den Valaisis«, ergänzte sie.
»Touristin also?«
Sie atmete tief durch. »Wenn Sie es so ausdrücken wollen, dann bitte. Was passiert jetzt?«
Er leckte sich die Finger ab. »Sagte ich schon. Wir schicken jemanden.«
»Dann formuliere ich meine Frage anders: Was passiert jetzt?«
Der Polizist verzog das Gesicht wie zu einer hundertmal gehörten Geschichte, stemmte sich von seinem Sitz hoch und sagte: »Moment, ich sag’s dem Chef.« Er schlurfte in das Büro nebenan. Aus dem Gespräch mit einem anderen Polizisten, das auf Samoanisch geführt wurde, hörte Evelyn nur den Namen Moana heraus. Dann endlich betrat der andere Polizist das Zimmer, ein drahtiger Mann mit dünnem Oberlippenbart, und in dem Augenblick wurde Evelyn bewusst, dass sie sozusagen dem Nach-Nachfolger Tristans gegenüberstand.
»Ich bin Leutnant Malu, der Polizeichef von Savaii. Sie sind mit dem Wagen hier? Und können fahren? Ganz sicher? Gut, dann kommen Sie bitte mit.«
Er ging mit ihr nach draußen. »Verzeihen Sie«, sagte er. »Die samoanische Gemütsart liegt nicht jedem.«
»Oh, bisher fand ich sie sehr ansprechend. Nur – in einem solchen Fall …«
»Ich verstehe schon. Haben Sie etwas dagegen, dass wir mit Ihrem Wagen zum Papaya-Palast fahren? Inzwischen ruft mein Kollege den nächsten Arzt an. Einverstanden?«
Sie nickte.
Leutnant Malu bot ihr an, den Wagen selbst zu steuern, doch sie fühlte sich sicher genug und lehnte dankend ab. Trotzdem saß er die ganze Strecke über ziemlich verkrampft auf dem Beifahrersitz und behielt entweder die Straße oder ihre Hände am Lenkrad im Auge. Sie hatte eine Leiche gefunden, was ihr zweifellos nicht jeden Tag widerfuhr, außerdem roch ihre Kleidung noch nach dem Champagner von gestern. Kein Wunder also, dass er ihren Fahrkünsten nicht traute, obwohl sie weder schnell noch unsicher fuhr.
Seine Anspannung machte sie nervös, und um ihn aufzulockern, begann sie ein Gespräch.
»Sie kannten Moana?«, fragte sie.
Er ließ die Straße nicht aus den Augen. »Ja, Mrs. Braams, ich kenne die ganze Familie. Man kann sogar sagen, ich bin mit ihr aufgewachsen. Mein Urgroßvater gehörte zu den Arbeitern, die den Papaya-Palast bauten, mein Großvater und mein Vater arbeiteten während der Ernte auf der Plantage, und ich selbst hatte verschiedene Male dienstlich mit ihnen zu … Passen Sie auf das Taxi von links auf. Auf Samoa sind Taxifahrer unberechenbar. Hupen Sie mal.«
Sie hupte, und er streckte den Arm aus dem Fenster und mahnte den Taxifahrer mit erhobenem Zeigefinger. Dann lachte er, und sie winkten sich freundschaftlich zu.
»Wo war ich stehen geblieben?«
»Sie sagten, Sie hätten dienstlich mit den Valaisis zu tun gehabt.«
»Das letzte Mal vor ein paar Tagen«, nahm er den Faden wieder auf. »Wegen des Brandes. Sie waren dabei, richtig? Haben beim Löschen geholfen? Tja, es war Brandstiftung, so viel steht fest.«
»Wir haben so unsere Vermutungen, wer dahinter steckt«, orakelte sie.
»Nur, dass Vermutungen uns nicht weiterhelfen, Mrs. Braams, so wenig wie beim Brand vor elf Jahren.«
»Atonios Tod«, bestätigte sie.
»Sie wissen davon?«, fragte er neugierig und ließ die Fahrbahn für einen Moment aus dem Auge, um Evelyn anzusehen. »Hat Ili Valaisi mit Ihnen darüber gesprochen?«
»Bisher nicht.«
Er entspannte sich wieder etwas. »Also Moana, ja? Sie hat ihre Theorie darüber – oder besser hatte. Und ich auch.«
»Decken sich die beiden Theorien denn?«
Er ließ die Fragen offen und sagte stattdessen: »Es war damals mein erster Fall. Erst zwei Tage zuvor war ich zum Polizeichef von Savaii gemacht worden, und dann das! Eine Brandstiftung und ein Mord! Es gab eine Reihe von Indizien, die für einen bestimmten Verdächtigen sprachen: ein Motiv, eine Gelegenheit – und trotzdem bis heute ein ungelöster Fall. Fahren Sie hier besser in der Mitte der Fahrbahn, wegen der Schlaglöcher. Aber achten Sie auf den Gegenverkehr.«
Er wartete den Vollzug seiner Ratschläge, die eher Anweisungen glichen, ab, und fuhr dann fort: »Seltsam war, dass das Feuer am südöstlichen Rand der Plantage ausbrach, eine halbe Meile von der Stelle entfernt, wo man Atonios Leiche fand. Wenn ihn jemand in den Flammen umkommen lassen wollte, hätte er oder sie das Feuer doch in unmittelbarer Nähe legen müssen, so dass für Atonio keine Möglichkeit zur Flucht mehr bestand, nicht wahr? Es sei denn, Atonio wurde zuvor erschlagen.«
»Sie meinen mit einem Werkzeug, wie Moana behauptete?«
Leutnant Malu überging die Bemerkung. »Der Brand sollte in einem solchen Fall lediglich die wahre Todesursache vertuschen. Wenn das zutrifft, ging die Rechnung des Täters auf. Der Passat trieb das Feuer nach Nordwesten, direkt über Atonio hinweg, und hätte nicht kurz darauf ein für die Jahreszeit ungewöhnlich heftiger Regenguss eingesetzt, wäre die ganze Papayaplantage in Flammen aufgegangen.
