5
Samoa, November 2005
Die ersten Sonnenstrahlen blitzten durch das Flechtwerk der Bougainvillea und überraschten Ili ebenso wie Evelyn.
»Du liebe Güte«, stieß Ili hervor. »Ich habe überhaupt nicht bemerkt, wie viel Zeit vergangen ist. Über neunzig Jahre bin ich alt und fange an, die Nächte durchzumachen.«
Evelyn schmunzelte. »Ich habe die Dämmerung gar nicht mitbekommen«, sagte sie.
»In unseren Breiten, so nah am Äquator, kommt der Tag schnell.«
Evelyn ließ einen Augenblick verstreichen, dann fragte sie: »Was meinten Sie mit ›fort‹? Sie sagten, Tuila sei fortgewesen. Die Blüte, ihr heimliches Verschwinden … Heißt das, sie hat Tristan verlassen? Liegt sie deswegen nicht neben Tristan auf dem Friedhof der Europäer?«
Ili seufzte. Sie rappelte sich vom Verandaboden hoch, ihr Blick schweifte über das Land. Es war ein für diese Jahreszeit normaler Morgen, heiß, feucht, windstill und doch kristallklar. Jede Einzelheit war deutlich zu erkennen. Der Himmel war noch blass, beinahe farblos, aber in Kürze schon würde er im prächtigsten Azur strahlen. Eine Wolkenkappe bedeckte den Mount Mafane und die übrigen Berge im Inselinneren. Hinter dem Haus warteten bereits die Vögel. Alles sah aus wie immer. Der mächtige Pulsschlag des Insellebens ging weiter und kümmerte sich nicht um die Gefahr, die Ilis Morgen verdunkelte.
»Lassen Sie uns ein anderes Mal weiterreden, Evelyn. Ich muss mich umziehen und die Vögel füttern«, sagte Ili. »Und danach mache ich mich auf den Weg zur Fähre.«
Evelyn drängte nicht weiter, obwohl sie fand, dass Ilis Erzählung an einem sehr ungünstigen Zeitpunkt aufhörte. »Sie wollen zur Fähre laufen?«, fragte sie.
»Nur bis zum Bus in Palauli. Eigentlich benutze ich ihn nicht gerne, denn er ist ungemütlich und schwankt wie ein Schiff bei Windstärke zehn. Aber mir bleibt nichts anderes übrig.«
»Sie haben die ganze Nacht nicht geschlafen«, wandte Evelyn vorsichtig ein.
Ili seufzte. »Ich müsste mich ausruhen, da haben Sie Recht, Evelyn. Aber ich kann es mir nicht leisten, auch nur einen Tag zu verlieren. Wissen Sie, in Apia gibt es einen Notar, der bisher alle juristischen Angelegenheiten meiner Familie bearbeitet hat. Ich muss mit ihm sprechen, Auge in Auge. Er soll mir sagen, was ich gegen Moanas Vorhaben unternehmen kann.«
Eigentlich hatte Evelyn sich aus gutem Grund vorgenommen, nicht in die Auseinandersetzung zwischen Ili und Moana einzugreifen. Aber sie sah ein, dass sie längst schon eingegriffen hatte und bereits viel zu viel wusste, um sich blind und taub zu stellen. Ilis Geschichte und die des Hauses ließ sie nicht los, und sie spürte, dass wenn sie Ili jetzt nicht unterstützte, sie sich das immer vorwerfen würde. Außerdem: Sie fühlte sich gut erholt nach dem Tiefpunkt gestern; den Wein vermisste sie überhaupt nicht. Die Aussicht, eine Aufgabe zu übernehmen und sich um jemanden zu kümmern, machte sie beinahe euphorisch.
»Wenn Sie nichts dagegen haben, begleite ich Sie«, bot sie an.
Ili blinzelte Evelyn dankbar zu. »Das müssen Sie nicht.«
»Ich möchte aber«, beharrte Evelyn. »Und außerdem würde ich gerne jemanden anrufen.«
Sie hatten Glück. Auf halbem Weg zum Bus kam ihnen Ben Opalani in seinem quietschenden Lieferwagen entgegen. Er hielt an und beugte sich aus dem Fenster, so dass sich die Brust unter seinem weißen T-Shirt wölbte.
»Talofa, Ili!«, rief er. Evelyn, die er nicht kannte, begrüßte er mit einem kurzen Heben und Senken seines Arms und einem freundlichen Nicken. »Soll ich dich irgendwohin mitnehmen?«
»Fährst du nicht in die andere Richtung?«
»Ich wollte zu dir, um dich zu fragen, ob du noch eine Lieferung brauchst. Heute ist mein letzter Tag als Kaufmann.«
Ili seufzte: »Ach, Ben, ich wünschte, ich könnte irgendetwas sagen oder tun, um dich umzustimmen.«
Er schüttelte heftig den Kopf, so als wolle er eine Versuchung abwehren. »Der Vertrag des Amerikaners liegt schon bei mir zu Hause. Mit dem Geld kaufe ich mir ein fale in Salelologa. Weiß noch nicht, was ich danach machen werde, irgendetwas fällt mir schon ein. Vielleicht frage ich den Amerikaner, ob er mir eine Arbeit in seinem Hotel verschaffen kann. Als Lieferant vielleicht.« Er lachte, aber es hörte sich nicht fröhlich an.
»Was ist nun?«, fragte er nach einem Augenblick peinlicher Stille. »Soll ich euch mitnehmen?«
Ili stellte ihre Begleiterin kurz vor und setzte sich neben Ben; Evelyn nahm auf dem Notsitz hinter ihr Platz. Der Rest des Fahrerhauses war angefüllt mit Paketen und Säcken, die in der Hitze einen intensiven Duftstrauß von verschiedenen Aromen bildeten, den auch der Fahrtwind nicht milderte. Immer wieder streifte die Insassen ein Hauch von Limetten, grünen Bohnen oder Kohl.
Ili erklärte Ben, was im Papaya-Palast vorgefallen war und weshalb sie nach Apia fahren wollte. »Im Grunde ergeht es mir also genauso wie dir, mit dem Unterschied, dass ich es nicht will.«
Ben zuckte mit den Schultern. »Was willst du machen, Ili, das ist der Weltmarkt. Der fragt nicht danach, was du willst. Kleine Betriebe wie meiner haben keine Chance mehr. Bei dir liegt der Fall anders. Wenn du rechtzeitig dein ganzes Land genutzt hättest …«
»Und damit die halbe Insel in eine riesige Plantage verwandelt hätte? Die Vielfalt Savaiis zerstört hätte? Nein, danke.«
»Diese Freiheit hat man heute nicht mehr«, entgegnete Ben. »Wenn du selber nicht wächst, wirst du vom Weltmarkt überrollt, einfach so. Der fragt nicht danach, wie du dich dabei fühlst.«
»Wenn man dich hört, Ben, könnte man meinen, der Weltmarkt sei ein außerirdisches Wesen, das die Erde überfällt.«
Ben lachte kurz auf, aber wieder hörte es sich nicht fröhlich an. »Gewissermaßen ist es so.«
»Er wird von Menschen gemacht, dieser Weltmarkt. Menschen haben ihn erfunden, und Menschen planen seine Zukunft.«
»Na und?«
»Wenn Menschen ihn steuern, können andere Menschen ihn umsteuern. Natürlich müssen wir alle uns bis zu einem gewissen Grad anpassen, das haben schon unsere Vorfahren und Ahnen gemacht, als die papalagi kamen, die Amerikaner, Briten, Deutschen und später die Neuseeländer. Und wir selbst haben uns auch angepasst. Hast du nicht Kaffee angebaut, als ›der Weltmarkt‹ es wollte? Und wie wird es dir gedankt? Akzeptieren wir nicht schon seit Jahren, dass unsere Bananen, Kaffeebohnen und Papayas, die wir aufwändig anpflanzen, pflegen und ernten, viel schlechter bezahlt werden als Schrauben, Radios und Telefone? Ich muss dir ehrlich sagen, Ben, dass ich es seltsam finde, dass auf dem Weltmarkt zufälligerweise alles, was wir produzieren, fast nichts kostet, während alles, was in Australien, Amerika und Europa produziert wird, viel kostet. Der Weltmarkt scheint mir ziemlich parteiisch zu sein, oder? Ich verweigere mich Änderungen oder Einschränkungen im Prinzip nicht. Nur wenn sie bedeuten, dass ich meine Heimat verliere oder nicht wiedererkenne, dann schon. Wer will mir das verübeln? Wer will einem Baum verübeln, dass er zornig ist auf den, der ihm die Wurzeln kappt? Ein Baum kann sich leider nicht wehren. Ich kann es. Und du könntest es auch.«
Sie schwiegen. Ili lehnte sich auf ihrem Sitz zurück und betrachtete die vorbeiziehenden Mangroven mit ihren gewaltigen, weit verzweigten Stämmen, während Ben den Blick auf die schnurgerade Straße richtete.
Evelyn kannte die Diskussion, die die beiden geführt hatten, von früher, wobei ihr allerdings Ilis Standpunkt neu war. Carsten war als Mitglied einer Großbank oft mit ähnlichen Problemen konfrontiert worden, doch er stand dabei auf der Seite des Weltmarkts. Er sah und berichtete die Dinge aus der Perspektive seiner Kunden, multinationaler Konzerne, die sich in einem permanenten Veränderungsprozess neuen Gegebenheiten anpassen mussten, um weiterhin Gewinne machen zu können. Ihr war Carstens Sichtweise stets einleuchtend erschienen, wobei sie sich allerdings nie näher mit dem Thema auseinander setzte. Keiner von ihnen ignorierte die Schwierigkeiten der so genannten unterentwickelten Länder, doch sie sahen die meisten Ursachen der Armut in den Ländern selbst. Regelmäßig, fast schon routiniert, spendeten sie für Hungerleidende, und Carsten hatte vor einem Jahr sogar vorgeschlagen, die Patenschaft für ein Kind aus Ecuador zu übernehmen. Doch Evelyn war nicht darauf eingegangen, wie sie auch sonst auf nichts mehr eingegangen war. Sie hatte wie in einem Vakuum gelebt, in dem die Welt ausgeschlossen war.
Jetzt saß sie neben zwei Menschen, die bald schon alles verlieren könnten, was ihr Leben lebenswert machte.
Ich weiß, wie diese Menschen sich fühlen, dachte sie plötzlich. Ich habe auch das Wichtigste in meinem Leben verloren.
Das kleine Café Pundt an der Beach Road lag geschützt von der Glut des Tages im wohltuenden Schatten der Kathedrale von Apia. Hier wartete Evelyn auf Ili. Der merkwürdige Name ging – laut einer Tafel neben dem Eingang – auf einen deutschen Postschiffkapitän der Kolonialzeit zurück, der in diesem Café, das damals noch Hafenkneipe genannt wurde, regelmäßig sein Seemannsgarn gesponnen hatte. Heute war das Pundt ein Telefoncafé, von wo aus die Samoaner ihre Verwandten in Neuseeland anriefen. Es herrschte wenig Betrieb. Innen spielte man Billard, und auf der Veranda mit Blick auf den Yachthafen, zwei Tische von Evelyn entfernt, saßen Einheimische beim Kartenspiel, in den Mundwinkeln eine billige, bohnendürre Zigarre voll stinkendem Kraut und griffbereit neben sich Gläser mit Gin und Schalen voll erfrischender Kokosmilch. Obwohl oder weil sie nur Muscheln als Zahlungsmittel einsetzten, lachten und schimpften sie, je nachdem, wie ihr Spiel stand. Gelegentlich kam der Wirt herbeigeschlurft, breit und schwer wie Ben Opalani, aber mit einer dicken Knollennase, stellte sich neben die Männer an den Tisch und diskutierte mit ihnen über Dinge, die niemanden so richtig zu interessieren schienen, nicht einmal ihn selbst. Dann schlurfte er wieder hinein, wo er kaum etwas anderes tat, als ab und an die Lautstärke des Radios zu verändern, mal leiser und mal lauter, je nachdem, welche Musik es gerade ausspuckte.
Evelyn saß einfach nur da und beobachtete die vorbeifahrenden Radfahrer, die plaudernden Menschen und das Glitzern der Lagune. Die Wärme, das Gelächter, die schaukelnden Yachten – sie nahm alles auf wie ein Fotoapparat. Diesen Augenblick wollte sie im Gedächtnis behalten, obwohl sie nicht wusste, warum. Vielleicht, weil sie anfing, die Dinge um sich herum wieder wahrzunehmen, vielleicht, weil ihr nicht mehr alles gleichgültig war. Noch waren diese Gefühle in ihr lau und unbestimmt. Sie traute ihnen nicht. Sie traute sich nicht, so wie jemand, der lange auf schwankendem Grund gelaufen war und sich nicht sofort an den festen Boden unter den Füßen gewöhnen kann.
Trotzdem kamen ihr unwillkürlich die schönen Tage in den Sinn, die Tage vor dem Grau. Wie oft hatte sie mit Carsten in Cafés wie diesem gesessen und auf eine Küste geblickt, die Sonnenbrillen vor den Augen und sich an den Händen berührend! Eine Unterhaltung, ein Lachen, ein vertrauter Blick über die Sonnenbrille hinweg. Sie hatten die gleichen Dinge geliebt: frische Pasta beim Italiener um die Ecke, Rucksacktouren durch Frankreich, Liebe im Freien, Romane von Dickens, gotische Kathedralen, Mousse au chocolat … Als sie kurz nach dem erfolgreichen Abschluss ihres Studiums heiraten wollten, hatten sie sich binnen zehn Minuten darauf geeinigt, wo, wann, wie und mit wem. In der Frage, wann Kinder möglich wären, stimmten sie überein, dass sie sich erst beruflich entwickeln wollten. Und als sie mit ihrer eigenen Unternehmensberatung und er in der Bank Erfolge feierten und nach einem Haus für sich suchten, fanden sie ihr gemeinsames Wunschobjekt schon nach kurzer Zeit. Selbst wenn sie stritten, wussten sie genau, was zu tun wäre, um sich wieder zu versöhnen. Sie verstanden sich beinahe wortlos. Sie wussten immer, was der andere brauchte.
Seit vier Jahren wussten sie es nicht mehr. Genauer, seit vier Jahren und zwei Tagen.
Jener erste November 2001 änderte alles. Es hätte der glücklichste Tag in ihrem gemeinsamen Leben werden sollen, der Anfang von etwas Wunderschönem. Carsten brachte sie am Morgen mit dem Wagen zum Krankenhaus; sie mussten lachen, weil der Gurt beinahe nicht mehr um ihren aufgeblähten Bauch passte. Immer wieder lächelten sie sich wortlos an, und ab und an streichelte Carsten ihre Wange. Er war von dem Tag an, da sie es ihm gesagt hatte, noch zärtlicher als zuvor. Sie waren sich immer schon nahe gewesen, doch die Zeit der Blumensträuße und anderen kleinen Überraschungen hatten sie nach beinahe zehn Jahren Ehe allmählich hinter sich gelassen. Zu aufreibend war der beruf liche Alltag: Sie reiste viel, er reiste viel. Manchmal hatte Evelyn sich wie in jenem Film gefühlt, in dem Doris Day eine Arztfrau spielt, die zufällig für die Werbung entdeckt wird, woraufhin sie und ihr Mann sich nur noch die Klinke in die Hand geben. Evelyns ungeplante Schwangerschaft unterbrach diesen Zustand. Sie war zuerst skeptisch, weil ihre Unternehmensberatung florierte und die Aufträge immer interessanter wurden. Sie ließ sich jedoch schnell von Carstens bedingungsloser Freude anstecken, der im wahrsten Sinne des Wortes Purzelbäume schlug. Und bei genauerer Betrachtung stellte sich heraus, dass die beruflichen Schwierigkeiten, die sich aus der Schwanger- und später Mutterschaft ergeben könnten, gar nicht so gravierend waren. Sie machte Bianca, eine ihrer sieben Angestellten, zur gleichberechtigten Partnerin und wusste somit die Kontinuität der Firma gewahrt. Sie selbst könnte dann nach der Geburt des Kindes zunächst sporadisch und nach zwei, drei Jahren wieder regelmäßig ihrer Arbeit nachgehen.
»Wenn dann nicht schon das nächste unterwegs ist«, sagte Carsten augenzwinkernd.
»Lass mich erst einmal dieses hier zur Welt bringen, du Schuft.«
Sie lachten. Auch an jenem ersten Novembertag lachten sie im Krankenhaus. Die Wehen waren für diesen Tag erwartet worden und setzten auch tatsächlich ein. »Er ist pünktlich«, sagte Carsten laut genug, damit alle Schwestern und Ärzte ihn hören konnten. »Das hat er von mir.«
»Von mir auch«, fügte Evelyn hinzu.
Der Arzt hielt die neueste Aufnahme gegen das Licht und blickte dann sie und Carsten ernst an. »Sie irren sich beide.«
»Wieso? Was ist los?«, wollte Evelyn wissen.
Der Arzt zwinkerte. »Wir waren uns bei dem Geschlecht ja bis zum Schluss nicht ganz sicher. Nun wissen wir es. Sie ist pünktlich, muss es korrekt heißen.«
Evelyn und Carsten atmeten erleichtert auf und brachen erneut in Gelächter aus.
Der Arzt mit dem Sinn für makabren Humor sollte Recht behalten. Das Mädchen wurde am frühen Abend geboren. »Eine Bilderbuchgeburt«, meinte die Hebamme. »Und ein Bilderbuchbaby.«
Vor allem Letzteres bestätigten alle, die sich an jenem Abend mit Carsten und ihr freuten: ihre Eltern, ihre Schwäger und Schwägerinnen, ja sogar die Schwiegereltern. Sie küssten Evelyn, umarmten sie, lobten ihre Tapferkeit, und ihre Schwiegermutter begann sogar von den eigenen drei Geburten zu erzählen, was bedeutete, dass Evelyn in ihren Augen eigentlich erst seit diesem Tag so richtig zur Familie gehörte.
Kurz vor Ende der Besuchszeit war dann noch Bianca, ihre Geschäftspartnerin, vorbeigekommen. Biancas direkte, schnörkellose Art und das Fehlen jeglicher privater Berührungspunkte hatten zwar keine Freundschaft zwischen ihnen entstehen lassen, aber Bianca war die fähigste von allen Mitarbeiterinnen gewesen, und auf beruflichem Gebiet stimmten sie vollständig überein.
Bianca kam zwischen zwei Terminen vorbeigeflitzt, aufgedreht und gut gelaunt, brachte eine ziemlich hässliche Stoffgiraffe mit, sagte Evelyn, sie sehe sehr glücklich und sehr ramponiert aus, und hinterließ einen Geruch von Zigarettenrauch, der an ihrer Kleidung gehaftet hatte.
Dann kehrte endlich Ruhe ein. Evelyn war müde und übergab ihr Töchterchen der Nachtschwester. Carsten blieb noch einige Minuten an ihrem Bett sitzen.
»Warum gehst du nicht?«, fragte sie.
Er nahm ihre Hand. »Ich warte hier, bis du eingeschlafen bist.« Er musste nicht sagen, dass er sie liebte. Es stand in seinen Augen, war in jeder Geste zu spüren.
»Welchen Namen geben wir ihr?«, fragte sie an der Schwelle zum Schlaf, die Augen schon geschlossen.
»Das besprechen wir morgen. Schlaf gut.«
Und dann hörte sie es doch noch. Carsten stand auf, ging zur Tür und murmelte: »Ich liebe dich.«
Das Nächste, woran sie sich erinnerte, war das grelle Licht einer Glühbirne direkt über ihrem Bett.