Und dann ist da noch die Sache mit Ben Opalani … Hoppla, das war ein Schlenker von Ihnen, Mrs. Braams.«
»Entschuldigung – ich war bloß überrascht. Ben Opalani? Was hat der alte Ben damit zu tun?«
»Ich verrate Ihnen kein Polizeigeheimnis, wenn ich Ihnen sage, dass er sozusagen Ilis Alibi ist. Er gab an, Ili zufällig getroffen zu haben, bevor das Feuer ausbrach. Theoretisch möglich, denn seine Kaffeepflanzung grenzt an die Plantage der Valaisis. Eigenen Angaben zufolge hielten die beiden ein Schwätzchen unter Nachbarn, und als sie die ersten Flammen auflodern sahen, brachten sie sich in Sicherheit. Nach dem Regenguss wollten sie sich den Schaden ansehen und stießen dabei auf Atonios Leichnam.«
»Klingt plausibel.« Evelyn bog auf die Straße ein, die zum Papaya-Palast führte.
»Als ich etwa eine halbe Stunde nach dem Brand bei den Valaisis eintraf«, berichtete er weiter, »waren sie alle auf der Veranda versammelt, einschließlich Ben, der ebenso wie Ili noch atemlos war, weil sie eben erst wenige Minuten zuvor aus der Plantage gekommen waren. Bevor ich meine Vernehmung begann, bat ich, dass man das Kind – damit meine ich Ane – ins Bett bringen sollte, denn die Kleine stand genauso unter Schock wie vermutlich heute. Zitterte am ganzen Leib und bekam vor lauter Schluchzen kaum Luft. Ich wollte mich um sie kümmern, doch bevor ich irgendetwas tun konnte, erhob Moana bereits ihre Verdächtigungen gegen Ili, während diese alles von sich wies. Es kam zum Streit, und wenn ich Moana nicht mit ihrer Enkelin ins Haus geschickt hätte, würden sie vermutlich heute noch dort stehen und sich anschreien.« Er bemerkte, dass er etwas Makabres gesagt hatte, und korrigierte sich: »Nun ja, heute sicher nicht mehr, jetzt, wo sie tot ist.«
»Ich verstehe noch immer nicht, warum Sie ein Problem mit Bens Aussage haben.«
Sie parkte neben dem Papaya-Palast, wo bereits der Wagen des Arztes stand, und stellte den Motor ab.
»Das Problem ist«, antwortete Leutnant Malu, »dass ich bei der Vernehmung bemerkt habe, dass Ben Opalanis Kleidung und Haarspitzen versengt waren – und Ilis nicht. Wie kann das sein, wenn sie – wie beide ausgesagt haben – die ganze Zeit beisammen waren?«
Als Evelyn und Malu das Haus betraten, bekam Ane soeben irgendeinen Sirup eingeflößt. Der Arzt bat Evelyn, bei ihr zu bleiben, und ging mit dem Leutnant hinter die Hecken auf die Veranda, zweifellos um die Todesursache Moanas festzustellen.
»Geht es Ihnen etwas besser?«, fragte Evelyn die junge Frau.
Ane machte eine unbestimmte Geste. Ihre geröteten Augen und Wangen sprachen für sich, aber Evelyn bemerkte darüber hinaus, dass ihre derzeitige Verfassung nicht allein auf Moanas Tod zurückzuführen war. Dass sie sich am Morgen nicht geschminkt hatte, deutete darauf hin, dass sie in den letzten Tagen viel geweint und auch für den heutigen Tag nichts anderes erwartet hatte. Ihr Haar war nicht gewaschen, die Fingernägel nicht lackiert, und die farbliche Zusammenstellung der Kleidung war für Ane unpassend. Evelyn wusste nur zu gut, dass dies alles erste Anzeichen von Niedergeschlagenheit und Resignation waren.
»Wenn Sie reden wollen«, bot Evelyn an. »Ich kann gut zuhören.«
»Das ändert auch nichts«, murmelte Ane und blickte starr in den Himmel.
»Nicht sofort«, gab Evelyn zu. »Aber manchmal erleichtert es uns das Reden und macht den Kopf frei für ein wenig Zuversicht. Ich hätte mir früher gewünscht, dass man mich zum Reden aufgefordert hätte. Stattdessen habe ich mich zurückgezogen, und meine Gedanken haben sich nur um eine Sache gedreht. Wohin mich das gebracht hat, haben Sie ja selbst mitgekriegt.«
Ane reagierte nicht, und so saßen sie einfach nur beieinander. Evelyn versuchte vergeblich, dem Gespräch zwischen Arzt und Polizist, die hinter den Hecken tuschelten, etwas zu entnehmen, doch sie sprachen zu leise und auf Samoanisch. Dann kam ein zu einem Leichenwagen umgebauter Kleinbus herangepoltert und zischte wie eine Dampflok, als er auf dem Rasen zum Stehen kam. Die zwei Männer blieben im Führerhaus sitzen, aus dem Radio ertönten Südseepop und alte Madonna-Songs, und sie warteten darauf, dass man sie rief.
»Er hat mich rausgeschmissen«, sagte Ane unvermittelt.
Evelyn sah sie an. »Ray Kettner?«
In Anes Stimme lag Wut. »Einfach so hat er meine Zukunft ausradiert. Hat mir von A bis Z etwas vorgemacht. Den Modelvertrag hatte er gefälscht. Und jetzt will er auch noch das Land enteignen lassen und mich dadurch um mein Geld bringen. Aber nicht mit mir. Jetzt, wo Großmutter tot ist, werden die Karten neu gemischt.«
Evelyn wurde erst in diesem Moment bewusst, dass Moanas Tod auch Auswirkungen auf den Verkauf des Landes haben konnte. Ane als junge Enkelin und Erbin konnte der Regierung womöglich entgegenkommen und eine erweiterte landwirtschaftliche Nutzung in Aussicht stellen, größere Plantagen, irgendetwas, das Eindruck machen würde.