»Frau Braams?« Ein Arzt stand, von zwei Schwestern flankiert, vor ihrem Bett, die eine mit einer Spritze in der Hand.
»Ihre Tochter …« Er stockte. »Es tut mir Leid, aber … Sie ist soeben verstorben.«
Und noch bevor sie etwas sagen konnte, hob die eine Schwester ihren linken Arm an, und die andere spritzte ihr das Beruhigungsmittel.
Evelyn sprang auf, warf dabei fast den Tisch um. Die Schale mit der Kokosmilch fiel auf den Boden, und ihr Inhalt ergoss sich über die Steinfliesen der Terrasse. Ihre Hände zitterten. Immer wenn die Erinnerung an jenen grauenhaften Tag sie überkam, bebte ihr ganzer Körper, und das geschah fast jeden Tag und sehr oft in der Nacht.
Eins, zwei, drei … Sie brauchte einige Sekunden, um sich wieder einigermaßen zu fassen. Nervös blickte sie sich um. Die Männer hatten ihr Kartenspiel kurz unterbrochen und sahen sie halb neugierig, halb gleichmütig an. Einer von ihnen rief in die Bar hinein, woraufhin der dicke Wirt kam und sich unter Aufbietung all seiner Kräfte bückte, um die Schale aufzuheben.
»Das war sehr ungeschickt von mir«, entschuldigte sie sich.
Er zuckte mit den Schultern. »Okay«, kommentierte er den Vorfall bloß. »Soll ich Ihnen eine neue bringen?«
Von überall schien ihr plötzlich der Geruch von Gin und Rum in die Nase zu wehen, aus den Gläsern der Gäste, aus der benachbarten kleinen Cocktailbar. Sie wollte plötzlich nicht mehr hier sein, in Apia, sie wollte zurück in den Papaya-Palast, eine Stunde an der Bucht liegen, das Meer spüren, den Wellen zuhören. Und sie wollte etwas anderes trinken als Kokosmilch.
»Mir ist nach etwas … Gehaltvollerem.«
»Gin, Whisky, Wodka …«
»Gin«, sagte sie.
Der Wirt drehte sich nickend um.
»Mit Wodka gemischt«, fügte sie hinzu.
Er nickte erneut.
»Oder, halt. Warten Sie bitte.«
Er warf ihr einen gelangweilten Blick zu.
»Entschuldigung. Ich … Ich habe es mir anders überlegt. Einfach Kokosmilch, bitte, wie vorher. Und ein Telefon – falls es möglich ist, von hier draußen ein Ferngespräch zu führen.«
Diesmal wartete er einen Augenblick, um sicherzugehen, dass ihre Entscheidung endgültig war, bevor er in der Bar verschwand.
Evelyn setzte sich wieder und versuchte, sich zu beruhigen, was ihr nur langsam gelang. Ihre Hände krampften sich in ihr T-Shirt. Sie hatte Angst vor dem Gespräch, das sie wieder mit der Welt, die sie hinter sich gelassen hatte, in Verbindung brächte.
Der Wirt hatte ihr zwischenzeitlich das Telefon gebracht, einen klobigen Apparat mit Wählscheibe, der bestimmt schon hunderttausendmal eine Nummernverbindung hergestellt hatte. Die Wahlprozedur dauerte ewig. Zahl für Zahl ratterte die Scheibe, danach knackte es fast eine Minute lang in der Leitung, bevor endlich ein schwaches Signal zu hören war, so als wolle man jemanden auf dem Mond anrufen. Während Evelyn wartete, spürte sie, wie es ihr schwerer und schwerer fiel, den Hörer in der Hand zu behalten. War es klug, sich, so kurz nach einem Anfall, dem Stress dieses Anrufs auszusetzen?
Aber ich habe Bianca versprochen, dieses Gespräch zu führen, dachte sie. Wenn ich nicht mal mehr das hinbekomme … Sie will doch einfach nur wissen, wo ich bin. Diese Kleinigkeit zumindest bin ich der Frau schuldig, die mir das Leben gerettet hat.
Der Gedanke daran löste augenblicklich einen Schweißausbruch bei Evelyn aus.
Durch den Hörer hallte: »Bianca Kramer.«
Evelyn legte auf.
Evelyn stellte fest, wie viel leichter es ihr fiel, an Rays Tür anzuklopfen, dabei wäre jede normale Frau in dieser Situation viel nervöser als vor einem Telefongespräch mit einer Kollegin.
Der missglückte Anruf hatte sie aufgewühlt. Sie hatte sich über sich selbst geärgert, weil sie heute Vormittag noch geglaubt hatte, dass es ihr etwas besser ginge, nun aber feststellen musste, den einfachsten Konfrontationen mit der Vergangenheit nicht gewachsen zu sein. Da sie mit Ili, die ihren Notarbesuch erledigte, erst in zwei Stunden im Pundt verabredet war, hatte sie beschlossen, die Zeit bis dahin nicht mit Herumsitzen zu verbringen – zu groß wäre die Gefahr gewesen, sich erneut in Gedanken zu verlieren. Bei der Wahl, ob sie lieber Robert Louis Stevensons Grab auf den Hügeln oberhalb von Apia besuchen oder eher auf die Einladung Ray Kettners zurückkommen sollte, hatte der tote Schriftsteller verloren.
Er öffnete mit einem Lächeln, das ansteckend wirkte.
»Kommen Sie herein«, sagte er mit einer weit ausholenden Handbewegung. »Entschuldigen Sie bitte meinen Aufzug, aber als Sie von der Rezeption aus haben anfragen lassen, ob ich zu sprechen bin, kam ich gerade aus der Dusche.«
An seinem Aufzug gab es wenig zu entschuldigen, fand sie. Er hatte seine noch feuchten Haare zurückgekämmt, sie kräuselten sich leicht im Nacken. In der kurzen Zeit, als sie von der Rezeption zu seinem Zimmer im ersten Stock gelaufen war, hatte er es offenbar geschafft, eine dunkelblaue Jeans anzuziehen sowie ein Karohemd, das etwas zu weit offen stand. Er konnte sich diese Freiheit durchaus erlauben, denn er war gut gebaut und ausgesprochen männlich, aber dafür, dass sie sich so gut wie nicht kannten … Zeit, sich Socken anzuziehen, hatte er ebenfalls nicht mehr gehabt.
Als sie eintrat, fragte sie sich, welcher Teufel sie geritten hatte, hierher zu kommen. Im Pundt hatte sie sich eingeredet, mit ihm über seinen geplanten Kauf des Landes sprechen zu wollen. Ihr war eingefallen, was gestern mit Ili zur Sprache gekommen war, nämlich die unverhältnismäßige Größe des Landes im Vergleich zu der eher geringen Fläche, die für einen Hotelbau benötigt wurde. Womöglich bestand die Chance, ihn dazu zu bringen, nur einen Teil von Ilis Land zu kaufen.
Jetzt, wo sie mitten in seinem Zimmer stand, war sie sich unsicher, ob sie nicht noch andere Motive hatte, ihn zu besuchen.
»Möchten Sie etwas trinken?«, fragte er.
Sie lehnte ab.
»Ach, kommen Sie, ein Glas wird nicht schaden. Frauen trinken gerne Sekt, und Sie sind eine Frau.« Er ging zu der kleinen Bar, öffnete eine gekühlte Flasche und schenkte zwei Gläser ein.
Er stieß mit ihr an. »Ich freue mich, dass Sie gekommen sind, auch wenn ich kaum damit gerechnet habe. Setzen wir uns?«
Da er sich setzte, musste sie sich ebenso setzen. Auf der eleganten, goldfarbenen Chaiselongue wirkte er irgendwie deplatziert – seine männliche Ausstrahlung schien nicht in diesen vornehmen Raum zu passen. Ray Kettner wirkte überhaupt nicht wie ein Geschäftsmann im üblichen Sinn, wie zum Beispiel Carsten: Er trug weder Anzüge noch Sakkos, weder Poloshirts noch Bundfaltenhosen, und seinem etwas eckigen, markanten Gesicht fehlte jede Geschmeidigkeit. Im Grunde sah er aus wie ein besserer Holzfäller.
Bei diesem Gedanken musste sie grinsen.
»Was ist?«, fragte er und strahlte sie an. »Stimmt etwas nicht mit mir?«
»Nein. Nein, überhaupt nicht.« Sie lächelte. »Ich habe nur gerade gedacht, dass ich mir einen Hotelier anders vorgestellt habe, irgendwie – distinguierter.«
»Ich sehe nicht distinguiert aus?«
Sie lachte. »Nein, gar nicht, und das meine ich als Kompliment.«
Er schenkte ihr Sekt nach. »Und als Kompliment verstehe ich es auch. Sie haben Menschenkenntnis, wissen Sie das? Schütteln Sie nicht den Kopf, es ist so. Denn – Sie werden es nicht glauben – im Grunde bin ich kein Hotelier, sondern Holzhändler.«
»Da lag ich ja gar nicht so schlecht, als ich …« Sie biss sich auf die Zunge.
»Als Sie mich im Stillen wofür hielten?«, erriet er ihre Gedanken. »Für einen Holzfäller, ist es das, was Sie dachten? Was soll ich sagen: Sie haben richtig gedacht. Für Intelligenz und Menschenkenntnis brauchen Sie sich nicht zu schämen. Ja, mein Vater hatte eine Sägemühle.«
Hier brach er den kurzen Ausflug in seine Kindheit ab. »Aber das ist eine langweilige Geschichte. Jetzt baue ich ein Hotel.«
»Ihr erstes?«
Er trank sein Glas in einem Zug aus. »Mein erstes«, bestätigte er.
»Dann sind Sie wahrscheinlich noch nicht sehr erfahren in diesem Geschäft. Das erklärt vielleicht, weshalb Sie den Valaisis das ganze Land abkaufen wollen, nicht nur einen Teil. Ich finde, das sollten Sie sich noch mal überlegen. Ili Valaisi liegt mir ein bisschen am Herzen. Sie sollte in ihrem Haus bleiben dürfen. Die Palauli Bay ist groß, Mr. Kettner.«
»Ray«, korrigierte er.
»Ray«, wiederholte sie. »Wenn Sie auf der anderen Seite der Bucht bauen, ist Ili sehr geholfen und Ihnen nicht geschadet. Was sagen Sie dazu?«
Er stand auf und ging barfuß zum Fenster. Vom Sofa aus beobachtete Evelyn durch sein eng anliegendes Hemd das Spiel seiner Rückenmuskeln. Er stemmte die Arme in die Hüften und wandte sich ihr wieder zu.
»Dass Sie eine verteufelt gute Rhetorikerin sind.«
»Ray …«
»Keine Schmeichelei, das meine ich ernst. Sie waren ehrlich zu mir, als Sie mir sagten, dass ich wie ein Holzfäller wirke. Jetzt will ich Ihnen ganz ehrlich sagen, wie Sie auf mich wirken.«
Er ging langsam auf sie zu und sank vor ihr in die Hocke. »Mutig«, sagte er und fixierte sie mit seinen kleinen, hellen Augen. »Wer Sie zur Freundin hat, kann sicher sein, dass Sie sich ins Zeug legen, dass Sie etwas für diese Freundschaft tun. Wie lange kennen Sie diese alte Frau? Drei, vier Tage? Und schon setzen Sie sich für sie ein. Allein in einem fremden Land gehen Sie zu einem Mann, den Sie noch weniger kennen, und sprechen mit ihm über seine Hotelpläne.«
»Sie vergessen, dass Sie es waren, der mich in die Sache hineingezogen hat. Ich versuche nur, Ili zu helfen.«
»Und mir.«
»Sie leckte mit der Zunge über die Lippen und lächelte. »Und Ihnen, ich gebe es zu.«
»Direktheit imponiert mir.«
»Ihre beiden Standpunkte – Ilis und Ihrer – sind nicht unvereinbar.«
»Gehen Sie mit mir aus?« Er erhob sich, ging langsam um sie herum und setzte sich wieder neben sie, näher als vorhin. Sie roch sein Rasierwasser, das den herben Typ, den er verkörperte, noch unterstrich.
»Ich denke über Ihren Vorschlag nach«, fuhr er fort, »wenn Sie über meinen Vorschlag nachdenken. Er lautet: Wir gehen essen, nur Sie und ich. Dort schaffen wir dann die alberne höfliche Distanz zwischen uns ab, und Sie erzählen mir von dem, was Sie bedrückt. Ihr Anfall neulich in der Lounge war kein Zufall, habe ich Recht? Sie sind eine schöne Frau, und es tut regelrecht weh zu sehen, dass Sie irgendeinen Kummer in sich hineinfressen. Ihr Mann ist entweder nicht willens oder nicht fähig, Ihnen zuzuhören. Also tue ich es.«
Ray strich ihr eine Strähne aus der Stirn. »Einverstanden?«
Evelyn hatte ihm die ganze Zeit über wie hypnotisiert zugehört. Wann hatte das letzte Mal jemand so mit ihr gesprochen? Hatte überhaupt schon einmal jemand so mit ihr gesprochen?
»Einverstanden«, antwortete sie.
»Wie wäre es mit heute Abend?«
»Mein Einverständnis bezog sich darauf, darüber nachzudenken.«
»Kommen Sie schon! Sie sind in Apia, ich bin in Apia, wozu morgen oder übermorgen den komplizierten Quatsch mit der Fähre auf uns nehmen? Ich lasse mir die ganze Sache mit dem Land noch mal durch den Kopf gehen, und Sie fürchten sich dafür nicht mehr vor einem Abendessen mit mir im Aggie Grey’s. Die machen hier ein prima Steak – traut man denen in dieser Ecke der Welt gar nicht zu.«
»Was ist mit Ane?«, wollte Evelyn wissen.
»Ane bekommt das, was sie sich von mir wünscht: Geld. Und wir bekommen das, was wir uns voneinander wünschen: einen schönen Abend.«
Sie lächelte, weil er lächelte.
»Ich glaube«, sagte er, »wir sind das Beste, was uns beiden heute passieren konnte.«
Sie rief Bianca vom Pundt aus an, und diesmal erledigte sie ihre Pflicht mit Bravour. Die Begegnung mit Ray Kettner hatte sie zwar aufgewühlt, aber auf eine angenehme Weise. Ein wenig fühlte sie sich wie ein Teenager, der vom Klassenschwarm zum Abschlussball eingeladen worden war.
»Ich habe einen Mann kennen gelernt«, war eines der ersten Dinge, die sie Bianca mitteilte.
Ihre Freundin zeigte sich allerdings wenig begeistert. Nicht nur, dass es in Deutschland mitten in der Nacht war, Evelyn teilte ihr auch noch mit, dass sie von Samoa aus anrief und dabei war, ihr ganzes Leben über Bord zu werfen. »Du hast bereits einen Mann«, erwiderte Bianca nüchtern.
»Ich sage ja lediglich …«
»Evelyn, Schatz, ich halte das für keine gute Idee. Nicht zum jetzigen Zeitpunkt, so kurz nach …«
»Gerade jetzt tut es mir gut, dass jemand mit mir redet, ich meine, jemand, der fast nichts von mir weiß. Nichts für ungut, Bianca, aber du kannst mich nur voreingenommen sehen, nach allem was passiert ist. Aber dieser Mann … Ray … Er sieht mich mit ganz anderen Augen. Er traut mir etwas zu.«
Bianca ließ sich nicht begeistern. Sie mäkelte weiter an einem Mann herum, den sie nicht kannte, am Zeitpunkt des Kennenlernens, an Evelyns – wie sie sagte – unnatürlicher Euphorie und überhaupt an der ganzen Reise nach Samoa.
»Sag mir wenigstens, wie ich dich erreichen kann. Auf deinem Handy tut sich nichts.«
»Das ist mir abhanden gekommen. Ich bin also nicht zu erreichen. Der Papaya-Palast hat kein Telefon.«
»Ein Hotel ohne Telefon?«
»Es ist kein Hotel.«
»Was ist dieser Palast denn sonst?«
»Bianca«, seufzte Evelyn, »ich rufe dich in ein paar Tagen wieder an.«
Als Ili zum Café Pundt kam, legte Evelyn gerade den Hörer auf die Gabel. Ihr Gespräch mit dem Notar hatte länger gedauert als erwartet. Die Antwort, die er ihr gegeben hatte, stand ihr offenbar ins Gesicht geschrieben, denn Evelyn begrüßte sie mit den Worten: »So schlimm?«
Es war tatsächlich schlimm gewesen. Dafür, dass sie so lange in einem stickigen Warteraum gesessen hatte, war die Antwort des Notars ziemlich kurz ausgefallen. Er hatte »Nein« gesagt. Nein, juristisch konnte sie Moana nicht aufhalten. Das Problem bestand darin, dass das Land nie wirklich geteilt worden war, nicht mit Linealen, nicht mit Zäunen oder Gräben oder Wimpeln, nicht auf dem Papier und nicht auf dem Boden. Der Besitz als Ganzes gehörte Moana und ihr gemeinsam, er hatte sie beide ernährt, und wenn eine von ihnen das Land verkaufen wollte, hatte die andere zwar eine Option auf den Kauf, also ein Vorkaufs-, aber kein Einspruchsrecht.
Ili hatte auf eine andere Information gehofft. Die samoanischen Traditionen kannten nämlich im Grunde keinen Privatbesitz, der gekauft oder veräußert werden konnte. Mehr als zweiundneunzig Prozent von ganz Samoa gehörten Familien, nicht einem Einzelnen. Die Familienoberhäupter, die matai, verwalteten den Besitz und durften nur mit Zustimmung der Familie eine Veränderung der Verhältnisse vornehmen, was natürlich bedeutete, dass es so gut wie keine Veränderungen gab. Da man vom Land lebte und sich auch heute noch von ihm ernährte, war niemand daran interessiert, etwas davon herzugeben oder es schlecht zu behandeln. Das Land selbst war wie ein Familienmitglied. Diese Tatsachen hatten Ili hoffen lassen.
Doch die Valaisis gehörten keinem Dorf- oder Familienverband an und standen außerhalb der Ordnung der matai. Für sie galt, dass jede von ihnen lediglich dazu verpflichtet war, das Land zu einem »angemessenen Preis« zu verkaufen, und das tat Moana, und den Kaufpreis zu teilen, was Moana ebenfalls tun würde. Um sie auszuzahlen, müsste Ili eine Million Dollar aufbringen – jene Summe, die Ane gestern genannt hatte. So viel hatte sie natürlich nicht. Nicht einmal fünf Prozent davon. Papayas hatte sie, nichts anderes. Eine Million Papayas und eine Million Riesenfeigen.
Der Wirt brachte Ili eine Schale Kokosmilch, ohne dazu aufgefordert worden zu sein, und Ili trank die Hälfte in einem Zug. Dann berichtete sie Evelyn von ihren erfolglosen Bemühungen.
»Auf dem Rechtsweg erreichen wir also nichts«, murmelte Evelyn. Sie beschloss, Ili noch nichts von der Verabredung mit Ray zu erzählen. Zum einen konnte es ja immer noch sein, dass er nicht auf ihren gütlichen Vorschlag einging oder andere Hindernisse auftauchten, nicht zuletzt, wie sich Moana gegenüber einer solchen Änderung der Kaufpläne verhalten würde. Zum anderen war es ihr ein wenig peinlich. Ein Essen in einem schicken Restaurant mit einem gut aussehenden Mann, den sie kaum kannte und der als Anes Freund galt. Die Verabredung war so schon heikel genug, da war es besser, sie nicht großartig anzukündigen.