»Werden Sie sich gegen den Verkauf wenden?«, fragte Evelyn hoffnungsfroh.
»Gegen den Verkauf? Pah! Ich werde dem lieben Raymond Kettner noch ein, zwei Millionen mehr aus dem Kreuz leiern. Der wird tüchtig zahlen, das sage ich Ihnen. Jedes einzelne Wort seiner Beleidigungen im Aggie Grey’s wird ihn zehntausend kosten. Mindestens! Der wird noch bitter bereuen, was er mir angetan hat.«
In diesem Moment kam Ili hinter dem Haus hervor, die Hände in Handschuhen und ein säbelartiges Messer unter dem Arm. Offenbar hatte sie in der Plantage gearbeitet.
Evelyn hielt es für besser, ihr entgegenzugehen, damit sie nicht von Ane – deren Wut auf Kettner mittlerweile den Schock über Moanas Tod verdrängt hatte – die Nachricht überbracht bekam.
»Was ist denn los, Evelyn?«, fragte Ili. »Ich habe ein Auto klappern hören und dachte, es sei vielleicht Ben. Der Polizeiwagen? Hat man etwas wegen des Brandes herausgefunden?«
Evelyns Blick ging zum Kleinbus, aus dem noch immer für den Anlass unpassende Musik erklang, in diesem Moment »La isla bonita«.
»N-nein«, begann Evelyn zögerlich. »Es geht um Moana. Ane hat sie vorhin aufgefunden. Sie ist tot, Ili.«
»Oh«, stöhnte Ili gedehnt, den Blick nach innen gerichtet. Alles in allem schien sie es gut zu verkraften, was Evelyn nicht erstaunte, denn die beiden hatten sich ja nun wirklich nicht nahe gestanden. Trotzdem wirkte Ili versonnen, beinahe melancholisch, als sie sagte: »Nun, es musste ja irgendwann so kommen. Wir sind beide über neunzig, ein Wunder fast. Eine von uns war an der Reihe. Aber – seltsam – wenn es dann passiert, kommt es doch überraschend.« Sie machte eine nachdenkliche Pause und fragte dann: »Wie geht es Ane?«
»Mittlerweile …« Evelyn überlegte ihre Worte sehr genau. »Mittlerweile besser. Sie scheint den schlimmsten Schreck überwunden zu haben. Man hat ihr irgendetwas zur Beruhigung gegeben. Der Arzt und Leutnant Malu sind bei der Lei…« Sie unterbrach sich und korrigierte: »Sind drüben auf der Veranda.«
Ili nickte. »Danke für Ihre Rücksichtnahme, Evelyn. Aber ich möchte Moana noch einmal sehen. Begleiten Sie mich bitte?«
»Natürlich.«
Seite an Seite schritten sie den Papaya-Palast entlang ans andere Ende und betraten dort die Veranda.
Moana lag noch so da, wie Evelyn sie gefunden hatte.
»Mein Gott«, seufzte Ili nach einem kurzen Blick, und Evelyn musste sie stützen. Sie führte sie in Moanas Küche und half ihr, sich auf einen Stuhl zu setzen.
»Sie hat gelitten«, sagte Ili. »In ihrem Gesicht steht geschrieben, wie sehr sie gelitten hat. Ich habe schon lange sehen können, wie es in ihrem Innern aussah, und in den letzten Sekunden war das nicht anders. Noch im Tod spricht sie zu mir.«
»Wahrscheinlich hat sie nicht lange leiden müssen«, tröstete Evelyn.
Ili verneinte. »Sie hat ihr ganzes Leben gelitten.«
Sie trank Wasser, das Evelyn ihr in einer Schale reichte, und verharrte eine Weile reglos und stumm, bis Leutnant Malu die Küche betrat.
Er nahm die Mütze ab und sprach ihr sein Beileid aus. »Herzversagen«, erklärte er. »Der Arzt sagt, sie war binnen Sekunden tot. Vermutlich saß sie auf der Matte auf der Veranda und – da geschah es. Das hier haben wir neben ihr gefunden.«
Er reichte ihr einen aufgerissenen Briefumschlag. »Entschuldigung, aber ich musste ihn öffnen. Sie verstehen das?«
»Was steht drin?«, fragte Ili.
Er räusperte sich. »Es handelt sich um ein Testament. Darin« – er räusperte sich erneut – »werden Sie als Erbin des Hauses und Landes eingesetzt.«
Ili richtete sich im Stuhl auf. »Ich? Aber das kann doch nicht sein. Sie hat mich doch immer … Wir waren doch …«
»Moana hat ihre Meinung offenbar geändert«, nahm er Ilis Einwand vorweg. »Es ist zweifellos ihre Handschrift. Da der Brief auf heute datiert ist und neben ihr gefunden wurde, nehme ich an, dass sie ihn kurz vor ihrem Tod verfasst hat. Dieser trat etwa gegen Mitternacht ein, sagt der Arzt.«
»Mitternacht! Das muss gewesen sein, kurz nachdem sie bei mir war.«
»Sie war bei Ihnen?« Evelyn und Leutnant Malu waren überrascht.