Ihrer beider Aufmerksamkeit wurde durch einen jungen Samoaner in kurzer Jeans und mit nacktem Oberkörper abgelenkt, der, offensichtlich beschwipst, zur Musik aus dem Radio einen traditionellen Tanz auf der Veranda aufführte. Die Kartenspieler klatschten, und als der junge Mann auf den Hosenboden fiel, lachten sie freundlich. Der Wirt half ihm auf die Beine, klopfte ihm auf die Schulter und führte ihn wieder ins Café.
Der kleine unbedeutende Vorfall ließ Evelyn an Tupu denken. »Ich frage mich«, sagte sie, »wie es überhaupt jemals zu diesem Wirrwarr kommen konnte.«
»Zu Moanas Anteil am Land und am Papaya-Palast, meinen Sie? Damit hat sie ausnahmsweise nichts zu tun. Ihre Mutter Ivana war es, die zu Ende gebracht hat, was vor ihr schon Tupu eingefädelt hatte.«
»Ich dachte mir schon so etwas Ähnliches. Hat Tupu am Papaya-Palast mitgebaut?«
Ili schloss ihre Hand fester um die Schale. »Keinen Schlag.«
»Hat er die Plantage gepflanzt?«
»Nicht einen einzigen Handgriff hat er getan.«
»Dann verstehe ich nicht, wie er …«
»Erstaunlich, nicht wahr?« Ili trank einen Schluck. »Ja, man kann über Tupu sagen, was man will, aber er war nicht ungeschickt darin, mit Menschen zu spielen. Er erkannte ihre Schwächen und nutzte sie für sich. Tristans Schwäche war seine ungebrochene Liebe zu Tuila, und Tuilas Schwäche war ihre Liebe zu beiden, zu Tristan wie auch zu ihrem Bruder. Im Grunde spielte Tupu sie gegeneinander aus. Zunächst brachte er Tristan und Tuila auseinander – da waren wir heute Morgen stehen geblieben, richtig?«
Ili atmete tief durch und fuhr fort: »Damit fing das raffinierte, gemeine Spiel Tupus an. Tuila gehorchte seinem Befehl und verließ Tristan. Was hätte sie sonst tun können? In Samoa ist der matai wie ein Gesetz, ihm zu widersprechen käme einem Verbrechen gleich. In etwas abgemilderter Form ist das – zum Leidwesen vieler junger Samoaner – noch immer so, aber damals war das Wort des matai ein Dogma. Ein paarmal noch kam Tristan in den darauf folgenden Tagen überraschend nach Palauli, in der Hoffnung, Tuila dort anzutreffen. Vergeblich. Tupu hatte seine Schwester vorübergehend in ein anderes Dorf geschickt, zu Freunden, die wie er selbst heimlich den Mau angehörten. Tristan lieferte sich noch zwei, drei Szenen mit Tupu, doch das änderte nichts. Er vermutete bloßen Trotz und das übertriebene Ego eines neuen Familienoberhauptes hinter Tupus Verhalten, aber er hatte noch immer nicht erkannt, zu was für einem Menschen Tupu geworden war.«
»Ich gebe zu, ich hatte auch nur Trotz und Großmannssucht bei Tupu vermutet«, gestand Evelyn.
»Ich sagte ja, er war raffiniert, nicht mutig und nicht klug, aber auf eine gewisse Weise durchtrieben. Tristan, so überlegte sich Tupu, konnte sehr nützlich für ihn und für die gesamte Widerstandsbewegung sein, aber natürlich nur, wenn er eng genug an die Familie Valaisi gebunden wäre. Als Tuilas Ehemann würde Tristan seine eigene Familie und damit auch sich und Tuila ins Verderben stürzen müssen, wenn er Tupu verriete. Es wäre also wie ein Freibrief für die Mau gewesen, wenn der kommandierende deutsche Offizier auf Savaii sie, wenn nicht unterstützte, so doch stillschweigend deckte. Wenn er wegsah. Darauf spekulierte Tupu. Er hoffte insgeheim, dass Tristans Liebe so stark sein würde, dass er alle Gesetze vergaß, Tuila heimlich heiratete, und sich damit für alle Zeit an Tupu band, ja, sich ihm auslieferte. Doch zunächst lief es nicht nach Tupus Wünschen, denn es kam eine Figur ins Spiel, mit der er nicht gerechnet hatte und die seinen schönen Plan über den Haufen zu werfen drohte.«
Samoa, April bis Juni 1914
Die meiste Zeit des Jahres lag Apia in tiefem Schlummer. Für die Samoaner gab es dort kaum etwas zu tun, außer gelegentlich ein Schiff be- oder entladen, und auch die deutschen Siedler hatten nur selten Geschäfte in der kleinen Kolonialhauptstadt zu erledigen. Zwei Tabakläden, ein Schneider, ein paar Handwerker wie Schuhmacher und Werkzeugmacher sowie eine Hand voll Spezialgeschäfte für Waren aus der Heimat, das war die ganze Einkaufswelt Apias. Hinter einigen der prächtigen Kolonialfassaden verbargen sich die Kontore der Überseekaufleute, in denen der Export von Kopra und Kakao ins Deutsche Reich und nach Australien organisiert wurde, doch es war eine gemütliche, stille Arbeit, so dass sie kaum bemerkt wurde. Und dann gab es da noch das kleine Zeitungsbüro, das wöchentlich die »Samoanische Zeitung« herausbrachte, ein deutsches Blättchen mit allen Neuigkeiten aus Samoa. Für die Siedler war es oft für Monate die einzige Möglichkeit, etwas von dem Geschehen in der Kolonie zu erfahren, denn die meisten lebten nicht im Umkreis Apias, sondern in abgelegenen Regionen, wo der nächste deutsche Nachbar fünf oder zehn Kilometer entfernt wohnte. Man besuchte sich selten, denn die Arbeit war hart, das Klima machte den Menschen zu schaffen, und die Jahre in der Einsamkeit hatten sie eigensinnig gemacht.
Viermal im Jahr jedoch ließen auch die Siedler alles stehen und liegen und machten sich auf den Weg nach Apia, immer dann, wenn der Dampfer der Kaiserlich-Deutschen Postagentur eintraf. Mit seinem unverwechselbar schrillen Signalhorn kündigte die »Förde« ihr Eintreffen an, und die Nachricht verbreitete sich in Windeseile über die Kolonie. Binnen Stunden füllten sich der Hafen und die ganze Stadt mit Menschen. Die Kontoristen verließen ihre Büros, um wichtige Pakete oder Unterlagen abzuholen, auf die sie schon lange gewartet hatten, die Händler und Handwerker nahmen Lieferungen in Empfang, die Siedler erhofften sich Briefe ihrer Freunde und Verwandten aus der Heimat, die Fita-Fita und Oberst Rassnitz traten an, um die Einhaltung der strengen Quarantänevorschriften zu überwachen, der Gouverneur kam, um den Kapitän zu begrüßen, und die Damen kamen, um – nun, um sich einfach zu zeigen.
Tristan hatte das Polizeiboot klarmachen lassen, sobald er die »Förde« am Horizont entdeckt hatte. Von seiner Polizeistation in Salelologa aus hatte er die weithin sichtbare Rauchsäule des Schornsteins bemerkt, und obwohl es mehrere Kilometer Distanz waren, war das ferne Tuten des Signalhorns über die glatte See bis zu ihm gedrungen.
Als er mit dem Boot in den Hafen von Apia einfuhr, lag die »Förde« schon vor Anker, umrahmt von einem Dutzend bunt geschmückter paopao, den Kanus der Einheimischen, die wie Blüten auf dem Wasser trieben. Die Ankunft des Postdampfers war jedesmal ein Ereignis, aber erst die Samoaner machten es zum Fest. Sie winkten, lachten, trommelten und sangen. Von allen Seiten schossen Boote heran, gerudert von prächtigen braunen Gestalten, die sich ein freundschaftliches Wettrennen lieferten. Ein feines Lächeln glitt über Tristans Gesicht, als er mitten durch diese allgemeine Freude fuhr. Für Augenblicke steckte sie ihn an, ihn, der seit Wochen keine Freude mehr kannte. Er hatte sich in den letzten Wochen in seiner Polizeistation eingeigelt, war nur noch zu dringenden dienstlichen Terminen ausgeritten und hatte für die wöchentlichen Besprechungen mit Oberst Rassnitz Ausreden gefunden. Wegen des Pflichteifers, der ihm im Blut steckte, arbeitete er zwar, war dabei jedoch derart unkonzentriert, dass er kaum noch die Hälfte seines üblichen Pensums schaffte. Äußerlich war ihm nicht anzumerken, dass er litt. Seine Uniform war tadellos gepflegt, er rasierte sich, erschien bei Sonnenaufgang in der Amtsstube und verließ sie erst lange nach Einbruch der Nacht. Aber die meiste Zeit saß er nur an seinem Schreibtisch, über irgendein Schriftstück gebeugt, und las es zum siebten oder achten Mal, ohne den Inhalt zu erfassen. Er versuchte, sich zusammenzureißen, doch es gelang ihm nur für Minuten – im Grunde unterschied er sich kaum noch von den Hunden, die im Schatten der fale vor sich hindämmerten.
Er hatte alles versucht, um Tuila wiederzusehen, doch er musste erkennen, dass nicht Tupu allein es war, der das verhinderte, sondern auch sie selbst. Sie hatte sich verabschiedet, wie es schöner nicht möglich gewesen wäre, in der Nacht an der Palauli Bay, und nun wollte sie ihn nicht mehr sehen. So versuchte er, nicht länger an Tuila zu denken. Er lenkte sich ab, las vor dem Einschlafen die Novellen von Thomas Mann und die Gedichte von Christian Morgenstern, die ihm seine Mutter geschickt hatte, schrieb an einem neuen, viel längeren Brief an sie, dachte an Arnsberg, an die Apfelblüten, die jetzt wohl gerade das Gut überzogen, an die Ruhr, die sich träge in der Frühsonne glitzernd durch die Hügellandschaft wand, an die Krokusse, die unter den Fenstersimsen des Schlosses wuchsen – es half nichts. So gern er sich diese Erinnerungen vor Augen führte, so wenig trieb es ihn an ihre Stätten zurück. Sie gehörten scheinbar in ein anderes Leben, eines, das nur noch wenig mit ihm zu tun hatte und das ihm mit jedem Tag ein Stück mehr abhanden kam wie Sand, der durch die Finger rieselt. Andererseits wurden ihm die Erinnerungen an Tuila beinahe unerträglich. Obwohl er nur wenige Monate mit ihr zusammen gewesen war, überlagerten die Gedanken an sie bei weitem die Gedanken an seine Heimat, und dass seine Geliebte nur wenige Minuten zu Pferd von ihm entfernt lebte und trotzdem unerreichbar war, quälte ihn jede einzelne Stunde. Kurz dachte er daran, um eine Versetzung zu ersuchen, nach Neuguinea vielleicht oder nach Deutsch-Ostafrika, aber etwas hielt ihn hier fest. Es war nicht nur Tuila und die Hoffnung, doch noch alles zum Guten wenden zu können, es war auch dieses Land, das ihn nicht mehr losließ, seine Leichtigkeit und Wärme, die Farbe des Meeres und der Blick nach oben, wo Tag und Nacht die gleichen zerrissenen Wolken über den Himmel zogen. Er fühlte, dass Samoa – vor allem Savaii – sein wahres Zuhause war und dass Arnsberg nicht mehr Heimat und Sehnsucht war, wie sich das nach Ansicht der hiesigen Kolonisten für einen Deutschen in der Fremde gehörte, sondern nur noch der Name, den er trug.
So wie er empfand, wäre es nur konsequent gewesen, die Kaiserliche Armee zu verlassen und auf Samoa sesshaft zu werden. Geld genug dazu besaß er, auch ohne das gräfliche Kapital, denn sein Großvater hatte ihm bei seinem Tod ein ordentliches Vermögen hinterlassen. Nichts wäre also einfacher gewesen, als eine Plantage zu kaufen oder aufzubauen. Allein der Gedanke an seine Eltern hinderte ihn daran. Den einen Sohn hatten sie bereits verloren, sollten sie nun auch noch ihren letzten verlieren? Sie waren so stolz auf ihn, seine Mutter schrieb es immer wieder, und sie fügte stets hinzu, er allein sei es, der ihrer beider Leben erfüllte, auch wenn er am Ende der Welt sei. Der Graf war krank, die Mutter zerbrechlich und einsam. Ihnen zu schreiben, dass er die Armee verließe, um Kakao auf Samoa zu pflanzen, und dass er niemals wieder zurückkehren würde, hieße, ihnen einen Schlag ins Gesicht zu versetzen. Das konnte er nicht. Er brachte es einfach nicht fertig.
So war also der Brief, den er in den letzten Tagen an seine Mutter geschrieben und der ihn veranlasst hatte, nach Apia zum Postdampfer zu fahren, frei von irgendwelchen Aufregungen. Alles Schwärmerische und Emotionale fehlte. Tristan hatte weder die Landschaft beschrieben noch die Samoaner, und selbstverständlich fehlte auch jedes Wort über Tuila. Wozu sollte er sie jetzt noch erwähnen? Sie war Vergangenheit. Sie hielt ihn im Griff, ja, doch was würde es seiner Mutter nützen, das zu erfahren und auch, wie es tatsächlich in ihm aussah? Daher hatte er bis ins Detail seine Arbeit beschrieben – das würde vor allem seinen Vater interessieren – und die Polizeistation, so dass sie sich ein Bild von seinen täglichen Pflichten und seinem Quartier machen konnten. Ferner hatte er von seinem Pferd geschrieben, von dem Polizeiboot, dem Empfang in der Residenz am Geburtstag des Kaisers, dem Salut des Schlachtschiffes »Scharnhorst«, dem Orkan und dem Wetter allgemein, doch seine Beschreibungen beschränkten sich auf das Notwendige, sie waren so nüchtern wie eine Statistik. Alles, was dieses Land reich machte, die Farben und Düfte, die Stimmungen und Stimmen, ließ er weg, aus Angst, seine Mutter könnte erahnen, wie sehr er sich verliebt hatte. Ein bisschen waren sie sich ähnlich – nicht umsonst las sie die gleichen Bücher wie er, und so konnte es passieren, dass sie über Tausende von Meilen hinweg zwischen den Zeilen erspürte, wie es wirklich um ihn stand. Daher lenkte er sie ab: Er erwähnte den Gouverneur und dessen Gattin sowie Oberst Rassnitz und vier, fünf Beamte oder Kaufleute, bei denen die Aussicht bestand, dass seine Eltern einen aus ihrer Familie kannten. Er konnte sich gut vorstellen, wie seine Mutter bei Erwähnung des Namens »Berthold von Bock« zum Almanach des Adels griff und bei einer Tasse zuckrigen Kaffees eifrig darin blätterte und las, bis sie auf jemanden stieß, den sie tatsächlich kannte: »Von Bock, von Bock … Haben wir nicht vor drei Jahren bei der Kur in Bad Homburg eine Hedwig von Bock getroffen? Ja, ich glaube. Hier steht, sie muss die Cousine des besagten Berthold von Bock sein. Aha! Unser Sohn hat also mit dem Vetter dieser Hedwig zu tun. Interessant!«
Bei dieser Vorstellung musste er schmunzeln. Seine Mutter war so leicht glücklich zu machen – doch ebenso leicht unglücklich. Indem er ihr Namen über Namen nannte, mit denen sie sich tagelang beschäftigen konnte, zerstreute er ihre Gedanken in so viele Richtungen, dass sie sich keine übertriebenen Sorgen um ihn machen würde.
In zwei Monaten, überlegte Tristan, wäre der Brief in Arnsberg. Die »Förde« würde ihn nach Neu-Berlin in Neuguinea – beziehungsweise Kaiser-Wilhelm-Land – bringen, von dort nach Deutsch-Ostafrika und weiter durch den Suez-Kanal und das Mittelmeer bis Bremerhaven.
Er gab soeben dem Bootsführer den Befehl, langsam an den Pier zu manövrieren, als er plötzlich Tuila sah. Sie bewegte sich durch die Menschenmenge am Hafen, nur für eine Sekunde konnte er ihr Gesicht erkennen, dann verschwand es wieder zwischen den anderen.
»Schneller«, befahl er dem Bootsführer und versuchte, sich die Stelle zu merken, wo er Tuila gesehen hatte. »Schneller! Noch schneller!«
Endlich wagte Tristan vom Bug des Bootes einen großen Sprung auf den Pier und wäre beinahe ins Wasser gefallen. Dann rannte er los.
Er drängte sich durch die Menschenmenge. Überall standen Matrosen und Beamte, die das Ausladen organisierten, Siedler und Kontoristen, die Briefe abholten, samoanische Hilfskräfte, die Pakete auf bereitgestellte Rollwagen luden, Polizisten, die die Menge überwachten, und Unmengen von Neugierigen, die einfach nur den seltenen Trubel genossen. Es war beinahe kein Durchkommen.
»Tuila!«, rief Tristan über die Köpfe der Leute hinweg, in der Hoffnung, eine Antwort zu bekommen. »Tuila!«
Vereinzelt schubste er sanft Männer beiseite, die ihm im Weg standen. Irgendwo sah er inmitten des Gewirrs von Leibern die Uniform von Oberst Rassnitz, aber er kümmerte sich ebenso wenig um ihn wie um die Polizisten, die salutierten.
Er schob sich weiter voran. Frau Hufnagel begegnete ihm und rief: »Oh, Herr Leutnant, wie schön, Sie hier zu sehen. Ob Sie wohl so freundlich sein könnten, mir …«
Er grüßte nur kurz, dann ignorierte er sie und ließ sie verblüfft hinter sich.
Endlich hatte er sich aus dem dichtesten Gewühl befreit.
Und dann sah er sie, Tuila. Sie stand ein Stück entfernt und mit dem Rücken zu ihm, aber er erkannte sie an ihrem langen Haar, das fast den ganzen Rücken bedeckte, und an dem leuchtenden roten Tuch um ihre Hüften. Dann erkannte er auch Ivana, die mit Moana auf dem Arm neben Tuila stand und sich mit ihr unterhielt.
»Tuila!«, rief er, doch sie schien ihn nicht zu hören.
Dafür hatte Ivana ihn bemerkt, und sie brachte Tuila unter irgendeinem Vorwand dazu, schneller zu gehen. Noch immer hatte Tuila ihn nicht bemerkt.
Tristan rannte. An seinem Hüftgurt rasselte der Degen, und mehrmals übersprang er Kisten, die ihm im Weg standen.
Tuila verschwand mit Ivana hinter einer Ecke, aber er wusste, dass er sie gleich eingeholt haben würde.
Doch mit einem Mal – Tristan hatte ihn nicht bemerkt – stand der Gouverneur vor ihm.
»Halt, mein guter Arnsberg, halt«, sagte er. »Wohin so eilig?«
Tristan schluckte und trat unruhig auf der Stelle. Einerseits wollte er Tuila einholen, andererseits die Form wahren und dem Gouverneur höflich entgegentreten. Beides gleichzeitig war nicht möglich. Er blickte zu der Ecke, wo Tuila verschwunden war. Er sah sie nicht mehr.
Hinter der Nickelbrille fixierten ihn die kleinen Augen des Gouverneurs. »Sie wirken nervös, Arnsberg. Geht es Ihnen nicht gut?«
»Doch, Exzellenz. Ich müsste nur …«
»Ihre Aufregung ist im Grunde verständlich«, unterbrach ihn der Gouverneur und lächelte vieldeutig.