Ili blickte gedankenverloren vor sich hin. »Ja«, murmelte sie. »Wir haben gesprochen. Nur ganz kurz, aber immerhin. Zum ersten Mal seit Ewigkeiten. Sie war irgendwie durcheinander. Wir sprachen über die Vergangenheit, auf eine eigentümliche Weise – jemand, der dabei gewesen wäre, hätte uns wohl für wirr gehalten. Merkwürdig, dass zwei Menschen so viele Jahre nicht miteinander reden, und wenn sie dann die ersten Worte aneinander richten, durchschauen sie doch, was der andere sagt. Nicht das, was wir sagten, war wichtig, sondern was wir damit ausdrückten. Ihr Streit mit Ane wurde mit keinem Wort erwähnt, und doch …«
»Was war mit Ane?«, unterbrach Leutnant Malu.
Ili zuckte zusammen. »Wie bitte?«
»Sie erwähnten einen Streit zwischen Moana und Ane. Worum handelte es sich dabei?«
Ili suchte nach Worten. »Nun, Ane war seit zwei Tagen nicht nach Hause gekommen.«
»Wenn sie nicht zu Hause war, wie konnte sie dann mit ihrer Großmutter streiten?«
»Der Streit war vorher.«
»Verstehe ich Sie richtig: Die beiden stritten über etwas, das erst noch geschehen sollte? Sie müssen zugeben, dass das nicht glaubwürdig klingt.«
»Das stimmt schon, aber … Hauptsächlich sorgte Moana sich nicht wegen Ane, sondern wegen der bevorstehenden Enteignung«, wich Ili ein wenig trotzig aus.
»Sind Sie sicher, dass Moana vor allem deswegen so durcheinander war?«
»Ganz sicher.«
»Immerhin berichteten Sie eben, die Vergangenheit hätte bei Ihrem Gespräch eine Rolle gespielt. Eine bestimmte Vergangenheit vielleicht? Irgendein Ereignis?«
»Die Vergangenheit allgemein.«
»Atonios Tod ist in diesem ›allgemein‹ inbegriffen?«
»Was wollen Sie eigentlich, Leutnant Malu?«
»Einen Tod aufklären.«
»Wenn ich Sie richtig verstanden habe, starb Moana an Herzversagen.«
»Diesen Tod habe ich auch nicht gemeint.« Er knurrte etwas in sich hinein und tauschte mit Ili einen langen Blick.
»Das ist alles?«, fragte er schließlich.
»Das ist alles«, sagte sie.
Das ist bestimmt nicht alles, dachte Evelyn.
Anes verschwommener, gleichgültiger Blick fixierte den Chinesen, als er näher kam. Sie blies den Rauch aus Mund und Nase, hustete heftig und drückte den glimmenden Zigarettenstummel in die Flasche. Mit einer Armbewegung schob sie die vier leeren Bierflaschen zur Seite, um Platz auf dem winzigen Kneipentisch zu schaffen.
Er musste der Mann sein, den sie erwartete.
Wer sonst soll sich heute zu mir an den Tisch setzen wollen?, dachte sie. So wie ich aussehe.
Keiner ihrer früheren Verehrer hätte sie wiedererkannt, und wenn doch, einen großen Bogen um sie gemacht. Sie hatte seit Tagen kein Make-up aufgelegt, die Haare weder gewaschen noch gebürstet, und die Wimperntusche hatte sie einfach trocknen lassen, so dass sie ihr stückchenweise abbröckelte. Ihr Gesicht war vom Weinen aufgedunsen wie das einer Schwangeren. Letzteres konnte sie allerdings nur vermuten, weil sie keinen Blick mehr in den Spiegel geworfen hatte, aus Angst vor dem, was sie darin erkennen würde. Sie ekelte sich auch so schon genug vor sich selbst. Was weder sie noch irgendjemand je für möglich gehalten hätte, war eingetreten: Ane Valaisi, die noch vor kurzem jeden Tag einen anderen Mann hätte haben können, die sich schon als neue Naomi Campbell gesehen und die Cocktails in schicken Bars getrunken und mit Raymond im Aggie Grey’s diniert hatte, sah aus wie eine Landstreicherin und saß in der übelsten Spelunke Apias.
Doch war ihr momentanes Aussehen nur zum Teil an diesem Ekel schuld: Bilder schwappten wie Wellen in ihr Bewusstsein, Erinnerungen kamen hoch, bedrängten sie.
Der Chinese verzog ein wenig den Mund, als er sich ihr gegenübersetzte.
Wahrscheinlich, dachte sie, stinke ich nach ungewaschenen Klamotten und habe eine Bierfahne. Ich kann es heute wirklich mit den billigsten Nutten aufnehmen.
Aber das war nun auch egal. Seit dem Streit mit Moana war es mit ihr immer weiter bergab gegangen: der geänderte Entschluss ihrer Großmutter, das Land nicht zu verkaufen, die Demütigung durch Raymond, die verlorene Zukunft als Model, Moanas Tod, das Auffinden der Leiche … Ein Schlag war auf den nächsten gefolgt, Tränen auf Tränen, bis sie nicht mehr klar denken konnte, bis zum Schock. Und als sie schon geglaubt hatte, dass es nicht mehr schlimmer kommen konnte, berichtete Ili ihr von dem Testament. Bis dahin hatte sie bei allen geplatzten Träumen und schlimmen Erinnerungen wenigstens noch etwas gehabt, nämlich ein Erbe, ein Sicherheitsnetz, das sie auffinge, egal, was die Zukunft bringen würde. Doch nun hatte sie plötzlich überhaupt nichts mehr. Das Land war nun allein Ilis Land, morgen schon das der Regierung, übermorgen das von Raymond, und letzten Endes bekäme Ili vielleicht einhunderttausend Dollar ausgezahlt, die sie für ein neues Haus ausgeben würde und dessen kläglicher Rest für ihren Lebensunterhalt draufginge.
Und alles nur wegen Ilis Halsstarrigkeit, dachte Ane.
»Guten Abend, Miss«, sagte der Mann.