»Verzeihung, Exzellenz. Da war ein Dieb, und ich …«
»Ein Dieb? Ich habe nur zwei Frauen gesehen. Lassen Sie sie laufen, ich will keinen Ärger am Hafen. Große Menschenmengen fördern aggressives Verhalten, ein Wort gibt das andere, ein Verdacht löst einen Gegenverdacht aus, und ehe man sich versieht, holen die Samoaner ihre Messer und die Siedler ihre Gewehre hervor. Und das alles wegen zwei Frauen, die vielleicht nur eine Packung Seife gestohlen haben. Oder Rasiercreme.«
Er lachte, berührte Tristan an der Schulter und drehte ihn sacht in die andere Richtung. »Ich muss zum Anlegesteg dort vorn, um den Kapitän der ›Förde‹ zu begrüßen. Begleiten Sie mich ein Stück.«
Tristan blickte noch einmal zu der Ecke zurück, während er neben dem Gouverneur herlief.
»Wissen Sie, Arnsberg, ich freue mich, dass Sie sich offenbar endlich gefestigt haben. Sie verstehen, was ich meine?«
»N-nein.« Tristan verstand tatsächlich nicht, aber das konnte auch daran liegen, dass er in Gedanken ganz woanders war.
»Nun, ich will damit sagen, dass Sie meine Worte von damals – Sie erinnern sich an den Kaisergeburtstag? – ernsthaft bedacht und, wie mir zur Kenntnis gekommen ist, vernünftige Schlussfolgerungen daraus gezogen haben. Zumindest, was Ihre Beziehungen zum anderen Geschlecht angeht. Ein wenig ungesellig sind Sie wohl noch immer, wie? Doch das wird sich geben, von nun an.«
Tristan konnte dem Gouverneur noch immer nur mühsam folgen. »So?«
»Gewiss! Sie werden ganz zwangsläufig mehr gesellschaftlichen Umgang pf legen.«
»Ich weiß noch immer nicht …«
»Ah, dort vorn kommt meine Gattin!«, rief der Gouverneur und deutete mit seinem Spazierstock auf eine weiße, rauschende Woge von Damenröcken und Sonnenschirmen, die sich rasch näherte. »Und Fräulein Hanssen auch, wenn ich richtig sehe. Bitte entschuldigen Sie mich jetzt, Leutnant von Arnsberg, ich überlasse Sie den weiblichen Händen und widme mich meinen Pflichten.«
Er wollte gehen, wandte sich aber noch einmal um. »Ach ja, nun hätte ich in dem ganzen Durcheinander beinahe vergessen, Ihnen zu gratulieren. Kommen Sie doch morgen Abend in der Residenz vorbei, ich öffne eine Flasche besten Rheingau, und wir stoßen an.«
Vollends verwirrt, sah Tristan sich noch einmal um, in der Hoffnung, Tuila zu entdecken – vergebens. Bevor er dreimal geatmet hatte, war der Pulk von Damen, mit Frau Schultz an der Spitze, bei ihm angekommen.
Sie wedelte mit einem Papier in der Hand. »Sehen Sie nur, Herr Leutnant, hier ist es!«, rief sie außer sich vor Freude. »Sie hat geschrieben.«
Tristan runzelte die Stirn. »Wer?« »Nun, Ihre Mutter selbstverständlich, die Gräfin Arnsberg.«
»Meine …?« Er verstand überhaupt nichts mehr. »Sie kennen meine Mutter?«
»Oh, nein, nein. Ich hatte noch nicht die Ehre. Aber ich habe ihr kurz nach unserem verunglückten Picknick geschrieben. Natürlich hätte ein Brief viel zu lange gedauert, und einen Telegraphen haben wir ja leider noch nicht auf Samoa. Also verfasste ich ein paar Zeilen, die ich dem Kapitän eines Handelsschiffes mitgab, mit der Bitte, von Kaiser-Wilhelm-Land aus ein Telegramm nach Arnsberg zu schicken. Ihre Mutter schrieb kurz darauf ein Telegramm nach Kaiser-Wilhelm-Land zurück, und der Kapitän der ›Förde‹ hat es nun überbracht. Ja, ja, die alte Schrapnelle Schultz ist nicht von gestern, das kann man nicht behaupten, oder?«
Die Damen lachten, nur Tristan nicht. Ein übler Verdacht stieg in ihm auf.
»Was«, presste er leise zwischen den Zähnen hervor, »haben Sie meiner Mutter geschrieben?«
»Nun«, antwortete sie, »was wohl? Das mit Ihnen und Fräulein Hanssen natürlich.«
Ärgerlich wandte er sich an Clara Hanssen. »Hatte ich Sie nicht gebeten, diese Angelegenheit zu klären, ein für alle Mal?«
Sie blickte ihn mit ihren rehbraunen Kulleraugen an, und ein feines, fast unmerkliches Lächeln lag auf ihren Lippen. »Sie haben mich gebeten, mit der Frau Gouverneur zu sprechen, und genau das habe ich getan. Das habe ich wirklich, nicht wahr, Frau Gouverneur?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Sicher haben Sie das, mein Kind.«
»Da hören Sie es, Herr Leutnant«, sagte Clara. »Ich habe der Frau Gouverneur mitgeteilt, dass Sie wünschen, die Angelegenheit diskret zu behandeln. Das haben Sie wortwörtlich zu mir gesagt: Diskret behandeln.«
»Oh, und ich habe von da an alles äußerst diskret behandelt«, ergänzte die Gouverneursgattin. »Weder mein Mann noch irgendwer sonst hat erfahren, wie ich mich als Mittlerin zwischen Ihnen beiden engagiert habe, nein, keiner hat von mir auch nur ein Wort über die geplante Verlobung gehört – außer der Graf und die Gräfin Arnsberg und Herr Hanssen freilich. Niemand kann sich also über mich beschweren. Niemand. Und Sie glauben ja gar nicht, Herr Leutnant, wie erfreut Ihre Frau Mutter war, von mir zu hören. Sie antwortete zwar nur mit ein paar Zeilen, doch wie deutlich hört man das Mutterherz in diesen wenigen Worten überquellen, wie intensiv und von Freude erfüllt.«
Sie redete und redete, während Tristan schweigsam und mit einem Kloß im Hals das Telegramm an sich nahm und las:
Verehrte Frau Gouverneur Schultz – stop – Bin von Ihrer Nachricht tief bewegt – stop – Der Graf und ich freuen sich, Frl. Clara Hanssen als unsere Schwiegertochter auf Arnsberg willkommen zu heißen – stop – Besten Dank für Ihre Bemühungen – stop – Hochachtungsvoll Charlotte Gräfin Arnsberg – stop.
Ein zweites, nur für ihn bestimmtes Telegramm, hing an dem anderen:
Lieber Tristan – stop – Dein Vater und ich sind von Stolz und Glück erfüllt – stop – Von den Hanssens hört man nur Gutes – stop – Wir sind sicher, dass Du eine gute Wahl für Dein Leben getroffen hast – stop – Ausführlicher Brief an Dich und an Herrn Hanssen folgt – stop – Liebevoll Mama und Papa – stop.
Frau Schultz redete noch immer. Und Claras feines Lächeln wurde intensiver, während sie ihn unverwandt anblickte. Jede Scheu oder Verlegenheit war aus ihrem Gesicht verschwunden, sie wirkte plötzlich völlig anders auf ihn, schlau und listig. Und da verstand er, dass diese Damenclique einschließlich Clara die ganze Zeit ein feines Netz um ihn gesponnen hatte, in dem er sich nun verfing. Dumm war er gewesen und blind, brav hatte er mitgebaut an der Falle, die für ihn selbst gedacht war: Er hatte Clara für alle sichtbar am Arm spazieren geführt, hatte während des Picknicks vor sechs Zeuginnen abseits mit ihr allein gesessen, und alles Übrige hatte Frau Schultz besorgt, ein Wort hier, ein paar Andeutungen dort, so dass die ganze Kolonie seit Monaten glaubte, zwischen Clara und ihm bahne sich eine Beziehung an. So erschien es allen ganz natürlich, dass sie sich verlobten. Clara Hanssen hatte ihn auf dem Picknick gewiss nicht missverstanden, und Gertrude Schultz handelte auch nicht im besten Glauben. Sie waren Verbündete bei dieser Jagd, der Jagd auf ihn, den künftigen Grafen Arnsberg, den Aristokraten von altem Blut, und nun, nachdem sie Tristans Eltern von einer Verlobung informiert hatten, die nie stattgefunden hatte, hatten sie beste Aussichten, ihr Opfer zu fangen.
Ja, Tristan war wütend. Man hatte ihn getäuscht und hintergangen, man hatte gelogen und betrogen, ein falsches Spiel gespielt und ihn zum Narren gemacht. Doch gleichzeitig fühlte er, wie seine Empörung dagegen schwächer wurde. Wie sollte er aus dieser Situation wieder unbeschadet herauskommen? Wer würde ihm glauben, wenn er Clara Hanssen und die Gouverneursgattin als Lügnerinnen und Intrigantinnen hinstellte? Alle würden in ihm einen ehrlosen Feigling sehen, der sein Wort nicht hielt, und Clara würde öffentlich Sturzbäche von Tränen vergießen und alle Kolonisten gegen ihn aufbringen. Man würde ihn versetzen, zweifellos, und obgleich eine gelöste Verlobung nicht in die Führungsakte eingetragen wurde, so würde der Tratsch darüber zäh und bitter wie Galle durch die deutschen Offiziersclubs in Europa, Afrika und Asien ziehen. Jeder seiner künftigen Vorgesetzten wüsste, was Tristan auf Samoa »verbrochen« hatte. Und seine Eltern? Welche Verachtung würde sein Vater ihm gegenüber zeigen, und wie viel Kummer müsste dann seine Mutter erleiden?
Vielleicht wäre er unter anderen Umständen bereit gewesen, das alles zu ertragen. Doch wofür? Tuila war verloren, sie kam nicht mehr zurück. Er würde nie wieder ihre Haut riechen, ihren Körper unter sich spüren, nie wieder in der Nacht Seite an Seite mit ihr durch den schwarzen Pazifik schwimmen. Die Erinnerung an sie war zwar noch lebendig wie ein Spiegel, in dem er all die Momente mit ihr deutlich vor sich sah, in einem Jahr jedoch würden diese Bilder erste Risse bekommen, in fünf Jahren würde der Spiegel in große Stücke zerbrechen und dann mit jedem Jahr in immer kleinere, in tausend Splitter, die kein Bild mehr ergaben, sondern nur noch entfernt ahnen ließen, dass die wenigen Wochen mit Tuila die glücklichste, die beste Zeit seines Lebens gewesen war.
So, wie er einmal Claras Zukunft vor sich gesehen hatte, sah er nun seine eigene: Er würde mit Clara an seiner Seite die nächsten Jahre auf Samoa bleiben, in Apia wahrscheinlich, wohlwollend und zugleich aufmerksam bewacht von der deutschen Gesellschaft. Abend für Abend würde er mit ihr dem Klub in Apia einen kurzen Besuch abstatten, zu den Späßen der Kolonisten blöde grinsen und dann zum Umziehen nach Hause fahren, hinter eine der Kolonialfassaden an der Hafenpromenade oder in eine schneeweiße Villa im Regierungsviertel Mulinu’u, umrahmt von grünem Rasen und putzigen kleinen Gruppen von Stiefmütterchen. Er würde immer wieder nur die Hanssens, die Janssens, die Hufnagels und die Tiedemanns sehen, sie einladen und von ihnen eingeladen werden, über die zunehmenden Spannungen zwischen dem Deutschen Reich und Großbritannien debattieren, die arroganten nationalistischen Allüren des alten Hanssen ertragen, Clara ertragen, die nichts zu sagen und nichts zu geben hatte. Man würde ihn irgendwann zum Hauptmann befördern, doch gleich darauf würde der alte Hanssen, der keinen Sohn hatte, dafür sorgen, dass Tristan aus der Armee ausschied und die Geschäfte des Handelshauses übernahm, und wenn Tristan dann eines Tages Grafentitel und Güter von Arnsberg geerbt hätte, würden die Vermögen vereint.
Ja, diese Zukunft stand ihm lebhaft vor Augen. Sie ließ ihn schaudern, doch er wusste beim besten Willen nicht, wie er sie aufhalten sollte – und ob er sie überhaupt aufhalten sollte.
Als der Schweinebraten mit Klößen in der Residenz des Gouverneurs serviert wurde, war aus dem Nebenraum der achtmalige Schrei des Kuckucks aus der Uhr zu hören. Schweinebraten war – neben Fisch mit Kartoffeln – das einzige deutsche Gericht, das mühelos zu beschaffen war. Die verwilderten samoanischen Hausschweine lieferten das Fleisch, Yamsknollen bildeten den Ersatz für den auf Samoa unbekannten und schwer erhältlichen Erdapfel, und Palusamiblätter gingen als Spinat gerade noch so durch. Polypen, Muscheln und Schildkröten, von den Samoanern als Delikatessen gefeiert, wurden hingegen verachtet. Für deutsches Gemüse war der Transportweg einfach zu lang, daher blieben Salzheringe, Speck, Lachskonserven, Zwieback und Sauerkraut die einzigen Lebensmittel, die man aus der Heimat importierte. Das allgemeine Klagen über »undeutsche« Ernährung war ein sehr beliebtes und endlos wiederholtes Gesprächsthema der Kolonisten.
Umso deutscher waren dafür die Dinge, mit denen man sich umgab. Die Tiedemanns hatten sich ihre Tische und Schränke eigens aus Holsteiner Eiche fertigen lassen, die Ribbachs legten bei der Gestaltung ihrer Wege Wert auf Westerwälder Basalt, und die Kruses weigerten sich, etwas anderes in ihren Garten zu pflanzen als Stiefmütterchen, Margeriten und Rosen, obwohl die im feuchtwarmen Klima Samoas schlecht gediehen. Die Grammophone spielten Märsche, Donauwalzer oder Ausschnitte aus Wagner-Opern, der in Öl gemalte Kaiser hing in jedem Herrenzimmer und die Kaiserin in jedem Damenzimmer, die Kleider und Hüte mussten in Berlin hergestellt worden sein, der Obstbrand in Bayern, der Wein an Rhein, Neckar und Mosel, die Federbetten in Pilsen, das Porzellan in Preußen und die Kristallgläser in Jena oder Mainz. Alles musste heimatlich sein, während die Gesellschaft in der Heimat längst britisches Gebäck, französischen Sekt und Opern von Verdi genoss – und Kuckucksuhren verachtete.
Dr. Schultz erhob beim letzten Schrei des mechanischen Vogels das Glas: »Auf den Kaiser und auf meine bevorzugten Gäste, Fräulein Hanssen und Leutnant von Arnsberg, die ihre Zukunft gemeinsam gestalten wollen.«
Die Gäste tranken auf das Wohl der Majestät und des künftigen Paares, und das Tischgespräch nahm seinen Anfang.
Außer Oberst Rassnitz, dem alten Hanssen und zwei Konsulatssekretären samt Gattinnen, waren an diesem Abend auch zwei neue Gesichter in der Runde. Der Kapitän der »Förde« war nicht weiter von Bedeutung, er langweilte die Gouverneursgattin am anderen Ende der Tafel mit technischen Details über seinen Dampfer. Mit dem Postschiff war aber auch ein katholischer Geistlicher nach Samoa gekommen, den man neben Tristan gesetzt hatte, ein Missionar, wie sich herausstellte.
Tristan mochte keine Missionare. In seinen Augen nahmen sie den Samoanern eine jahrtausendealte Religion und Lebensart, die sie zu dem gemacht hatte, was sie waren: heitere, unkomplizierte Menschen, die es mit drei, vier Grundregeln schafften zusammenzuleben. Die meisten Missionare dagegen waren humorlos und scheinheilig, und wenn sie sich auch oftmals nützlich machten, indem sie beispielsweise mit ihren medizinischen Kenntnissen die Kindersterblichkeit ein wenig verringerten, lehrten sie dennoch die falschen Dinge mit den falschen Mitteln. Sie kamen auf Samoa an, im Gepäck haufenweise Begriffe wie Sünde, Todsünde, Rachegericht und Fegefeuer, eröffneten kleine Schulen und verängstigten dort schon die Kleinsten, während sie die längst zum Christentum bekehrten Eltern dahingehend bearbeiteten, dass diese von den Anglikanern zu den Lutheranern wechselten, von den Katholiken zu den Kongregationalisten oder von den Methodisten zu den Adventisten, je nachdem, welche Konfession sie selbst vertraten. Tristan, selbst Katholik, war davon abgestoßen, und er brachte den Missionaren niemals mehr entgegen als verhaltene Höflichkeit.
Anfangs beachtete Tristan den Geistlichen kaum, doch eingezwängt zwischen Clara ihm gegenüber und dem Gouverneur am Kopf der Tafel, die sich über das Wetter ausließen, hoffte er, mit dem Missionar ein halbwegs interessantes Gespräch führen zu können.
»Woher stammen Sie, wenn ich fragen darf, Hochwürden?« , begann Tristan.
Pater Löblich antwortete für einen Missionar ungewohnt schwärmerisch. In seine alten Augen stieg ein seltsamer Glanz, und sein längliches, etwas knochiges Gesicht nahm einen beinahe seligen Zug an, als er sagte: »Aus Hessen, genauer gesagt aus dem Taunus. Ich habe dort – mit Ausnahme der Zeit im Priesterseminar – mein ganzes Leben verbracht. Wälder über und über, Apfelgärten, hohe Wiesen, ein paar Burgruinen … Und die Heilquellen nicht zu vergessen. Waren Sie je dort?«
Tristan verneinte. »Meine Eltern waren einige Male in Bad Homburg zur Kur.«
»Das liegt nicht weit von dem Ort, wo ich meine Pfarrei hatte«, erklärte Pater Löblich. »Wenn ich nach Einbruch der Dunkelheit noch eine Runde spazieren ging, dann achtete ich immer auf den Wind, der in den Bäumen rauschte. Oh, ich liebe das, nirgendwo rauschen die Bäume wie dort – zumindest will ich das glauben. Die Luft ist etwas kühler als anderswo, und immer streicht eine leichte Brise den Südhang hinauf. Herrlich! Während der Schiffspassage habe ich mich oft zurückgesehnt.«
Warum bist du nicht dort geblieben, das wäre für alle besser, dachte Tristan, und als hätte Priester Löblich seine Gedanken lesen können, sagte er: »Aber ich musste fort, es ging nicht anders. Zweiundsechzig Jahre habe ich im Taunus gelebt, davon fünfunddreißig als Pfarrer, jetzt wurde es Zeit, dass ich anderswo etwas für die Menschen tue, und wo kann man das besser als in der Missionsarbeit. Ich wollte nach Afrika, aber der Bischof meinte, das Klima würde mich umbringen, so hat es mich in die Südsee verschlagen. Vor der Abreise hat man mich noch schnell zum Ordinarius befördert, aber wohl nur, weil man davon ausgeht, dass ich nicht mehr zurückkomme. Wahrscheinlich stimmt das sogar. Nun, wo ich hier bin, weiß ich, dass ich richtig gehandelt habe. Ich fühle es. Hier ist mein Platz. Kennen Sie das Gefühl, Herr Leutnant? Das Gefühl, genau dort zu sein, wo man immer schon hinwollte, auch wenn man noch nichts davon wusste?«
Tristan legte sein Besteck ab und senkte den Blick. »Ja«, erwiderte er leise, »das Gefühl kenne ich.«
»Nicht wahr, es gibt nichts Schöneres? Ich bin erst gestern angekommen, habe lediglich den Gouverneur und einige der übrigen Repräsentanten kennen gelernt, also weiß ich noch gar nichts über diese Inseln und ihre Menschen. Doch ein paar Worte, die ich mit einem samoanischen Jungen gewechselt habe, der die Samoanische Zeitung zu den Weißen ins Haus bringt, haben genügt, dass ich mich in Samoa verliebt habe. Ich glaube, es schon zu kennen.«
Er tupfte sich mit der Serviette den Mund ab und lächelte. »Sie müssen mich für einen senilen alten Mann halten, weil ich so daherrede.«
Tristan blickte den Geistlichen mit ganz anderen Augen an. »Überhaupt nicht. Was Sie sagen, klingt für mich wie … Ja, im Grunde könnte ich selbst es gesagt haben.«
Der Missionar lächelte. »Wirklich? Damit machen Sie mir eine große Freude. Ich glaubte schon, ich sei der Einzige, der so fühlt. Bei den anderen, mit denen ich gestern und heute gesprochen habe – Siedlern, Kontoristen, ja, selbst den Journalisten –, hatte ich den Eindruck, dass diese Leute – nun ja, wie soll ich sagen –, dass sie Samoa als Station betrachten, nicht als Land. Für sie ist es eine Sprosse auf der Karriereleiter, ein gutes Geschäft oder ein Dienst an der Heimat. Sie, Herr Leutnant, scheinen anders zu denken, obwohl Sie diese Uniform tragen.«
»So ist es.«
Der Missionar nickte ihm zu, als wolle er sagen: Gut, dass wir uns begegnet sind.
»Geht es Ihrer Verlobten ähnlich?«, fragte er.
»Wem?«
»Fräulein Hanssen, die Dame gegenüber. Ich hörte, Sie seien mit ihr verlobt. Falls ich da etwas falsch verstanden habe, dann …«
»Nein, nein«, korrigierte Tristan und drehte das Weinglas unruhig zwischen den Fingern. »Sie haben das völlig richtig verstanden, Hochwürden. Ich habe mich lediglich noch nicht an diese Bezeichnung gewöhnt, das ist alles.« Er atmete tief durch und fügte hinzu: »Nein, Fräulein Hanssen denkt und fühlt in diesem Punkt ganz anders als ich.«
Die alten Augen des Priesters forschten in seinen, so wie es Tuila manchmal gemacht hatte. Vielleicht war es diese Erinnerung, die ihn dazu brachte, diesem alten Mann gegenüber, den er kaum kannte, ehrlicher zu sein, als das seine zurückhaltende Art und die Situation normalerweise erlaubt hätte.
Er drehte das Weinglas noch schneller. »Raten Sie, Hochwürden, was Fräulein Hanssen an dem Leben in Samoa schätzt, inmitten dieser natürlichen, üppigen Pracht. Nun, was glauben Sie? Man kommt kaum darauf, und ich werde Sie nicht länger auf die Folter spannen. Sie mag die kurz geschorenen Rasen in ihrem Vorgarten mit kleinen Inseln von Stiefmütterchen dazwischen, die weiß gestrichenen Gartenzäune sowie ebenso weiße Pavillons, in denen sie Kaffee aus Tassen trinkt, die das Konterfei Friedrichs des Großen zieren. Und sie mag Sonnenschirme, obwohl sie Mühe hat, mit ihnen umzugehen.«
Er stürzte einen großen Schluck Wein die Kehle hinunter. »Und was denkt Fräulein Hanssen, meine Verlobte, über die Menschen dieses Landes? Sie hat, glaube ich, eine samoanische Wäscherin, der sie noch nie die Hand gegeben hat. Trotzdem trägt sie sicherheitshalber lange Handschuhe, für den Fall, dass die Wäscherin sie einmal berühren könnte. Sie hält die Einheimischen für gewalttätig und dumm. Ein Witz, wenn man sich das recht überlegt, dass die Tochter eines Mannes, der seinen Reichtum auf deutsche Bajonette gründet, die Samoaner für gewalttätig hält. Und noch lächerlicher, dass ausgerechnet Fräulein Hanssen jemand anderen für dumm halten kann, sie, die doch …«
Ordinarius Löblich legte die Hand auf Tristans Arm und beendete damit seinen Redefluss. Tristans Finger zitterten leicht, als er das Glas in einem Zug leerte und sich, ohne auf den Diener zu warten, selbst nachschenkte. Glücklicherweise hatte niemand am Tisch etwas von der Szene bemerkt, denn man war mit dem Wetter, der Maschinenleistung der »Förde« und den Aussichten für die nächste Ernte vollauf beschäftigt.
In diesem Augenblick drang aus dem Nachbarraum der neunmalige Ruf des Kuckucks heran.
Der alte Geistliche lächelte Tristan an. »Vermutlich mag sie auch Kuckucksuhren, Ihre Verlobte?«
Tristan entspannte sich bei der humorvollen Bemerkung des Geistlichen. Alle Aufregung fiel von ihm ab, und er fragte sich, wie er sich nur so hatte gehen lassen können.
»Ja, tatsächlich«, sagte er und lächelte zurück. »Wie haben Sie das nur erraten?«
Nach dem Essen nahm Tristan seine Verlobte zur Seite und bat sie um ein Gespräch unter vier Augen. Zuerst zierte sie sich, unter dem Vorwand, so etwas würde sich nicht schicken, aber Tristan wusste, dass sie in Wahrheit das fürchtete, was Tristan ihr in einem intimen Gespräch vorhalten könnte.
Tatsächlich sparte er nicht mit Vorwürfen, als er sie mit sanfter Gewalt in einen Nebenraum geschoben hatte, wo sie unter sich waren.
»Meinen Sie«, presste er zwischen den Zähnen hervor, »ich wüsste nicht, in welcher Weise Sie mich hintergangen haben?«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden, Tristan.«
Er lachte ein wenig verächtlich auf. »Hier sind wir ganz unter uns, da können Sie das Theaterspielen lassen. Wir beide wissen, was ich Ihnen während des Picknicks gesagt habe, und Sie haben meine Worte absichtlich verdreht. Doch keine Sorge, Ihnen gebe ich an dieser Gemeinheit die geringste Schuld. Ihr Vater und Frau Schultz haben das zusammen ausgeheckt, richtig?«
Sie schlug die Augen nieder und schwieg.
»Dachte ich es mir doch. Ihr Vater hat alles: Plantagen in der Südsee, eine Villa auf Samoa, gut gehende Exporte, eine kleine Handelsflotte. Was ihm noch fehlt, ist ein Titel in der Familie, und da hat er den guten Namen Arnsberg für seine einzige Tochter ins Visier genommen. Als er aber merkte, dass der Fisch nicht anbiss, hat er die Sache etwas forciert. Stammt die Idee mit dem Telegramm von ihm?«
Sie blickte noch immer auf ihre Schuhspitzen.
»Glauben Sie nicht, ich hätte eine Antwort verdient? Wenigstens das?«
Clara schluckte. »Die Frau Gouverneur hatte die Idee, mein Vater hat sie lediglich …« Sie stockte.
»Ja?«, drängte er. »Was hat Ihr Vater lediglich?«
»Die Idee für gut befunden.«
Tristan klatschte in die Hände. »Bravo! So habe ich mir das gedacht. Der alte Hanssen und die alte Schultz sind die Puppenspieler, und Fräulein Clara tanzt in ihrem weißen Kleidchen nach dem Rhythmus.«
»Psst«, zischte sie. »Nicht so laut. Man könnte Sie hören.«
»Sollen sie doch. Wie heißt es so schön: Der Lauscher an der Wand!« Er dämpfte seine Stimme etwas. »Aber Sie, Clara, wie konnten Sie sich nur auf ein solch perfides Spiel einlassen? Schließlich betrifft es Ihr Leben, Ihr ganzes Leben. Sie haben doch alles – Geld, Stellung, ein herrliches Haus mit einem manikürten Rasen. Was brauchen Sie einen Grafensohn, der das Gegenteil von dem schätzt, was Sie schätzen? Warum tun Sie sich so etwas an? Ich bitte Sie, machen Sie allem ein Ende, und lösen Sie mit mir gemeinsam die Verlobung, im Guten.«
Sie erschrak. »Nein! Niemals!«
»Aber wieso? Ich verstehe es nicht.«
Sie sah ihn mit ihren fahlen, braunen Kulleraugen an. »Sie haben es doch schon einmal erraten, Tristan. Damals, auf dem Picknick.«
Er wich einen Schritt zurück. »Heißt das, Sie lieben mich? Sie haben Ihre Zuneigung nicht gespielt?«
Clara wollte sich abwenden, aber er nahm sie an den Schultern und hielt sie fest. Sie presste ihre Lippen zusammen, und dann brach es aus ihr heraus, wie aus einem übervollen Kessel: »Natürlich liebe ich Sie, Tristan, wissen Sie das nicht? Schon an dem Tag, als Sie mit dem Schiff hier ankamen und mir vorgestellt wurden, wusste ich, dass ich Ihre Frau werden wollte. Monatelang habe ich mich niemandem anvertraut, doch dann, eines Tages, fragte mein Vater, ob ich mir eine Heirat mit Ihnen, Tristan, vorstellen könne. Ich sagte sofort zu, und dann nahm alles seinen Gang. Er sprach mit der Frau Gouverneur. Nun, von da an kennen Sie die Geschichte.«
Er blickte sie verständnisvoll und mitleidig an. »Aber, Clara, Sie werden doch bemerkt haben, dass ich Ihnen keinerlei …«
»Nein, sagen Sie nichts mehr. Sie wollten hören, wie es dazu kam, nun wissen Sie es. Ich werde Sie nicht gehen lassen, Tristan. Wir werden heiraten, und wenn Sie es wagen sollten, die Verlobung zu lösen, dann mache ich Sie überall unmöglich, das ist mein Ernst.«
Sie weinte.
Er fasste sie sacht am Arm, ließ wieder los, und sie lief davon.
Tristan wusste endlich, woran er war, auch wenn das an der Situation wenig änderte. Nach außen blieb er den Hanssens gegenüber höflich, aber wenn sie an zwei Abenden in der Woche bei einem Glas Obstler unter sich waren, machten seine Enttäuschung und Wut sich nicht selten Luft.
Als Ordinarius Löblich trotz mehrerer Einladungen weder in der Residenz noch im Klub oder bei den Hanssens erschien, schimpfte der Kaufmann, wobei seine schweren, von unzähligen roten Äderchen durchzogenen Wangen bebten.
»So etwas macht man nicht. Einfach wegbleiben. Niemand weiß, wo er ist, sein Zimmer in Apia ist leer.«
»Er ist niemandem Rechenschaft schuldig«, bemerkte Tristan. »Ich finde ihn sympathisch.«
»Pah, ein verrückter Alter, Gott vergebe mir! Ich weiß, er ist Priester, Ordinarius sogar, aber wenn ihr mich fragt, hat sein Bischof ihn hierher geschickt, weil er in seiner Diözese nicht mehr tragbar war.« Hanssen pochte mit dem Zeigefinger gegen seine Stirn. »Plemplem.«
Clara, die immer nur das wiedergeben konnte, was jemand anderer schon einmal geäußert hatte, sagte: »Die Frau Gouverneur ist besonders empört darüber, dass er offenbar zwei Nonnen in seiner Begleitung hat. Man stelle sich das vor: ein Priester mit zwei Nonnen!«
Tristan runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht, wo das Problem ist, Clara.«
»Nun, das ist doch offensichtlich«, erklärte sie. »Ein Priester, ein Mann, allein mit zwei Frauen im Busch, ohne dass man seinen Aufenthaltsort kennt. Das schickt sich nicht.«
»Ist das Ihre Meinung oder die von Frau Schultz?«, fragte Tristan ärgerlich.
»Nun ja«, zögerte Clara, »ich schließe mich der Meinung der Frau Gouverneur an, also ist es auch meine Meinung.«
»Wenn Sie sich weniger anschließen würden, sondern sich mehr eigene Gedanken machten, dann würde ich Ihnen vielleicht sogar zugestehen, eine eigene Meinung zu haben, so beleidigend und hirnverbrannt sie auch ist. Leider ist dem nicht so. Sie sind wie ein Beo, der pfeift, was andere vor ihm gepfiffen haben. Sie sind es – und die anderen Damen –, die sich unschicklich benehmen, indem Sie hässliche Verdächtigungen streuen, die auf nichts als Fantasien basieren. Und das nur, weil Sie nichts Besseres zu tun haben, weil Sie sich langweilen.«
Clara erbleichte. Sie wagte kein Wort mehr zu sagen, und für einen Augenblick knisterte die Luft vor Spannung. Dann räusperte sich der alte Hanssen und sagte: »Sprechen wir lieber von etwas Angenehmerem, von der Hochzeit. Wir sollten nun bald einen Termin festlegen.«
Tristan stellte sein Glas ab. »Heute nicht. Guten Abend.« Dann ließ er die Hanssens einfach stehen.
Er konnte die Festlegung auf einen Hochzeitstermin noch zwei weitere Wochen hinauszögern, denn er hoffte, dass Clara oder ihr Vater den Hochzeitsplan fallen lassen würden, wenn sie erlebten, wie kühl und abweisend Tristan sich verhielt. Doch sie rechneten wohl damit, dass sich seine Laune früher oder später bessern würde – kein Mensch konnte für immer mürrisch bleiben.
Ein Brief seiner Mutter nahm Tristan jeglichen Mut, von sich aus die Verlobung zu lösen. Sie schrieb so überschwänglich, so hoffnungsfroh, jede Zeile war voll gestopft mit mütterlicher Freude.
Dass ich diesen Tag noch erleben darf, an dem mein Jüngster, mein Einziger jetzt, eine Frau zum Altar führt, ein so vornehmes Mädchen noch dazu, ist das größte Glück, das Du mir bereiten konntest.
Und der Graf fügte am Ende des Briefes einige Zeilen hinzu, aus denen hervorging, dass er sich früher offenbar in Tristan getäuscht habe, dass dieser dem Namen Arnsberg alle Ehre mache.
Dein Bruder wäre so stolz auf Dich, wie ich es bin.
Alle diese Worte brachen Tristans letzten Widerstand. Er stimmte dem sechzehnten August als Hochzeitstag zu; drei und ein halber Monat noch, dann wäre er ein verheirateter Mann und Schwiegersohn des reichsten Kaufmanns der deutschen Südsee. Nach der Bekanntgabe dieses Termins konnte Tristan regelrecht spüren, wie sein Ansehen stieg. Die Kolonisten hatten ihn immer schon respektvoll behandelt, jetzt überschlugen sie sich in Freundlichkeit. Sie luden Clara und ihn zum Essen ein, sangen im Klub Loblieder auf ihn, ja, sogar Oberst Rassnitz wurde Tristan gegenüber umgänglicher. Tristan konnte es sich erlauben, Wochenbesprechungen mit dem Oberst grundlos abzusagen. Auch Clara besuchte er so selten wie möglich. Diese letzten Monate auf Savaii wollte er für sich haben, für sich allein.
Abends wartete er, bis der Letzte seiner Männer gegangen war und die Dorfbewohner von Salelologa ihr heiteres Bad bei Sonnenuntergang beendet hatten. Dann zog er die Uniform aus und ging kaum bekleidet hinunter zum Strand, lief durch die Nacht, dorthin, wo das Sternenkreuz des Südens sich aus dem Blau erhob. Jetzt im Mai begann die Zeit des Windes. Der Passat spielte mit den Palmenfächern und verursachte ein pausenloses Rauschen wie das eines Sommerregens, und von Zeit zu Zeit brachen sich die Wellen mit dem Ton eines Trommelschlages und spülten über Tristans Füße. Er lief oft viele Stunden lang, ungestört, allein mit sich. Ab und zu hörte er von weither eine Flöte, oder das Licht in einem fale drang durch die Ritzen der Matten. Er wünschte sich dann, mit Tuila in einem solchen Haus zusammen zu sein, umgeben von den Geräuschen der Insel und des Ozeans, noch einmal ihren Körper zu spüren, ihre Augen glänzen zu sehen. Oft blieb er stehen und blickte aufs verhüllte Meer, als hoffe er, dort irgendeinen Trost zu finden. Diese von der Natur verzauberten Nächte versetzten ihn allerdings nur noch mehr in eine Stimmung quälender Aufgewühltheit. Er war unglücklich, unzufrieden mit sich, mit allem.
Als Tristan berichtet wurde, dass in Pataivai, einem Dorf im Süden, der Ordinarius Löblich eine Missionsschule baute, interessierte ihn das zunächst kaum. Er schickte eine Meldung darüber zu Rassnitz und dem Gouverneur, damit sie informiert waren, dass es dem Alten offenbar gut ging. Danach wollte er nicht mehr daran denken. Es verging jedoch von da an kein Tag mehr, an dem er sich nicht an das Gespräch mit Löblich erinnerte. Obwohl Tristan ihn kaum kannte, mochte er dessen Offenheit und die Liebe zum Land, die unter den Kolonisten selten war. Trotzdem stand er dem Missionar nach wie vor skeptisch gegenüber; zu viele Pastoren, Reverends und Priester waren mit besten Absichten hergekommen und hatten doch nur Unheil angerichtet. Von Misstrauen und Neugier, aber auch ein wenig von der Hoffnung getrieben, dass der Alte ihn ablenken oder sogar ein wenig trösten könnte, machte Tristan sich schließlich auf den Weg nach Pataivai.
Er kam an eine verträumte kleine Bucht mit einer Zwergschule, die sich wie ein Nest zwischen die Kokospalmen schmiegte. Zwei fale, die offenbar zuvor schon dort nebeneinander gestanden hatten, waren von Löblich und einigen Helfern mit einem Mittelbau verbunden worden, alles in allem kaum fünfzehn Schritt lang und vier Schritt breit. Ordinarius Löblich saß auf dem Boden, umringt von vier kleinen Kindern, und schnitt aus Papier Blumen und Kränze aus. Als Löblich ihn sah, stand er sofort auf und ging ihm mit ausgestrecktem Arm entgegen.
»Wie schön, dass Sie kommen«, rief er strahlend. »Ich wollte Ihnen schon einen Höflichkeitsbesuch abstatten, aber die Kinder lassen mich nicht weg. Ich habe es nicht übers Herz gebracht, sie allein zu lassen.«
Tristan verschwieg, dass der Ordinarius zur Errichtung einer Mission eigentlich erst eine Genehmigung von ihm hätte einholen müssen. Doch Löblich erzählte derart enthusiastisch von seiner Arbeit, dass Tristan ihn mit solchem Behördenkram nicht bremsen wollte. Er würde das stillschweigend für den Missionar erledigen.
Ein paar Meter entfernt ließen sich die zwei Nonnen von einer Gruppe Knaben und Mädchen samoanische Lieder beibringen. Die eine Nonne war jung und pausbäckig wie eine Metzgerstochter, aber sie schien einen Riesenspaß beim Singen zu haben, und die andere, wesentlich ältere und dünnere Nonne, hielt an jeder Hand ein Kind und tänzelte ebenso fröhlich wie unbeholfen zum Takt der fremden Musik.
»Das sind Schwester Bertha und Schwester Dorothea, die mir von der Diözese als Helferinnen mitgegeben wurden«, erklärte Löblich. »Wir haben viel Spaß zusammen.«
Tristan dachte daran, was Menschen wie Clara und Frau Schultz aus einem solch offenherzigen Satz machen würden. Ihn dagegen steckte die Heiterkeit der Schule sofort an, und der Geistliche bemerkte das.