Ane wusste, dass Chinesen immer höflich waren, selbst solche vom Schlage ihres Gesprächspartners. Vor hundert Jahren waren sie von den Deutschen als Plantagenarbeiter nach Samoa geholt worden, heute bildeten sie eine regelrechte Wohlstandselite.
Sie nickte. »Haben Sie sie?«, fragte Ane.
Er stellte ohne eine Regung seines hohlwangigen Gesichts eine Pappschachtel auf den Tisch, mit einer Selbstverständlichkeit, als trüge er darin seine Schildkröte spazieren.
»Hätten wir das nicht woanders erledigen können?«, fragte sie und blickte sich nach allen Seiten um.
»Vierhundert Tala«, sagte der Chinese, ohne auf ihren Vorwurf einzugehen.
Leute wie er jagten ihr einen Schauder über den Rücken. Früher war sie solchen Kerlen aus dem Weg gegangen, sie brachten nur Ärger. Heute konnte sie sich diesen Luxus nicht länger erlauben.
Sie kramte in der Hosentasche und zog eine Hand voll Noten und Münzen hervor. Die Hände unter dem Tisch verborgen, zählte sie das Geld. Fünfzig, siebzig, neunzig …
Mit vierhundertzwanzig Tala hatte sie den Papaya-Palast verlassen, kurz nachdem sie vom Testament erfahren hatte. Moana war noch nicht beerdigt worden, aber Ane hatte sich in dem Haus, das noch nicht einmal für einen Tag ihr gehören sollte, nicht länger wohlgefühlt. Die Räume waren ihr mit einem Mal fremd und unheimlich vorgekommen, und sogar ihr eigenes Zimmer flößte Ane Unbehagen ein. Ihr erster Impuls war gewesen, zu Ili zu gehen und Sicherheit bei dem einzigen Menschen zu finden, der noch von ihrer Familie übrig war. Aber dann hatte ein diffuses Gefühl sie davon abgehalten, vielleicht Gewohnheit. Nein, dort hielt sie nichts mehr, das war nicht mehr ihr Zuhause, war es im Grunde nie gewesen. Also hatte sie das wenige Geld aus ihren eigenen und Moanas Schubladen gekramt und war gegangen, ohne zu wissen, wohin sie wollte.
Evelyn, die ihr im Garten begegnet war, hatte ihr angeboten, sie mit dem Wagen zu fahren, wohin sie wollte; das hatte Ane jedoch knapp abgelehnt und stattdessen den ständig überfüllten Bus genommen. Eingeklemmt zwischen den Einheimischen war sie in der Tageshitze bis Salelologa gefahren und hatte dann die Fähre genommen. In Apia angekommen, hatte sie keine Ahnung, was sie nun tun sollte. Mit vierhundert Tala konnte man eine Menge anfangen, doch sie hatte weder Lust einzukaufen noch, Cocktails zu trinken.
Auf einem Schild stand »Fagali’i 5 Meilen«, und plötzlich zog es sie dorthin. Der nächste Bus wäre erst irgendwann in einigen Stunden gefahren, und so lief sie einfach los, ohne nachzudenken. Die ganze Zeit über war sie vollkommen ruhig, keine Tränen wie in den Tagen zuvor. Sie war ausgepumpt, leer. So marschierte sie, Meile um Meile, den schwarzen Sandstrand entlang durch die laue Brandung. Sie hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, als sie endlich den Steg der Perlenzucht in der Bucht vor Fagali’i sah. Zweihundert Meter vor der Küste ragten zwei notdürftig zusammengezimmerte Türme zwischen den gleißenden Funken der im Wasser reflektierten Mittagssonne auf, und bei ihrem Anblick glitt eine kurze Ahnung von Lächeln über Anes Lippen.
Am Ufer stand ein alter Mann, dünn, mit Rippen wie die diagonalen Falten eines Tuches.
»Ist das die Zucht von Joacino?«, fragte sie.
Der Alte nickte.
»Ich möchte ihn besuchen.« Joacino war der Einzige, den sie in diesem Moment sehen wollte.
»Ist nicht da«, sagte der Alte.
»Nicht da«, wiederholte sie.
»Ist gestern in den Osten gefahren, Verwandte besuchen. Morgen kommt er wieder zurück.« Er musterte sie neugierig. »Wer bist du?«
Für einige Augenblicke nahm sie Dinge um sich herum wahr, die sie schon seit Jahren nicht mehr bemerkt hatte: die harmlosen, schwarzen Sandkäfer, die über den Strand liefen, die eleganten Flugmanöver der kreischenden Albatrosse, den salzigen Geruch, der von den Booten ausging, das Spiel des Lichts auf den Kokospalmen.
Es blieb ein kurzer, trügerischer Moment.
»Stimmt was nicht?«, fragte der Alte.
Sie ging ohne ein Wort davon, zurück in die Richtung, aus der sie gekommen war. Ihre Füße schmerzten, doch sie stapfte unverdrossen weiter, die sinkende Sonne im Gesicht.
Der Gedanke kam ihr, dass das Schicksal sie aussaugen, ausspucken und vergessen wollte. Es nahm ihr alles, einfach alles, Land, Haus, Heimat, Familie, Raymond, Zukunft. Und gab ihr nichts. Das Schicksal wollte sie brechen.
Jäh kochte Widerstand in ihr auf. Wieso ließ sie das alles mit sich machen, so als wäre sie Treibholz? Warum durfte man so mit ihr umspringen? Warum wehrte sie sich nicht, kämpfte nicht?
Sie beschleunigte den Schritt, obgleich der Schmerz in ihren Gelenken pulsierte. Es war so leer in ihr, dass dieses Gefühl des Widerstands mit jeder Minute stärker wurde und immer breiteren Raum einnahm. In Apia endlich hatte sie sich entschlossen.
Als Erstes war sie in eine Spielbar gegangen und hatte nach einigem Herumfragen jemanden gefunden, der ihr für zwanzig Tala ein Geschäft vermittelte. Er hatte ihr eine Kneipe genannt, in der sie auf einen Chinesen warten sollte. Lange vor der Zeit war sie schon dort gewesen und hatte ein Bier nach dem anderen getrunken sowie eine halbe Schachtel Zigarillos geraucht.
»Vierhundert«, fragte sie jetzt nach. Ihr Vorhaben machte sie nervös, und sie musste das Geld dreimal nachzählen, bevor sie wusste, wie viel sie in der Hand hatte. Fährgeld, Zigaretten und Bier hatten am Budget gezerrt.
»Ich habe noch exakt dreihunderteinundsechzig Tala und vierzig Sene«, sagte sie.
»Der Preis ist vierhundert«, beharrte der Chinese ohne besonderen Nachdruck. Es war ihm offensichtlich egal, ob das Geschäft zustande kam oder nicht.
»Wenn ich aber doch nicht mehr habe?«
»Miss, wir sind hier nicht auf dem Fischmarkt. Sie können mir vierhundert Tala geben oder es lassen. Bitte, entscheiden Sie sich jetzt gleich. Ich habe noch einen anderen Termin.«
Das hinterhältige Schicksal versuchte also erneut, ihr ein Bein zu stellen, doch diesmal war sie entschlossen, sich durchzusetzen.
Sie zog ihren einzigen Ring vom Finger und warf ihn wie eine Spielkarte auf den Tisch.
Die Augen des Chinesen richteten sich auf das Schmuckstück, ohne dass er sich rührte. Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bevor er sagte: »Gut. Geben Sie mir noch dreihundertsechzig Tala, dann ist das Geschäft komplett.«
Der Ring war weit mehr als vierzig Tala wert, aber sie wollte es hinter sich bringen. Zu einem Bündel gerollt, übergab sie das Geld und warf einen Blick in die Pappschachtel. Als sie aufsah, ging der Chinese gerade zur Tür.
Anes Herz klopfte bis zum Hals. Sie besaß noch genau ein Tala vierzig Sene.
Und eine geladene Waffe.
Schließlich hat Raymond Kettner also doch noch gewonnen, dachte Evelyn, als sie an Ilis Seite hinter dem einfachen Holzsarg herlief. Es war sieben Uhr am Morgen, und in fünf Stunden lief das Ultimatum der Regierung ab.
Natürlich fand Evelyn es nicht richtig, in dem Moment, wo jemand zu Grabe getragen wurde, an etwas ganz anderes zu denken, und daher war sie bemüht, sich auf die Predigt des Geistlichen zu konzentrieren. Allerdings gelang ihr das nur schlecht. Sie hatte Moana zu wenig gekannt, um über ihren Tod tief betroffen zu sein, beruhigte sie ihr Gewissen, und außerdem stand die weitaus größere Tragödie ja erst noch bevor. Sie machte sich ernsthafte Sorgen um Ili und überlegte andauernd, wie sie ihr in den nächsten Tagen helfen könnte, diesen völligen Umbruch ihres Lebens zu bewältigen.
Der Geistliche hatte seine Predigt abgeschlossen und verabschiedete sich von den Trauernden. Ili hielt sich an Evelyn fest. Viele Leute waren nicht gekommen, bemerkte Evelyn. Der alte Ben war da, dazu noch drei Frauen, die sich nach einem letzten, nicht sonderlich ergreifenden Gruß zusammen mit dem Reverend entfernten. Obwohl nun zu dritt allein auf dem kleinen Friedhof von Palauli, war es nicht einsam und still um sie herum. Die Natur war zu vollem Leben erwacht. Aus den umliegenden Wäldern waren unzählige Geräusche zu hören, alles strahlte üppige, pulsierende Kraft aus. Evelyns Blick glitt über die tropischen Blumen. Sie schloss die Augen und blieb so stehen, Arm in Arm mit Ili.
Nach einer Weile trat der alte Ben einen Schritt heran. »Ich finde es nicht gut«, sagte er mit Friedhofsstimme, »dass Ane nicht gekommen ist. Moana war ihre Großmutter, hat immer für sie gesorgt, obwohl Ane es ihr nicht immer leicht gemacht hat. Ich finde das einfach nicht richtig.«
Auch Evelyn hatte schon an Ane gedacht. Zum letzten Mal hatte sie sie gestern im Garten des Papaya-Palastes gesehen. Ane war einem Gespräch mit ihr ganz offensichtlich ausgewichen und hatte auch das Angebot abgelehnt, ihr für etwaige Besorgungen den Wagen zu leihen oder sie zu begleiten. Was Evelyn vor allem beunruhigte, war der veränderte Ausdruck in Anes Gesicht.
»Sie muss ab jetzt allein zurechtkommen«, sagte Ili, und es hörte sich endgültig an. Sie wollte nicht länger über Ane nachdenken.
»Ich frage mich«, fuhr Ili fort, »ob Moana nicht genau zum richtigen Zeitpunkt gegangen ist. Versteht ihr, sie wollte nicht erleben, was uns bevorsteht, nicht verlieren, was uns seit der ersten Stunde gehört. Sie hat einen Fehler gemacht, und sie wusste es. Daran starb sie.«
»Ihr Herz war alt«, sagte Ben leise.
»Ja, es war alt. Und es hörte auf zu schlagen, als sie die Geister, die sie gerufen hatte, nicht mehr loswurde. Auch in dieser Hinsicht war sie Tupus Tochter.«
Ben übermannten die Gefühle, und er ging über den schmalen Kiesweg davon.