»Kommen Sie«, sagte er, »ich zeige Ihnen alles.«
Zur Landseite hin war das fale umrahmt von Sträuchern der Riesentulpe, und an einer Flanke ergoss eine ungeheure Bougainvillea ihre seidigen, bischofsfarbenen Kaskaden über die Brüstung der Veranda. Zur Seeseite war das Haus vollständig offen.
»Ja aber«, staunte Tristan, »wo schlafen Sie denn, Hochwürden?«
»Nun, wo wohl? Dort, im fale, auf weichen Matten. Sie glauben ja nicht, wie wunderbar das ist, mit dem Meer aufzuwachen und sich mit ihm schlafen zu legen. Die Schwestern haben dort drüben, hinter den Bäumen, ein kleines Haus von den Dorfbewohnern gebaut bekommen. Wir unterrichten meistens draußen, irgendwo im Schatten, wo es gemütlich ist. Sie bringen uns ihre Lieder bei und wir ihnen unsere. Genauso machen wir es mit den Geschichten.«
»Geschichten?«
»Tja, das war so eine Idee von mir. Die Schwestern nennen es eine Eingebung, was gewiss übertrieben ist. Ich fand es besser, diesen Kindern keinen Schulstoff einzupauken, sie verstehen viel schneller und mit mehr Freude, wenn man ihnen Geschichten erzählt. Das gilt übrigens auch für die Erwachsenen. In der Kultur der Polynesier spielen Geschichten eine große Rolle und … Ach, wem erzähle ich das, Sie wissen es ja so gut wie ich.«
Tristans Bewunderung wuchs mit jedem Satz des Missionars. Wohnen im fale, Unterricht am Strand, Lieder und Geschichten. Andere Missionare wohnten, schliefen und unterrichteten in geschlossenen Räumen, und sie scherten sich keinen Deut um die samoanische Kultur. Der alte Löblich war anders, voller innerer Heiterkeit, so dass er hervorragend zu den Insulanern passte. Was er hier aufbaute und für die Menschen tat, würde sich schon bald auf der ganzen Insel herumsprechen, auch auf Upolu, und Tristan sah voraus, dass der Missionar binnen zwei, drei Jahren von den Samoanern verdientermaßen hochverehrt würde.
»Ich schäme mich ein bisschen«, räumte Tristan ein. »Ich habe Sie anfangs falsch eingeschätzt.«
Der Ordinarius lachte und nahm Tristan beherzt in den Arm. »Mein Lieber, ich bitte Sie. Wer will Ihnen das verdenken? Sie haben es schwer unter den vielen Kolonisten, die nicht verstehen, was wir an diesen Inseln lieben. Ich habe es besser, ich kann mich hier von allen Ignoranten abschotten, von den Kaufleuten mit den Knebelverträgen, den Siedlern mit den Gewehren, aber Sie, Leutnant – Sie haben ja geradezu die Pflicht, Umgang mit ihnen zu pflegen. Und nach Ihrer Heirat wird es nicht leichter für Sie werden, im Gegenteil, man wird Sie noch viel häufiger mit Beschlag belegen. Doch Sie haben ein vornehmes, geduldiges Gemüt, Sie werden schon das rechte Maß finden, und die Liebe Ihrer Frau wird Ihnen dabei helfen.«
»Die Liebe meiner Frau«, flüsterte Tristan. »O ja.«
Ordinarius Löblich setzte sich auf eine vertrocknete Palmenwurzel, die der letzte Sturm ausgerissen hatte. »Die Liebe der Samoaner zu Geschichten hat auch eine weniger schöne Seite, Sie wissen, was ich meine?«
Tristan nickte. »Sie schwatzen viel, auch über andere.«
»Ja, und sie haben auch über Sie geschwatzt, mein lieber Leutnant. Ich konnte nicht verhindern, davon zu hören. Natürlich nehme ich Gerüchte normalerweise nicht ernst, das habe ich schon in meiner Heimat nicht getan. Aber verbunden mit dem, was Sie mir während des Essens in der Residenz erzählt haben über Ihre Verlobte … Sie lieben eine andere Frau, nicht wahr?«
Tristan setzte sich vor den Ordinarius in den Sand. Er hätte alles abstreiten können, und die Sache wäre erledigt gewesen. Doch er war erschöpft, und er brauchte jemanden, mit dem er über alles reden konnte. Diesem alten Mann konnte er trauen, er würde ihn verstehen, denn er verstand und liebte die Samoaner und ihr Land.
Tristan erzählte Löblich die ganze Geschichte von Tuila und ihm, oder doch wenigstens den größten Teil davon, und der Geistliche hörte aufmerksam zu. Im Grunde war es wie eine Beichte, nur die Reue fehlte. Tristan bereute nichts. Er sagte, dass er keinen Augenblick mit Tuila missen wollte, und dass er – könnte er die Zeit zurückdrehen – noch einmal alles genauso machen würde, selbst wenn er wüsste, dass es wieder so käme, wie es jetzt war.
Danach schwiegen die beiden Männer eine Weile. Der Missionar stand auf, ging ein Stück spazieren und kam wieder zu Tristan zurück, der noch immer im Sand saß.
»Was meine Kirche darüber denkt, muss ich wohl nicht erläutern«, sagte Löblich. »Aus der Sicht meiner Kirche sind auch heidnische Gesänge ein Unding, aber sehen Sie nur, wie die Kinder dort drüben sich freuen, wenn sie diese Lieder singen. Freude, sofern sie aus tiefstem Herzen kommt und andere einschließt, kann niemals schlecht sein.«
Er seufzte. »Aber ich vermute, mein lieber Leutnant, dass es Ihnen weniger darum ging, Sünden erlassen zu bekommen, als eher einen Rat zu erhalten. Habe ich Recht?«
Tristan nickte.
»So rate ich Ihnen, ein Haus zu bauen.«
Das war ein reichlich merkwürdiger Rat, und Tristans Gesicht war die Verwunderung so deutlich anzusehen, dass Löblich lachte. »Jetzt glauben Sie wohl, dass jene Leute Recht haben, die mich insgeheim für verrückt halten, wie? Keine Sorge, ich bin noch recht gut beieinander, glaube ich.«
»Aber ein Haus bauen, Hochwürden, wozu soll das gut sein?«
»Sie werden sehen, wie sich Ihre Gedanken klären, wenn Sie erst einmal mit dem Bau beschäftigt sind. So ist es mir schon dreimal ergangen. Als ich mir als junger Mann im Taunus ein Haus baute, begriff ich plötzlich, dass das nicht meine Bestimmung war – und trat in den Orden ein. Als ich letztes Jahr in meiner Gemeinde eine neue Kirche errichten ließ, begriff ich, dass dies nicht länger der Ort bleiben dürfe, an dem ich wirke. Und als ich in den letzten Wochen dieses fale dort drüben baute, begriff ich, dass ich eines Tages hier sterben werde, wann immer das sein wird.«
»Aber«, wandte Tristan ein, »wer weiß, ob Ihre Methode auch bei mir wirkt.«
»Das weiß man natürlich nicht. Im schlimmsten Fall sind Sie genauso verwirrt und unglücklich wie jetzt – nur eben mit einem Haus, das Sie vorher noch nicht hatten.«
»Was soll ich damit? Ich wohne doch in der Station.«
»Nun, dann ziehen Sie eben um.« Löblich lächelte. »Und nun entschuldigen Sie mich, mein Lieber. Ich muss die Schwestern aus den Klauen der Kinder befreien.«
Er klopfte den Sand von seinem Priestergewand und eilte davon. »Kommen Sie mich bald wieder besuchen!«, rief er.
Und Tristan, noch immer überrascht von dem kuriosen Vorschlag, winkte ihm zu.
Ein wenig enttäuscht war Tristan schon. Er hatte sich den eindeutigen Rat eines Geistlichen erhofft und war gleichsam von einem Orakel bedient worden. Ein Haus bauen! Wo er doch noch nicht einmal ein Grundstück besaß! Er schob den Gedanken beiseite. Wie üblich erledigte er seine dienstlichen Aufgaben, und nachts machte er Spaziergänge, die ihn stets an der Ostküste von Savaii entlangführten.
Eines Nachmittags, als er im Süden zu tun hatte, kam er an die Abzweigung zur Palauli Bay. Eine Weile starrte er auf den schmalen Weg, ohne sich entschließen zu können, ihn zu benutzen oder vorbeizureiten. Die Bucht war mit schönen und schmerzlichen Erinnerungen verbunden, und Tristan überlegte, ob er diese Erinnerungen nicht lieber vergessen wollte. Als ein paar munter plaudernde Mädchen von der Bucht heraufkamen, hörte er sie schon von weitem, und er versuchte, Tuilas Stimme herauszuhören, doch das war so vergeblich, wie einen einzigen Vogel aus dem allabendlichen Konzert des Tropenwaldes zu bestimmen. Die Frauen wurden ein wenig leiser, als sie ihn sahen, verhüllten jedoch weder ihre nackten, nur mit Blumengirlanden geschmückten Oberkörper, noch hörten sie auf, weiterzureden und zu lachen. Sie grüßten ihn freundlich, lächelten und gingen an seinem Pferd vorbei, und eine, die ihren Korb voll Blütenblätter hatte, streute eine Hand voll davon auf die Mähne seines Pferdes. Natürlich kannten sie Tristan, und er kannte sie, da sie aus Palauli waren. Er hätte sie nach Tuila fragen können, doch er fürchtete, dass ihn ihre Antwort, gleich welche, nur noch unglücklicher machen würde.
Sobald sie zwischen dem Grün verschwunden waren, saß er ab und ging den Weg, sein Pferd hinter sich führend, bis zur Palauli Bay entlang. Als er das Meer sah, verschwand die Sonne gerade hinter den Bergkuppen, und der Passat wehte in einem Strom von himmlischer Kühle in die Bucht hinein. Ein Stück entfernt erkannte er drei menschliche Silhouetten: Zwei Jungen trugen einen freundschaftlichen Ringkampf aus, und ein Mädchen stand daneben und kicherte.
Tristan ließ sein Pferd grasen, zog die Stiefel aus und setzte sich nah ans Meer, so dass die Wellen seine Füße überspülten. Er legte sich zurück und schloss die Augen, lauschte nur auf die Geräusche und Düfte, so wie Tuila es ihm beigebracht hatte. Er hörte sie sprechen, meinte ihre Worte und Ratschläge zu hören, wenn sie ihm beibrachte, die kleinen Wunder wahrzunehmen, die ansonsten von den Problemen seines Alltags überlagert wurden: der warme Sand unter seinem Rücken, das Murmeln des Wassers und die unveränderliche, oboenhafte Melodie des Passatwindes, in die sich tausend Vogelstimmen mischten. Die langsam von Minute zu Minute zunehmende Stille. Der Geruch des Salzes. Angespülte Muscheln. Dunkelheit.
Er richtete sich wieder auf. Die drei Kinder waren mittlerweile zu seinem Pferd gegangen, streichelten es und gaben ihm Namen.
Tristan lächelte in sich hinein, und ohne zuvor daran gedacht zu haben, murmelte er plötzlich: »Hier.«
Hier musste er ein Haus bauen, das Haus, von dem der Ordinarius gesprochen hatte. An dieser Bucht hätte ein solches Projekt seinen Sinn, denn die Bucht von Palauli war der Ort, der für ihn die Erinnerung an das Beste in seinem Leben bewahrte, egal, was noch kommen, egal, wofür er sich entscheiden würde.
Die ganze Nacht hindurch schritt er bei fahlem Mondlicht das Gelände ab, stellte das Haus hierhin und dorthin, gab ihm Form und Gestalt, Größe und Schönheit, und als im Osten die Passatwolken erglühten und wie Heliographen den nahenden Tag ankündigten, stand sein Haus in Gedanken vor ihm.
Einmal von der Idee an »sein« Haus erfasst, konnte er nicht länger warten, es auch real vor sich zu sehen. Schon am nächsten Morgen sprach er mit dem ali’i von Palauli, dem Dorfersten. Er setzte ihm sein Vorhaben auseinander, bekräftigte, nicht die Bucht an sich kaufen zu wollen, sondern nur einen kleinen Teil der Fläche, gerade so viel, um dort ein Haus zu bauen. Die Insulaner sollten weiterhin freien Zugang zum Strand haben, Kokosnüsse pflücken dürfen, Palmwein zapfen, Blüten sammeln. Der ali’i, ein Mann mit selten dickem Bauch, saß wie ein Mogul auf seiner Matte und hörte ihm schweigend zu – jedenfalls hoffte Tristan, dass er gehört wurde, denn der Dorferste schien leicht von Opium benebelt zu sein, das er durch kokelnde, gedrehte Blätter einsog.
Nachdem Tristan eine halbe Stunde ununterbrochen gesprochen hatte, sagte der Dicke einfach: »Ioe«, und zeigte fünfmal die fünf Finger seiner linken Hand, weil er die rechte Hand zum Rauchen brauchte. Ioe hieß ja, und die Finger bedeuteten fünf mal fünfzig Taler.
Tristan staunte. »Das ist viel Geld für ein kleines Stück Land.«
Der ali’i erläuterte ihm in einem Kauderwelsch aus Samoanisch, Deutsch und Englisch, dass er das Land nur hergebe, wenn Tristan auch Teile des ungenutzten Inselinneren dazukaufte, und zwar jenen Teil, der Palauli gehörte, rund ein Fünftel des Inselsüdens.
»Aber das brauche ich doch überhaupt nicht.«
Der ali’i gähnte.
Tristan verstand. Entweder alles oder gar nichts.
»Morgen bringe ich dir das Geld«, sagte er.
Er fuhr nach Apia und lieh sich dort neuntausend Taler von der Bank, bis das Geld von Deutschland nach Samoa transferiert worden war. Zwei Drittel der Summe waren für die Arbeiter und die Materialkosten gedacht. Der Geldbetrag bereitete ihm kein Kopfzerbrechen, denn er besaß ein Vielfaches davon, doch er bedauerte ein wenig, dass die zweitausendfünfhundert Taler für Palauli höchstwahrscheinlich und buchstäblich in Rauch aufgehen würden, weil der ali’i sie für Opium verschwendete, dem mittlerweile fast alle Männer Palaulis verfallen waren. Dabei könnte das Dorf etwas Besseres mit dem Geld anfangen, zum Beispiel weitere Plantagen anlegen, Mangos oder Papayas, die in Australien gefragt waren und gut bezahlt wurden. Er wusste jedoch, dass Export die Samoaner nicht interessierte und dass man sich als papalagi besser nicht in die inneren Angelegenheiten der Dörfer einmischte. Die fa’a samoa, die samoanische Lebensart, zu der auch die Autorität der Familien- und Dorfoberhäupter gehörte, konnte nur von den Samoanern selbst geändert werden. Fremde mussten hier schweigen.
Natürlich sprach sich Tristans Vorhaben schnell herum, schon deshalb, weil er fünfzig Arbeitskräfte anstellte. Ein samoanisches fale konnten drei Männer in einer Woche bauen, ein typisch deutsches Siedlerhaus war bei der doppelten Anzahl von Männern in drei Wochen fertig, und selbst die schicken Kolonialbauten der Kaufleute in Apia konnten in nur sechs Wochen gebaut werden, wenn zwanzig Arbeitskräfte geholt wurden. In der Inselhauptstadt wunderte man sich deswegen ein wenig, betrachtete das Bauvorhaben jedoch wohlwollend. Es war nur natürlich, dass der künftige Schwiegersohn des reichen Südseekaufmanns Hanssen – noch dazu ein von Arnsberg – stilvoll und großzügig wohnen wollte, wenn er erst verheiratet war. Der alte Hanssen war beglückt, und auch Clara freute sich, dass Tristan sich offenbar an die Planung ihres gemeinsamen Eheglücks machte, wenngleich sie nicht verstand, warum er unbedingt auf Savaii bauen wollte, noch dazu derart abgelegen im Süden.
»Ich würde ja lieber in Apia wohnen«, gestand sie der Gouverneursgattin.
Doch Frau Schultz tätschelte der jungen Frau beruhigend die Hand. »Das Haus ist fürs Wochenende, meine Liebe.«
»Meinen Sie?«
»Aber ja, was sonst? Er baut Ihnen ein Landhaus für die Tage, wo Sie nur unter sich bleiben wollen. Vermutlich schenkt er es Ihnen zur Hochzeit, warum sonst würde er so geheimnisvoll tun. Oder es ist ein Geschenk seiner Eltern. In jedem Fall entzückend.«
Damit waren alle Sorgen beseitigt, und Clara stellte ihrem Verlobten diesbezüglich keine Fragen.
Tristan beantragte bei Oberst Rassnitz einen vierwöchigen Urlaub und erhielt ihn, damit er sich voll und ganz dem Bau und den Hochzeitsvorbereitungen widmen konnte. Um Letzteres kümmerte Tristan sich überhaupt nicht – die Hanssens und die Gouverneursgattin dafür umso mehr –, in seinem Hausbau jedoch ging Tristan völlig auf. Er wies von morgens bis abends die Arbeiter an, wie sie was wo wann und wie schnell bauen sollten. Da er nur einige Samoaner anstellen konnte, weil aus der Gegend nicht so viele von ihnen Arbeit brauchten, beschäftigte er auch Einwanderer verschiedener Nationen, vor allem Chinesen, aber es waren auch drei Inder und drei Malaien dabei. Er musste doppelt so viel erklären und koordinieren wie ein gewöhnlicher Bauherr, und manchmal kam es ihm vor, als errichte er den Turm zu Babel, so viele Sprachen ertönten an der Palauli Bay durcheinander.
Die ganze Zeit über kamen immer wieder Insulaner vorbei, die das Haus bestaunten, denn seine Größe war ungewöhnlich für Savaii. Die meisten hielten sich aber – typisch samoanisch – nicht lange damit auf, und bald kamen die Mädchen nur noch, um die jungen Männer bei der Arbeit zu beobachten, und alte Leute kamen, weil sie noch nie einen Inder gesehen hatten. Wer nicht kam, waren Tuila oder Tupu. Insgeheim hatte Tristan gehofft, Tupu würde sich ansehen, was er baute, würde mit ihm sprechen, ihm irgendeine Brücke aufzeigen, einen versöhnlichen Vorschlag machen … Und Tuila? Er sah ein, dass sie sich nicht offen über das Verbot ihres Bruders hinwegsetzen konnte, denn das hätte bedeutet, dass sie verstoßen werden würde. Sie wäre auf der ganzen Insel geächtet. Er durfte von ihr nicht verlangen, was er selber nicht bereit war zu tun: die Familie, die Herkunft, die Traditionen zu missachten und aufzugeben. Aber konnte sie nicht heimlich zu ihm kommen oder wenigstens durch ihre Mutter oder eine ihrer Freundinnen eine Botschaft schicken? Er hatte gedacht, sie verloren zu haben, sei das Schlimmste, was ihm passieren konnte, doch er stellte fest, dass ihn der Zweifel, ob sie ihn je so tief geliebt hatte wie er sie, noch härter traf. Dieser Zweifel drohte die schönen Erinnerungen zu zerstören, und in solchen Momenten war er nahe daran, das Haus, noch bevor es fertig war, wieder abzureißen, die Hochzeit schnell hinter sich zu bringen und Samoa für immer zu verlassen. Trotzdem baute er weiter, vielleicht aus Starrsinn oder aus einer naiven Hoffnung heraus – oder weil er sich und Tuila mit seiner Nähe quälen wollte, bestrafen, weil sie beide die einmalige Chance, die das Leben ihnen gab, vertan hatten.
Nach sechsundzwanzig Tagen war das Haus so gut wie fertig. Ein paar Arbeiter beschäftigten sich noch mit dem Dach, und die Veranda fehlte noch, doch die wollte er selbst bauen, ganz allein. Tristan ging zum Strand hinunter und betrachtete von dort aus sein künftiges Zuhause. Es war ein Prachtstück geworden, ein Südseepalast, ausschließlich aus dem Holz gebaut, das auch die Samoaner für ihre fale benutzten. Das Dach mit seinen Tausenden von getrockneten Palmblättern erinnerte an den Baustil der Insulaner, und der gesamte Mittelteil war ein zwar überdachter, doch nach vorne und hinten offener und nur von Holzpfosten unterbrochener Raum, ähnlich einer Säulenhalle. Dem linken und dem rechten Flügel dagegen, beide jeweils so groß wie ein Haus, gab er Außenwände, Fenster und abgetrennte Räume, so dass der Palast eine Synthese aus samoanischen und abendländischen Elementen war und somit seine beiden Heimaten vereinte, die alte und die neue. Die Veranda würde er um das ganze Haus ziehen, und er würde einen Garten anlegen. Einen Garten mit Kokospalmen, riesigen Flamboyantsträuchern und rankenden Bougainvilleen.
Er blickte sich um und atmete tief die frische Luft ein, die der Passat in die Bucht drückte. Plötzlich verstand er, warum Löblich ihm diesen seltsamen Rat gegeben hatte. Keiner baute ein Haus, um einsam darin zu sein, eine Veranda, um allein darauf zu sitzen, und einen Garten, an dem sich niemand erfreute. Wenn Tristan sich das Leben in seinem Zuhause ausmalte, dachte er an Kinder, die um ihn herumsprangen, an Freunde und ungezwungene Geselligkeiten, an eine Frau neben sich, eine vertraute Hand, Nächte voller Nähe, an die Lichter, die ihn schon von weitem willkommen hießen, an gemeinsame Spaziergänge am Strand, wenn die Wale im Süden vorbeizogen …
Konnte Clara Hanssen diese Frau sein? Vielleicht wäre ja doch eine glückliche Zukunft mit ihr möglich, vielleicht würde sie sich unter seiner Obhut, seinem sanften Einfluss verändern, vielleicht würde alles, was ihm an ihr missfiel, verschwinden wie unter Zauberhand, ihre Einfalt, ihre Überheblichkeit, ihr seichtes, gefühlloses Geplauder. Er sah ihre rotblonden Haare, die so schön fallen könnten, wenn sie nicht unter diesem riesigen Hut versteckt wären; die hellen Augen, die wie ein Spiegel der seinen waren; die Sommersprossen, die sie so natürlich machten. Nein, er liebte sie nicht, aber könnte er trotzdem ein zufriedenes Leben mit ihr führen? Wenn sie erst hier wohnen würden, mit Blick auf die Palmen, die grünen Berge, die schimmernde Lagune … Würde die Palauli Bay eine andere Frau aus ihr machen, so wie aus ihm hier ein anderer Mann geworden war? Konnten die Wärme, das Glitzern, der Wind und die Farben das aus ihr machen, was sie in der Villa Hanssen verlernt hatte zu sein: einen Mensch?
Das Haus, wie es nun vor ihm stand, von einer abstrakten Idee zur Realität geworden, verstärkte seine Gefühle, oder besser, ordnete sie, brachte Klarheit. Nirgends war der Mensch so privat wie in seinen vier Wänden, und die Träume, mit denen er das Haus füllte, sind die Träume, die auch sein Leben füllen sollten.
Doch das Leben war ein Irrgarten, ein Geflecht von Wegen, und Tristan war noch dabei, den Weg zu finden, der ihn zum Ziel bringen würde.
Am nächsten Tag besuchte ihn Clara Hanssen. Sie sah frisch und weiß aus wie eine Wasserlilie, ganz im Gegensatz zu Tristan, der gerade verschwitzt an der Veranda arbeitete.
»Du meine Güte, Tristan!«, rief sie. »Wie sehen Sie denn aus? Ganz verschmutzt. Wieso arbeiten Sie denn selbst an diesem – diesem Ding? Dafür gibt es doch Arbeiter. Solche wie die da oben auf dem Dach. Sie sind von denen ja kaum noch zu unterscheiden, Tristan.«
Sie schien über seinen Aufzug ein wenig empört. In ihren Augen hatte ein Bauherr sich darauf zu beschränken, auf einem Stuhl neben den Arbeitern zu sitzen, Tee zu trinken und gelegentlich einen Befehl zu geben. Aber Tristans halb offenes Hemd zusammen mit seinen zerwühlten Haaren und dem glänzenden Schweißfilm auf seinem Gesicht versetzten Clara schnell in eine versöhnliche, milde Stimmung. Sie klappte ihren Sonnenschirm zusammen und kam ihm so nahe wie nie zuvor. Tristan konnte ihren Atem auf seinem Kinn spüren.
»Solche Arbeiten«, flüsterte sie und schlug kokett die Augen auf, »hat ein zukünftiger Graf und erfolgreicher Kaufmann doch nicht nötig. Andererseits – wenn niemand sonst Ihren Aufzug sieht, außer den Arbeitern, die sowieso nicht zählen, dann dürfen Sie auch in unserer Ehe gelegentlich solche Arbeiten verrichten. Irgendwie bekommen Sie eine besondere Ausstrahlung.«
Ihre Hand strich seinen Arm hinauf und über die Brust.
Tristan ließ sich ihre Berührungen gefallen.
Sie kicherte. »Nur gut, dass Frau Hufnagel in der Kutsche geblieben ist. Wenn sie uns so sehen könnte, so dicht beisammen. Die Kutsche konnte jedoch nicht auf dem schmalen Pfad fahren. Sie müssen jede Menge Bäume fällen lassen, Tristan, um den Weg zu verbreitern. Und wir brauchen Kies um das Haus herum. Und dann muss alles in Weiß gestrichen werden. Herrje, das sieht jetzt ja aus wie eine riesige Eingeborenenhütte. Wie eine Häuptlingsresidenz. Und der Mittelteil ist ganz unmöglich. Nun ja, vielleicht könnten wir an Regentagen dort den Tee nehmen. Aber Sie müssen zugeben, Tristan, der Mittelteil des Hauses ist nicht comme il faut.«
»Das ist mir, ehrlich gesagt, egal. Wem mein Heim nicht comme il faut genug ist, kann gerne wegbleiben. Und ich fälle auch keinen Baum und streue keinen Kies, und wen ich dabei ertappe, auch nur einen Zipfel des Hauses weiß zu streichen, schlage ich nieder. Ich kann diese Farbe nicht mehr ausstehen.«
»Seien Sie nicht unvernünftig, Tristan. Wie sollen unsere Gäste zum Haus gelangen, wenn sie nicht mit der Kutsche durchkommen?«
»Wozu hat Gott die Beine und die Pferde erschaffen?«
»Er hat aber auch die Axt erschaffen – wenn wir schon so gotteslästerlich daherreden. Jedenfalls ist dieser Weg nicht …«
»Nicht comme il faut, ich weiß, ich weiß.«
»Ich muss leider sagen, dass Sie sich nicht nett benehmen, Tristan. Ich dachte, Sie wollen mir mit diesem Wochenendhaus eine Freude machen, doch jetzt …«
»Moment«, unterbrach er sie. »Wochenendhaus? Wir werden hier die ganze Zeit über wohnen. Sehen Sie sich doch nur die Bucht an. Was könnte man sich Schöneres wünschen als diesen Ausblick jeden Tag zu haben, jeden Abend.«
»Sie machen sich einen Spaß mit mir, Tristan. Oh, das sollten Sie nicht. Selbstverständlich werden wir in Apia wohnen. Mein Vater hat bereits ein geeignetes Grundstück für uns gefunden, nicht weit von der Gouverneursresidenz. Natürlich dürfen wir die Villa nicht allzu prunkvoll gestalten, um den Gouverneur und seine Gattin nicht zu beleidigen. Es wäre doch arg vermessen, wenn wir die Residenz in den Schatten stellen würden.«
»Ein Haus in Apia interessiert mich nicht«, erklärte er. »Und was Ihr Vater will, schon gar nicht. Es ist mein Leben, und das will ich vorerst hier verbringen.«
Claras Mund bekam einen harten Ausdruck. »In diesem Dschungel, dieser Wildnis? Hier hört man ja sogar die Trommeln des nächsten Dorfes. Das kann nicht Ihr Ernst sein, Tristan!«
Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, sie jetzt vor den Kopf zu stoßen. Clara bot so viel Angriffsfläche, und er hatte seit ihrer Intrige und Tuilas Abschied von ihm seine Wut an ihr ausgelassen. Doch davon war nun nichts mehr übrig. Clara war ihm egal. Sie würde nie mit ihm ins Meer hinausschwimmen, damit sie sich dort küssten, nie unter ihm im Sand der Bucht liegen, nie einen Vogel hören, der phantomgleich durch die Nacht fliegt. Sie behauptete, dass sie ihn liebe, aber das konnte nicht sein, denn sie teilte keine seiner Stimmungen und Vorlieben; sie sah nicht, was er sah, und spürte nicht, was er spürte. Palmwipfel, Bergkuppen und Riesentulpen, der Wind, die Brandung und der Geruch des Meeres waren für sie nur Kulissen jenes Theaters, das sie und ihresgleichen sich gegenseitig vorspielten, an jedem Tag zu jeder Stunde. Sie mochte sich vielleicht in seinen Körper oder sein Gesicht verliebt haben oder in seinen zukünftigen Grafentitel und das Schloss, das sie nie gesehen hatte, aber im Geiste wohl schon längst bewohnte. Das jedoch, was Tristan ausmachte, die Sehnsucht nach einem ungezwungenen Leben ohne Verstellung und Theater, die Liebe für die einfachen, meist kostenlosen Dinge, war ihr fremd und widerlich, so wie umgekehrt ihre Welt ihm widerlich war.
Eine solche Ehe wäre die Hölle geworden, für sie beide. Der Bau dieses Hauses und die Träume, die bereits durch dessen Räume und Gänge spazierten, hatten ihm die Augen geöffnet.
Tristan sah Clara auf eine Art an, die alle seine Gefühle für sie ausdrückte, den Widerwillen gegen sie als Mensch, die Gleichgültigkeit gegen sie als Frau.
»Sie wissen es noch nicht«, sagte er, »aber eines Tages werden Sie dankbar sein, dass ich Sie nicht geheiratet habe.«
Ihre Augen weiteten sich, und sie zischte zwischen den Zähnen hervor: »Sie wagen es, die Verlobung zu lösen?«
»Es geht nicht anders, Clara. Sehen Sie das nicht selbst?«
»Wenn Sie mich nicht heiraten, wird man schlecht über Sie reden. Sie werden bestimmt nicht befördert, und man wird Ihnen das Leben schwer machen.«
Als er den Hammer nahm und einfach mit seiner Arbeit an der Veranda weitermachte, schrie sie: »Und denken Sie nur an Ihre Mutter und Ihren Vater, wie sehr sie sich grämen werden wegen Ihres Verhaltens! Ich werde Ihren Eltern einen Brief schreiben! Schlecht machen werde ich Sie, jawohl, und mein Vater auch!«
Sie keifte derart laut, dass die Arbeiter auf dem Dach zu schmunzeln anfingen. Einer von ihnen machte irgendeine Bemerkung auf Samoanisch, und alle fingen an, lauthals zu lachen.
Clara warf einen entrüsteten Blick hinauf, doch der stachelte die Samoaner nur zu weiteren Scherzen an, so dass das Gelächter nicht enden wollte. Tränen der Wut und Demütigung traten in Claras Augen, und als Tristan das sah, bekam er Mitleid und wollte ihr helfen. »Kommen Sie«, sagte er, »ich bringe Sie zu Ihrer Kutsche.«
»Fassen Sie mich nicht an!«, schrie sie, wobei ihre Stimme sich beinahe überschlug. Und unter einem weiteren Schub Gelächter vom Dach eilte sie, so schnell sie konnte, zurück zur Kutsche.
Natürlich sprach sich das Zerwürfnis zwischen Tristan und Clara Hanssen noch am selben Tag im nahen Palauli herum, als die Arbeiter abends ins Versammlungshaus kamen, kava und Palmwein tranken und dabei gehörig schwatzten. Als Tupu davon hörte, war er begeistert. Er hatte beinahe schon aufgehört, daran zu glauben, dass sein schöner Plan aufgehen würde, aber jetzt bot sich endlich die Gelegenheit, ihn zu verwirklichen. Die papalagi-Frau war abgeschlagen, der Weg für Tuila war wieder frei. Keine Frage, seine Schwester liebte diesen Tristan, und er liebte sie. Nun musste er nur noch dazu gebracht werden, sie auch zu heiraten, und dafür hatte Tupu vor einigen Tagen ein neues, sehr gutes Argument bekommen. Die Götter und Geister waren ihm gewogen.
Er trug Ivana auf, was sie zu tun hatte.
Seit er angefangen hatte, das Haus zu bauen, hatte Tristan vergeblich gehofft, einem der Valaisis zu begegnen, und nun, wo der letzte Hammerschlag getan war und nur noch die Menschen und Möbel fehlten, sah er Ivana in die Bucht laufen. Sie trug wie üblich ihr Kind auf dem Arm. Am Wasser blieb sie stehen, und lief mehrmals auf und ab, scheinbar nach Muscheln oder Krebsen suchend.
Tristan kam sie wie eine Einladung vor, mit ihr zu reden. Er ging zum Strand hinunter und sprach sie an. So früh am Morgen, die Sonne hob sich eben erst weißlich aus dem Meer, waren sie völlig ungestört.
Er begrüßte sie nach samoanischem Brauch und stupste dann die Nase der kleinen Moana an. Sie sah zauberhaft aus. Der Flaum ihrer Haare war zu kleinen Zöpfen gedreht und mit Bast und bunten Pflanzenstängeln befestigt worden, so dass es schien, als wüchsen ihr kleine Blumen auf dem Kopf. Sie lächelte ihn zahnlos an, und er nahm ihre Hand und rieb sie sacht.
»Was willst du?«, fragte Ivana kühl. »Tupu hat alles gesagt, was zu sagen war. Lass mich! Oder willst du mir Ärger machen? Willst du deine Macht gebrauchen und mich schikanieren?«
Tristan schüttelte verständnislos den Kopf. Was hatte er Ivana nur getan, dass sie ihn so sehr ablehnte?
»Ich möchte nur mit dir sprechen«, bat er.
»Wenn es um Tuila geht, so ist alles gesagt. Ihr seid nichts füreinander. Du bist ein papalagi, und sie ist ein ahnungsloses Ding, das sich falschen Hoffnungen hingibt.«
»Hat sie mich vermisst?«, wollte Tristan wissen.
Ivanas Mundwinkel zuckten ebenso amüsiert wie verächtlich, so als habe sie diese Frage bereits erwartet. »Und wenn schon«, erwiderte sie. »Da gibt es jemanden im Dorf, der sich für sie interessiert. Tupu sagt, sie muss ihn bald heiraten, und dann werden sie es vielleicht ertränken.«
Er runzelte die Stirn. »Es?«
»Das Kind. Dein Kind.«
Tristan erbleichte. »Sie – erwartet ein Kind?«
Früher, in den ersten Wochen ihrer Beziehung, da hatte er manchmal daran gedacht, wie es wäre, mit ihr ein Kind zu haben. Sie hatten sich oft genug geliebt, in den duftenden Obsthainen oder oben in den Bergen, an den bewaldeten und bemoosten Hängen des Mafane, eingehüllt vom aufsteigenden Abenddunst. Ja, er hatte sich ein Kind von ihr gewünscht, ein Mädchen. Doch jetzt, wo sie getrennt waren, war ein Kind ein grausamer Scherz.
»Es muss nach dem Sturm passiert sein«, erläuterte Ivana. »Kurz vor eurer Trennung.«
Hier, dachte Tristan, es war genau hier entstanden, im Sand der Palauli Bay, als Tuila noch ihre Blüte hinter dem linken Ohr trug, als sie sich von ihm verabschiedete, ohne dass er es merkte, als er noch glaubte, sie werde Tupus Gebot missachten. Er hatte sie nicht gut gekannt – oder sich etwas vorgemacht. Sie war Samoanerin, sie wusste, wohin sie gehörte. Und brachte dafür Opfer.
Und nun bekam sie sein Kind.
Ivana konnte behaupten, was sie wollte, aber Tuila würde niemals ihr Kind ertränken, nicht einmal, wenn ihr künftiger Mann es befehlen sollte. Aber sie war in Gefahr. Tristan wusste von Fällen, wo von Weißen verlassene Frauen mit Kindern vor die Wahl gestellt wurden, ihre Bastarde zu ertränken oder von der Familie verstoßen zu werden. Nicht wenige konnten mit keiner dieser Alternativen leben und ertränkten sich zusammen mit ihren Sprösslingen.
Er bekam Angst um sie, und seine Sehnsucht nach ihr, die er wochenlang mühsam verdrängt hatte, indem er sich mit dem Haus und dem Ärger wegen Claras Intrige ablenkte, brach wieder in sein Bewusstsein.
»Ich will mit Tupu sprechen«, sagte Tristan. »Bitte richte ihm aus, er möge heute Abend Gast in meinem Haus sein.«
Ivana nickte und ging befriedigt schmunzelnd fort.
Tupu war, als er am Abend zur Palauli Bay kam, beeindruckt. Er hatte zwar von den Arbeitern gehört, dass es sich um ein faletele, ein großes Haus, handelte, dennoch hatte er sich keine richtige Vorstellung von den Ausmaßen gemacht. Bevor er mit Tristan hineinging, schritt er dessen Länge ab, und als er glaubte, sich verzählt zu haben, wiederholte er die Prozedur.
»Bewundernswert«, hauchte er. Natürlich kannte er die prächtigen Häuser in Apia, wo der Gouverneur und die reichen Händler wohnten, doch die sahen anders aus, fremd und protzig und hässlich angemalt. Dieses fale war etwas Besonderes, ebenso schlicht wie königlich, und er konnte sich von seinem Anblick nicht losreißen.
Doch Tristan drängte zu einem Gespräch, und Tupu folgte ihm in den rechten Teil des Gebäudes. Auch hier war Tupu überwältigt von dem, was er sah. Er war zum ersten Mal im Haus eines papalagi; nur die winzige Kapelle am Rande von Palauli kannte er, und so waren ihm diese vielen aus Holz gezimmerten Gegenstände fremd. Er griff nach einer Uhr in der Form eines Berges. Sie war aus einem ihm unbekannten Material, und er fingerte an ihr herum wie ein Affe an einer Nuss.
»Ich möchte von dir wissen«, fragte Tristan leicht ungeduldig, »ob Tuila oder unserem Kind irgendein Schaden droht?«
Tupu stellte die Uhr beiseite. »Hast du mir nichts anzubieten?«
»Wie bitte?«
»Etwas zu trinken. Wir bieten unseren Gästen kava an. Bieten die papalagi ihren Gästen nichts an?«
Tristan atmete tief durch und biss die Zähne zusammen. Dann gab er sich einen Ruck. »Ich habe mich noch nicht um so etwas kümmern können«, sagte er knapp. »Du kannst Wasser haben.«
»Und was ist das?« Tupu ging auf einen Bartisch zu, auf dem eine einzelne Karaffe stand.
»Gin«, erklärte Tristan. »Das bist du nicht gewöhnt, das ist nichts für dich.«
Tupu grinste Tristan an. »Ich hätte gerne etwas davon.«
Tristan schenkte ihm widerstrebend ein Glas ein.