Ili sah ihm nach, dann schaute sie wieder in die Grube mit dem Sarg. »Erstaunlich, wie viel Trauer selbst ein Mensch wie Moana hinterlässt. Sie war stachelig, Evelyn, stachelig wie ein Dornbusch. Niemand kam je mit ihr zurecht, weder ihre Schulkameradinnen noch ihre Lehrer, weder die Nachbarn noch die Geistlichen. Selbst der gutmütige alte Ben wurde von ihr nur geduldet, weil er der Lebensmittelhändler war und sie ihn brauchte. In den letzten Jahren hat sie, glaube ich, sogar ihre eigene Mutter Ivana gehasst, dafür, dass diese sie mit so viel unnötiger Bitterkeit voll gestopft hat. Moana hat sich trotz mehrerer Versuche nie von diesem beherrschenden Gefühl befreien können und es deswegen an jedem ausgelassen. Sie sehen ja, wie wenige Menschen zu ihrer Beerdigung gekommen sind. Und das Passende daran ist, dass Moana selbst es nicht anders hätte haben wollen.«
Evelyn stimmte mit dieser Einschätzung überein, und obwohl sie sich zuerst nicht traute, gab sie sich einen Ruck und fragte: »Ob sie wohl wollte, dass Sie zu ihrer Beerdigung kommen?«
Ili blinzelte amüsiert, bevor sie wieder ernst wurde. »Vor ein paar Tagen hätte ich Ihnen darauf eine klare Antwort geben können. Aber heute … Moanas Testament hat mich ebenso verwirrt wie ihr nächtlicher Besuch, kurz bevor sie starb. Verwirrt und beschämt.«
»Beschämt?«
Ili nickte. »Was wir viele Jahrzehnte lang nicht geschafft haben, hat Moana vor zwei Tagen versucht: Frieden zu schließen. Sie wollte mir die Hand reichen, aber ich – ich war zu stolz, sie anzunehmen. Ich war wütend auf sie, weil ihres Rachedurstes wegen der Stein erst ins Rollen gebracht worden war, der uns die Heimat kosten soll. Als sie anfing, von Tupu, Tristan und Ivana zu sprechen und dass sie und ich wegen all des Hasses von Anfang an keine echte Chance gehabt hatten, da habe ich urplötzlich die Möglichkeit gesehen, ihr einen kleinen Schlag zu versetzen. Ich spürte ihre Verletzbarkeit – und nutzte sie unverschämt aus. Ich ließe diese vermeintlich schlechten Voraussetzungen nicht gelten, habe ich gesagt, und mit diesen letzten Worten schlug ich die dargebotene Versöhnung aus. Sie drückte mir die Kerze in die Hand und verschwand.«
»Sie konnten doch nicht wissen, dass es das letzte Mal sein würde, dass Sie sie lebend sahen.«
»Natürlich nicht. Aber hätte ich es gewusst, ehrlich, Evelyn, ich weiß nicht, ob ich nicht genauso gehandelt hätte. Wir waren so sehr daran gewöhnt, einander zu quälen.«
So gesehen, dachte Evelyn, hätte Moana keinen klügeren Schachzug machen können, um Ili eins auszuwischen, als ihr testamentarisch allen Besitz zu hinterlassen, sie damit Selbstvorwürfen auszusetzen und ihr die alleinige Verantwortung für den Verlust des Landes zuzuschieben. Doch Evelyn verdrängte diesen Gedanken schnell, der ihr umso peinlicher war, als sie noch immer vor dem Grab der Toten stand.
»Es ging ihr schlecht«, fügte Ili hinzu. »Ihr Kopf zitterte. Ich hätte sie beruhigen müssen, stattdessen regte ich sie noch weiter auf. Wer sagt mir, dass ihr Herz nicht meinetwegen stehen geblieben ist?«
»Was Sie an jenem Abend zu Moana gesagt haben, war weit harmloser als das, was Moana neulich Ihnen zugerufen hat, Ili. Sie hätten ebenso gut tot umfallen können, hundertmal schon, nach allem, was Sie mir erzählt haben. Ich stehe nur ungern hier vor dem Sarg und spreche es so deutlich aus, aber Moana war nicht wie Sie, Ili. Moana würde nie voller Selbstzweifel vor Ihrem Grab stehen und die Vergangenheit kritisch betrachten. Sie hat ihre Mutter Ivana an Niedertracht noch übertroffen, hat Senji in den Tod getrieben, hat Atonio gegen Sie aufgehetzt, und nur weil sie vor zwei Tagen eine magere Entschuldigung gemurmelt und Ihnen eine Kerze in die Hand gedrückt hat, sollten Sie nun nicht anfangen, alle Schuld bei sich selbst zu suchen.«
»Aber ich habe ihr Senji weggenommen.«
»Man kann niemandem einen Mann wegnehmen, wenn der es nicht auch will. Sie gehörten zu Senji, und er gehörte zu Ihnen. Wie hätten Sie auch sonst jahrelang glücklich zusammenleben können, trotz der schwierigen Umstände!«
So als wollte Ili ihrer verstorbenen Rivalin und Cousine den Schmerz ersparen, dass an ihrem Sarg über Senji gesprochen wurde, trat Ili vom Grab zurück, hakte sich bei Evelyn ein und ging ganz langsam an den beinahe identisch aussehenden, weißen Holzkreuzen des Friedhofs vorüber, die von Orchideen und Azaleen umgeben waren.
»Erinnern Sie sich noch«, fragte Ili, »was ich Ihnen über Atonio gesagt habe? Diese unnützen Streitereien über Obstsorten, Anbauflächen und Absatzmöglichkeiten?«
»Sie hatten sehr gute Argumente gegen seine Vorschläge, und Sie haben Recht behalten, was den Kaffee angeht.«
»Ja, ich hatte die besseren Argumente, aber das war nicht der einzige Grund für meinen Widerstand gegen seine Ideen, vielleicht nicht einmal der wichtigste. Die Wahrheit ist: Ich habe es genossen, mit ihm zu streiten, nachdem er sich verändert hatte. Das war für mich mindestens ein ebenso guter Grund wie die sachlichen Argumente. Er war Moanas einziges Kind. Ihm seine Träume zu verbauen hat mir gut getan. Ihn zu schlagen, hieß, sie zu schlagen. Evelyn, als ich Ihnen neulich an der Palauli Bay riet, meine Fehler nicht zu wiederholen, habe ich genau dieses Verhalten von mir gemeint: Rache. Ich rächte mich für Moanas Gemeinheiten während unserer Jugend, indem ich in der Wunde bohrte, die meine Heirat mit Senji bei ihr hinterlassen hatte, und sie rächte sich, indem sie Senji denunzierte, woraufhin ich wiederum versuchte, ihr Atonio zu entfremden, und als er Tupu immer ähnlicher wurde, mit Atonio zu streiten. Es war ein irrsinniger Kampf, der bis in Moanas letzte Stunden fortdauerte, und ich trage daran ebenso viel Schuld wie sie.«
Evelyn lächelte mild. Ilis Selbsteinschätzung erinnerte sie an ihre eigene vor einigen Jahren. Für alles hatte sie sich die Schuld gegeben, an jeder guten Absicht im Nachhinein noch einen schlechten Hintergedanken gefunden. Sich jetzt quasi selbst reden zu hören war eine ungewohnte und lehrreiche Erfahrung – und auch nicht frei von Komik.
»Ich erinnere mich allerdings auch«, sagte Evelyn, »dass Sie Atonio gegenüber oft nachgegeben haben, zumindest so oft, dass er seine unternehmerische Chance bekam, ohne den wirtschaftlichen Fortbestand der Plantage zu gefährden. Für mich ein Zeichen, dass Sie selbst in seiner schlechten Zeit sehr wohl mit ihm fühlen konnten und dass Sie die Streitereien damals weit weniger forcierten, als Sie mich und sich selbst heute glauben machen wollen.«
»Nach Anes Geburt wurde es zwischen uns erst so richtig schlimm«, wandte Ili ein. »Ich war hart zu ihm. Sehr hart.«
»Nach Anes Geburt wurde auch Atonio erst so richtig schlimm. Was wäre die Alternative gewesen? Ihn die Plantage ruinieren zu lassen, nur weil er ein vom Leben gezeichneter, verbitterter Mann war? Das wäre nun wirklich falsches Mitleid gewesen, wenn Sie so weit gegangen wären.«
Der letzte Satz schien Ili betroffen zu machen, warum, konnte Evelyn nicht verstehen. Daher wurde sie noch einmal deutlich.
»Nein, Ili, ich kann Ihnen nicht die gleiche Schuld an diesem Krieg geben wie Ihrer Cousine. Sie haben fast immer aus Liebe, Zuneigung und gesundem Menschenverstand gehandelt – auch als Sie Tino das Geld für seine Abreise gaben, denn wie Sie selbst sagten, war das das Beste, was Moana passieren konnte. Moana hingegen handelte aus Eifersucht, Neid und verletztem Stolz.«
Sie waren am kleinen hölzernen Friedhofstor angekommen, und Ili blieb stehen und sah Evelyn mit alten, zweifelnden Augen an. »Sagen Sie mir ehrlich, Evelyn: Gibt es einen Unterschied zwischen den Untaten, die man aus Liebe begeht, und denen, die man aus Rache oder Hass begeht? Ist das Resultat nicht dasselbe? Richten wir, gleich, welche Gründe und Motive wir haben, nicht denselben Schaden an? Einer Ihrer Dichter, Goethe, hat den Satz geschrieben: ›Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.‹ Trifft nicht viel eher das Gegenteil zu? Sind es nicht allzu häufig die guten Absichten, die zu Katastrophen und Elend führen? Sehen wir das nicht jeden Tag, überall um uns herum?«
Evelyn hielt Ilis Blick stand. Ihr war bewusst, dass es noch einen dunklen Punkt gab, nämlich Atonios Tod, über den Ili bis zum heutigen Tag geschwiegen hatte. Dieser Tag vor elf Jahren war das letzte Stück des Mosaiks vom Leben und Sterben im Papaya-Palast. War Ili eine Mörderin, so wie es Moana behauptet hatte? Oder hatte sie unwissentlich einen Unfall verschuldet? Möglicherweise hatte eine unglückliche Verkettung von Umständen zu Atonios Flammentod geführt, und Ili war eines der Glieder, was sie sich bis heute nicht verzieh.
Obwohl Evelyn so wenig über die Vorkommnisse wusste und so viel darüber wissen wollte wie Leutnant Malu oder die anderen Insulaner, waren ihr die Gerüchte und Indizien im Grunde egal. Vielleicht hatte sie zwischendurch kurz an Ilis Unschuld gezweifelt, und vielleicht zweifelte sie auch heute noch, aber sie vertraute Ili wie kaum einem anderen Menschen.
»Ich weiß es nicht«, räumte Evelyn ein. »Aber ich halte Sie für eine liebenswerte Frau mit einem bemerkenswerten Lebensweg. Mehr kann man doch von sich selbst nicht verlangen, oder?«
Ili sagte nichts dazu. Stumm und gebeugt ging sie an Evelyn vorbei durch das knarrende Tor.
Wer weiß, dachte Evelyn mit einem Blick zurück auf Moanas Grab, was morgen ist? Wer weiß, wie viele Gelegenheiten ich noch haben werde, Ili das zu sagen, was ich ihr die ganze Zeit schon sagen wollte?
Evelyn berührte Ili an der Schulter. »Ich bin froh, Ihnen begegnet zu sein.«
Und gedanklich fügte sie hinzu: Selbst wenn Sie Atonio auf dem Gewissen haben.