»Manuia«, rief Tupu, »oder wie ihr sagt: Prost.« Tupu trank das Glas in einem Schluck leer. Er hustete zweimal, dann ächzte er wohlig. »Gin, ah. Die Engländer trinken Gin, nicht? Sie waren hier, bevor ihr gekommen seid, und vor den Engländern waren die Amerikaner da und vor denen die Holländer. Ich frage mich manchmal, wer nach euch kommt, nach den Deutschen?«
Tristan straffte sich und atmete erneut tief durch. Er merkte natürlich, dass Tupu ihn mit dieser Bemerkung hatte treffen wollen, aber er dachte zu wenig kolonialistisch, als dass ihm solche Provokationen etwas ausmachten. Außerdem hatte er ganz andere Sorgen.
»Reden wir über Tuila«, sagte er. »Ich möchte nicht, dass sie einen Mann heiraten muss, der ihr befiehlt, unser gemeinsames Kind zu ertränken.«
Tupu, der noch nie in einem Sessel gesessen hatte, genoss es, sich in einen fallen zu lassen und darin ausgiebig zu räkeln. Dann bat er um einen weiteren Gin.
»So, das reicht jetzt!«, rief Tristan, packte Tupu kräftig am Arm und zog ihn aus dem Sessel hoch. Einen Moment lang standen sie so dicht beieinander, dass sich ihre Nasen fast berührten, und ihr Blick verschmolz ineinander.
»Ich war bisher ausgesprochen geduldig, Tupu, und ich habe dir und deiner Familie immer Freundschaft entgegengebracht, aber ich schwöre dir, wenn Tuila oder meinem Kind, geboren oder ungeboren, irgendetwas zustößt, dann wirst du mich nicht mehr wiedererkennen.«
Ohne ihren Blick voneinander zu lösen, standen sie sich weiterhin gegenüber, doch Tupu entzog sich langsam und vorsichtig Tristans Griff, so als könne die nächste Bewegung seinen Tod bedeuten.
Schließlich wich Tupu einen Schritt zurück und senkte den Blick. Er hatte nachgegeben, Tristan hatte diesen Streit für sich entschieden. Aber Tupus großer Augenblick kam ja erst noch. Gut, er hatte den Bogen eben etwas überspannt, sich allzu selbstherrlich gefühlt angesichts des Triumphes, der ihm bevorstand. Es war besser, harmlos und bescheiden aufzutreten. Vorläufig.
»Ich habe mich dumm benommen«, entschuldigte er sich. »Es hat mir Spaß gemacht, dich ein wenig zappeln zu lassen, das tut mir Leid. Aber du wirst mir schnell verzeihen, wenn ich dir sage, dass ich mir das mit eurer Heirat noch einmal überlegt habe, jetzt, wo Tuila ein Kind erwartet.«
Tristans Stimmung schlug sofort um. »Überlegt«, fragte er hoffnungsvoll.
»Ja. Dieses Kind, dieses Haus und deine Sorge um Tuila haben mich überzeugt, dass du tatsächlich immer für sie da sein wirst. Eine öffentliche Hochzeit, die dir so viele Schwierigkeiten machen würde, ist nicht mehr nötig.«
Tristan fiel ein Stein vom Herzen. »Ist das wahr?« Er umarmte ihn. »Ich danke dir. Es gehört sehr viel Mut dazu, eine Entscheidung, die man getroffen hat, zu korrigieren. Du bist ein mutiger Mann, Tupu.«
Tupu lächelte. »Danke. Und du auch, denn ich habe gehört, du hast deine Verlobung mit einer weißen Frau rückgängig gemacht. Da wurde mir endgültig klar, dass du Tuila ein guter Mann sein wirst, auch ohne öffentliche Heirat. Ich habe mit dem neuen Missionar gesprochen, in Pataivai.«
»Ordinarius Löblich.«
»Ich habe ihn gefragt, ob er eine Trauung auch heimlich durchführen könnte. Und er sagte, dass es jedem Paar freisteht, wie öffentlich es eine Hochzeit gestaltet. Er muss die Heirat in ein Buch eintragen, aber Bücher, sagt er, können nur sprechen, wenn man sie aufschlägt.«
Tristan stutzte. »Ich kann dir nicht ganz folgen, Tupu. Meinst du damit, ich soll Tuila heimlich zur Frau nehmen? Das wäre aber doch – das ist doch Betrug.«
»Der Missionar sagt, nein.«
»In den Augen der Kirche ist es natürlich kein Betrug, aber in den Augen des Gesetzes sehr wohl. Ich habe dir erzählt, dass es unter Strafe steht, wenn ein Deutscher eine Samoanerin heiratet.«
»Nur, wenn es herauskommt. Aber ich schwöre, das wird nicht passieren. Meine Lippen werden verbunden sein. Nicht einmal Ivana weihe ich ein, nicht einmal meine Mutter. Außer dem Missionar, den beiden Kirchenfrauen und mir wird niemand je davon erfahren.«
Tristan war bei dieser Sache nicht wohl. Wenn niemand je von der Hochzeit erfahren würde, wozu dann überhaupt heiraten? Tuila und er brauchten so etwas nicht, sie liebten sich auch ohne priesterlichen Segen. Andererseits hatte er immer darauf gewartet, dass Tupu ihm einen Schritt entgegenkam, nun konnte er seinerseits nicht stur auf seiner Position beharren! Tuila erwartete ein Kind von ihm, sie liebte ihn noch immer, und sie vertraute auf seine Liebe. Er durfte sie jetzt nicht enttäuschen, er durfte sie nicht der Obhut eines anderen Mannes überlassen und das Kind einer ungewissen, vielleicht sehr kurzen Zukunft aussetzen, einem elenden Tod, und das alles nur, weil er sich weigerte, dass ein Priester das Kreuz über ihnen schlug.
»Dann aber noch heute Abend«, sagte Tristan. »Jetzt gleich.«
Ein breites Grinsen zog sich über Tupus Gesicht. »Morgen Abend«, korrigierte er. »Heute ist Neumond. Da habe ich schon etwas vor.«
In Neumondnächten schien es Tupu, als sei er, wenn er auf der Spitze der Pulemelei-Pyramide saß und auf seine Kameraden von den Mau wartete, den Sternen viel näher. Er konnte sie fast greifen, und manchmal streckte er tatsächlich die Hand nach ihnen aus. Hier oben war er frei, fast wie ein Vogel. Die Wipfel der Muskatbäume waren auf Augenhöhe mit ihm. Er konnte weit sehen, bis zum endlosen Schatten des Meeres und die ganze Südküste entlang mit ihren Buchten und der schweren und lauten Brandung. Er wusste ungefähr, wo unter den Bäumen versteckt die Dörfer lagen, Palauli, Vailoa, Satupa’itea, Sili und Pataivai, er sah ihre Feuer, kleine verlorene Lichtpunkte im ewigen Schwarz wie ein Spiegelbild des Neumondhimmels.
Vor den Geistern der unbetrauerten Toten fürchtete er sich nicht mehr. Längst war er ihr Diener geworden. Der nie ruhende Wind, rauschend und singend, der ihm hier oben durch die Haare wehte, als wolle er ihn emportragen, das waren ihre Klagen; sie wollten, dass dieses Samoa wieder den Samoanern gehörte. Die Feuer auf der Erde und die Sterne im Himmel, der Wind über dem Meer und die Bäche in den Bergen, das alles sollte nur Teil derer sein, die es schätzten und verehrten, liebten und achteten. Die Geister des Waldes erhoben ihre Stimme zu Tupu. Sie forderten von ihm, die Fremden und alles, was sie hierher gebracht hatten, zu hassen und zu vernichten, und sie verlangten, dass er dafür log und betrog und seine eigene Familie hingab, ja, sich selbst hingab, wenn es sein musste. Von allen Mau, die ihnen und nicht dem Christengott dienten, verlangten sie das.
»Morgen bin ich der Schwager eines papalagi«, flüsterte er in den Wind, damit die Geister es hörten. »Er wird mich schützen, weil er meine Schwester liebt, und meine Schwester liebt mich. Und wir teilen ein Geheimnis, der Fremde und ich. Nichts blendet stärker als die Liebe, und nichts bindet fester als ein gemeinsames Geheimnis. Ja, er gehört mir und meinen Kameraden – und damit gehört er euch.«
Ein gewaltiges Singen hob an, eine Böe streichelte Tupus Körper, und er fühlte sich wieder wie ein Vogel über Samoa, dem Heiligen Land der Geister.
Für Tuila war es wie ein schwereloser Traum. Der Missionar, ganz in Weiß mit gelber Schärpe, erteilte das eheliche Sakrament in der unverständlichen Sprache der Kirche. Neben ihr stand eine Nonne und lächelte sie die ganze Zeit über an, und die andere reichte dem Ordinarius feierlich alle Gegenstände, die er brauchte. Tristan, zu ihrer Rechten, hielt ihre Hand. Seine Augen glänzten, doch er versuchte, es vor allen zu verbergen, indem er jedermanns Blick mied und zu Boden sah, auf den Sand hinter der Missionsstation von Pataivai.
Tuila selbst fühlte sich wach und klar wie nie zuvor. Alle Sorgen, die sie sich gemacht hatte, seit sie Tristan kannte, alle Trauer seit ihrer Trennung, alle Verzweiflung, seit sie wusste, dass sie ein Kind erwartete von dem Mann, den sie liebte, aber nicht besitzen durfte, waren verschwunden, weggeblasen wie Staub vom Wind. Eine prächtige Blüte des Flammenbaums schmückte ihr linkes Ohr und würde fortan immer dort leuchten. Der Himmel sah auf sie herab und freute sich mit ihr. Scharen von Möwen segelten mit dem Passat über die Küste, und ein Kakadu, der auf der Suche nach Beeren war, flatterte während der schlichten Zeremonie von Busch zu Busch und brachte die Anwesenden mit seinem Gekrächze so manches Mal zum Lachen.
Sie war wieder die Frau, die sie gewesen war, bevor ihr Zweifel wegen Tristans Liebe gekommen waren; sie stellte der Zukunft keine Fragen, sondern ließ sie bedenkenlos in ihr Leben eintreten, so wie es die Art aller Polynesier war. Die Liebe zu einem Fremden, zu jemandem, den sie nicht hatte einschätzen können, hatte für kurze Zeit die samoanische Melodie des Lebens in ihr unterbrochen. Doch nun war sie wieder in ihrem gewohnten Rhythmus zu hören. Die Zukunft besaß für Tuila nichts Ungewisses oder gar Schreckliches, sie duftete süß und strömte heran wie der Passat.
Statt eines Ringes legte Tristan ihr ein Geflecht aus tiefblauen Waldblumen um den Hals, und sie erwiderte die Gabe. Ordinarius Löblich schlug das Kreuz. Dann küssten sie sich. Schwester Bertha mit ihren starken Armen erdrückte Tuila beinahe vor Freude, und Schwester Dorothea begann ein samoanisches Lied anzustimmen, in das alle außer Tristan, der es nicht kannte, einfielen.
Tupu stand ein wenig abseits, so als gehöre er nicht hierher, und Tuila musste ihn erst herbeiwinken. Er kam und gratulierte, vermied es aber, mit dem Ordinarius oder den Nonnen zu reden oder ihnen in die Augen zu sehen. Wie versprochen, hatte Tupu weder Ivana noch Vaonila über die Heirat unterrichtet, sondern lediglich erzählt, dass er zugestimmt habe, dass Tristan und Tuila in einem eigenen Haus wohnen würden. Diese Heimlichkeit war das Einzige, was Tuila ein wenig betrübte, denn sie hätte ihre Mutter allzu gern eingeweiht, doch sie sah ein, dass es für Tristan besser war, wenn sie nichts wussten und somit auch nicht versehentlich etwas ausplaudern konnten.
Ordinarius Löblich drückte Tristan zum Abschied die Hand und blinzelte ihm freundlich zu.
»Keine Sorge, ich und die Schwestern werden diese Hochzeit behandeln wie eine Beichte, mein Lieber. Auf bald.«
Schwester Bertha und Schwester Dorothea winkten Tuila nach, als sie mit ihrem Gatten und ihrem Bruder Richtung Palauli aufbrach.
Zum ersten Mal sah sie das Haus, in dem sie mit Tristan und dem Kind leben würde. Staunend schritt sie über die Veranda, streifte herum und befühlte die Möbel, füllte die Räume in Gedanken mit den Dingen, die sie liebte und hier haben wollte, zarte, farbige Stoffe, die an den offenen Fenstern wehen sollten, große geölte Holzgefäße für die Abendtoilette und kleine Blumengestecke, um auch die wenigen, düsteren Winkel des Hauses leuchten zu lassen. Schnitzfiguren für das Kind vielleicht. Und Obstschalen.
»Weißt du, was schön wäre?«, fragte sie Tristan und schlang ihre Arme um seinen Nacken.
Er lächelte. »Na, was denn?«
»Eine Obstplantage. Direkt hinter dem Haus.«
»Gute Idee, Vögelchen.«
»Heute gehen alle meine Wünsche in Erfüllung.«
Er sah ihr tief in die Augen. »Ich wollte, alles wäre so einfach. Aber ich bin noch immer Offizier, und die nächste Zeit wird …«
»Oh, nicht schon wieder den Himmel grau machen, Tristan. Sag, bist du nicht glücklich? Was sollte uns denn jetzt noch bekümmern, was denn? Unser Kind wächst in mir heran, wir sind Mann und Frau, wir lieben uns.« Sie neckte ihn ein wenig: »Wir lieben uns doch, oder?«
»Natürlich liebe ich dich. Und natürlich bin ich glücklich.«
»Siehst du. Und dieses wunderbare Haus ist wie ein Versprechen der Zukunft. Wir werden immer hier leben, Tristan. Und unser Kind wird auch immer hier leben. Wir werden Pflanzer. Überall um das Haus herum werden Papayas stehen und …«
»Moment. Papayas?«
»Aber sicher.«
»Warum keine Mangos?«
»Mangos kleckern.«
Er lachte. »Sie tun was?«
»Kleckern. Ihr Saft tropft auf den Boden und macht ihn klebrig. Es ist kein Vergnügen, durch eine Mangoplantage zu laufen. Ich will Papayas.«
»Und was ist mit Kokos?«
»Kein Kokos, das hat jeder. Papayas.«
»Dann sollst du Papayas kriegen.«
»Siehst du, alle meine Wünsche gehen heute in Erfüllung, ich habe es dir ja gesagt. Ich habe einen Kirchensegen bekommen, ein Haus, Papayas … Aber das Beste ist der Mann, den ich gekriegt habe, das Beste bist du.«
»Das wollte ich hören«, sagte er und küsste sie. Dann sanken sie langsam auf die Planken der Veranda. Keiner von ihnen sprach. Sie zogen sich gegenseitig aus, betrachteten ihre Körper. Tristan drückte sein Gesicht auf ihren Bauch, der noch nichts von dem Kind ahnen ließ, und bedeckte ihn mit Küssen. Sie lehnte sich zurück. Seine Hände fuhren durch ihre Haare und packten sie, als wolle er damit diesen Tag, diese Minute festhalten.
Am Nachmittag, als sie gerade von einem kurzen Bad im Pazifik zurückkamen, hörten sie undeutliche Stimmen aus dem linken Flügel des Hauses, der bisher von Tristan noch nicht eingerichtet worden war.
»Was ist das?«, fragte Tuila.
»Ich weiß nicht. Eigentlich dürften keine Arbeiter mehr da sein. Vielleicht sollte ich meine Waffe holen.«
»Sei nicht albern«, erwiderte sie. »Es werden bloß ein paar Neugierige sein.«
Er hatte kein gutes Gefühl. So schaulustig Samoaner auch waren: Ohne Erlaubnis des Hausherrn betraten sie fremdes Eigentum nicht. Außer den Mau.
»Trotzdem, ich werde die Pistole holen. Sicher ist sicher. Warte hier, ja? Rühr dich nicht vom Fleck.«
Sie nickte, und er rannte ins Haus und holte die Pistole. Als er zurückkam, war Tuila gerade dabei, den linken Flügel zu betreten.
»Verdammt«, fluchte er und spannte den Hahn. Konnte sie nicht vorsichtiger sein? Er rannte hinter ihr her und holte sie ein, bevor sie den fremden Stimmen nahe gekommen war. »Lass mich vorgehen«, flüsterte er.
»Sie reden nicht mehr«, stellte sie fest.
Tatsächlich schwiegen die Unbekannten. Stattdessen waren nun Geräusche zu hören, als würden Gegenstände hin und her bewegt.
Als Tristan und Tuila nahe dem Raum waren, aus dem die Geräusche kamen, reckte er seinen Kopf um die Ecke und erkannte – Tupu, Ivana und Vaonila, die dabei waren, allerlei Gebrauchsgegenstände aus Körben zu holen.
Tief atmete er durch und steckte die Pistole weg. »Es ist deine Familie«, erklärte er Tuila und betrat im nächsten Augenblick den Raum. Ein wenig ärgerlich sagte er: »Ihr habt uns erschreckt. Wir dachten schon …«
»Tristan dachte schon«, berichtigte Tuila und umarmte ihren Bruder.
»Was dachtest du?«, lachte Tupu und bemerkte die Pistole im Gurt. »Dass wir Wildschweine wären.«
Während Tuila ihre Mutter und Ivana begrüßte, nahm Tristan seinen Schwager beiseite und fragte mit einem Blick auf die halb ausgepackten Körbe: »Was tust du hier eigentlich?«
»Sieht man das nicht? Wir packen aus. Das ist natürlich noch nicht alles. Ich wollte dich fragen, ob du mir dabei helfen kannst, die Matten aus dem fale in Palauli hierher zu holen. Ohne dein Pferd wird der Umzug eine mühsame Angelegenheit.«
Tristan glaubte zuerst, er müsse irgendetwas falsch verstanden haben. Hatte Tupu wirklich Umzug gesagt? War sein Schwager jetzt übergeschnappt?
»Du kannst hier nicht einziehen, Tupu.«
»Warum?«
»Warum?«
»Ja, warum? Ich weiß, ihr papalagi braucht für jede Kleinigkeit ein eigenes Zimmer, sogar zum Lesen und zum Rauchen. Aber selbst für deine Verhältnisse hast du genug Platz. Du und Tuila, ihr wohnt im rechten Teil, Ivana, Moana und ich im linken. Meine Mutter bleibt in Palauli, sie will es so.«
»Daran solltest du dir ein Beispiel nehmen. Deine Mutter weiß, dass man sich nicht uneingeladen irgendwo einquartiert. Ich sage dir noch einmal: Ihr könnt hier nicht wohnen. Das Haus ist groß, ja, aber ich habe es für Tuila und mich gebaut und für die Kinder, die wir haben werden. Außerdem will ich hier arbeiten, vielleicht Gäste einquartieren. Du warst zu voreilig, Tupu. Du hättest mich vorher fragen sollen, bevor du …«
Tuila unterbrach ihn. »Was hat mir Ivana eben erzählt?«, rief sie strahlend. »Du hast Tupu und Ivana gebeten, hier zu wohnen?«
»Ich – nein, das …«
»Du hast es gewusst, von Anfang an«, lachte sie. »Deine Ahnungslosigkeit, die Pistole – das alles war nur gespielt, du Strolch. Oh, was für eine schöne Überraschung! Danke!« Sie fiel ihm um den Hals. »Nun sind fast alle meine Lieben ganz nahe bei mir. Das wird eine wunderbare Zeit.«
Sie schwieg kurz und sah abwechselnd ihren Mann und ihren Bruder an. »Ja, das wird ein wunderbares Leben.«