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Ein Blick auf das Ufer genügte, und Evelyn kam es vor, als sei sie von der Hölle direkt ins Paradies geraten. Als sie vor neunundzwanzig Stunden in die Maschine am Frankfurter Flughafen gestiegen war, hatte sie den Rest dessen zurückgelassen, was ihr noch etwas bedeutete, und der kleine Koffer, den ihr ein Junge nun abnahm und sorgsam in das Boot legte, war alles, was sie mit sich führte.
Das Wasserflugzeug schaukelte auf den sanften Wellen, aber mehr noch wurde Evelyns Standfestigkeit durch die zwei Martinis erschüttert, die sie vor einigen Stunden auf nüchternen Magen getrunken hatte.
»Talofa«, begrüßte der Junge sie und half ihr mit seiner bronzefarbenen Hand, den Schritt auf das geräumige, vom Sonnendach beschirmte Boot zu wagen. Ihr folgten noch vier weitere Passagiere, doch Evelyn achtete nicht auf sie. Wieso auch, angesichts dieser farbigen, duftenden, unbekannten Welt! In Scharen jagten fliegende Fische dahin, die im Gegenlicht funkelten wie Wasserstrahlen, und nur wenige Meter über ihnen schlugen schreiende Seeschwalben wilde Kapriolen. Die Küste, ein smaragdgrüner Blättermantel hinter einem Geflecht aus Sand, Felsen und umgestürzten Bäumen, war nur zwei Steinwürfe entfernt. Hier und da schimmerte das Weiß der Häuser hindurch.
Das Handy meldete sich mit den ersten Takten von Beethovens fünfter Sinfonie. Dazu blinkte die Anzeige auf: Carsten. Evelyn zuckte kurz zusammen. Ihr erster Impuls war, das Gespräch anzunehmen und Carsten alles zu erklären. Er war geduldig. Er würde ihr keine Vorwürfe machen, nicht, wenn sie ihm alles sofort erklärte. Aber dann erinnerte sie sich an das Versprechen, das sie sich selbst gegeben hatte: Du darfst auf keinen Fall mit ihm sprechen. Wenn du es trotzdem tust, gehst du vor die Hunde. Du hast nur noch diese eine Chance.
Nach kurzem Zögern drückte sie seinen Anruf einfach weg. Die Anzeige ließ sich noch einen Moment Zeit, dann verblasste sie ganz langsam, und für Evelyn war es, als stürbe ihre Ehe in diesem Moment.
Sie seufzte erschöpft, lehnte sich an die Bootswand und tauchte ihren Arm in das warme Wasser. Es war so klar, dass die bizarren Tupfer der Korallen bis zur Oberfläche leuchteten, und vereinzelt ragten die Buckel der Riffe aus diesem bunten Teppich hervor, gekrönt von Kindern, die geduldig auf ihre Angelschnur schauten. Je näher das Boot seinem Bestimmungsort kam, desto durchscheinender wurde der Küstenwald und gab den Blick frei auf Villen mit Spitzgiebeldächern im Kolonialstil, von schlanken Holzsäulen umgürtete Veranden, auf runde Pavillons inmitten satter Rasenflächen …
Erneut meldete sich das Handy, diesmal mit einem einfachen lauten Piep. Eine Nachricht von Carsten erschien auf der Anzeige, nur drei Worte: Wo bist du?
Sie schluckte, zitterte. Diesmal drückte sie die Botschaft nicht weg, sondern ließ das Handy einfach ins Wasser fallen. Der Passagier neben ihr sah sie wie eine Verrückte an, der samoanische Junge hingegen strahlte und beobachtete mit ihr zusammen, wie das Ding, angestupst von neugierigen Fischen, langsam vom Türkis der Lagune verschluckt wurde.
Der Junge nickte ihr anerkennend zu und lobte auf Englisch: »Bravo. Sie sind die erste Touristin, die so etwas macht.«
»Ich bin keine Touristin«, sagte sie. Sie war keine Touristin. Sie war auf der Flucht.
Die Südsee. Evelyn hatte sich nie wirklich ein Bild von dieser riesigen Region gemacht, in die Europa gewiss dreißigmal hineinpasste. Sie musste an einige Bücher denken, die sie vor vielen Jahren gelesen hatte, zum Beispiel an Somerset Maughams Erzählungen, an Defoes Robinson Crusoe und an die Meuterei auf der Bounty. Holländische Seefahrer mit Abenteurerblut hatten vor vier Jahrhunderten erste Berichte über diese Welt geliefert, und etwas später kreuzte Kapitän Cook zwischen den Hunderten kleiner Inseln des Pazifiks – und fand hier den Tod. Und hatte Astrid Lindgren ihre Pippi Langstrumpf nicht zeitweise in die Südsee geschickt? Aber was war die Südsee? Tahiti, fiel ihr ein, Fidschi vielleicht noch. Paul Gauguin hatte die Südsee gemalt, irgendein Schlagersänger hatte sie in den Siebzigern mit »Bora, Bora« besungen, wo immer das genau lag. Klischees bestimmten ihre Vorstellung: scheu kichernde Mädchen in Baströckchen, Trommeln, Menschenfresser. Die gab es heute natürlich nicht mehr, so viel war Evelyn klar, dennoch führte sie diese Reise auf unbekanntes, unvertrautes Terrain.
»Aggie Greys?« Kaum hatte Evelyn das Boot verlassen und die Hafenmole der samoanischen Hauptstadt Apia betreten, sprach sie ein Mann an. Er wies auf ein Cabrio-Taxi und wiederholte seine Frage: »Aggie Greys?«
Sie schüttelte den Kopf. »Evelyn Braams«, stellte sie richtig, was sie im nächsten Moment blödsinnig fand, weil ihr Name für einen samoanischen Taxifahrer absolut unerheblich war.
Er dachte offenbar genauso darüber, denn er fragte kichernd: »Ob Sie zum Aggie Grey’s wollen, meinte ich. Das erste Hotel in Apia. Sie sehen aus, als würden Sie dort logieren wollen.«
Evelyn konnte sich nicht vorstellen, dass die weiblichen Gäste des ersten Hotels am Ort allesamt übernächtigt, verheult und angetrunken aussahen, denn das war sie an diesem späten Vormittag. Sie hatte von den letzten neunundzwanzig Stunden vielleicht vier geschlafen. Und fünf geweint, jene fünf in Sydney, wo sie sich vor den Blicken der Leute verbergen konnte und in einer Flughafenlounge zwei Martinis getrunken hatte. Angesichts ihrer Verfassung waren zwei Cocktails geradezu lächerlich wenig gewesen, aber sie hatten fürs Erste beruhigt.
Das Kompliment des Taxifahrers bezog sich wohl ausschließlich auf ihre Kleidung. Sie hatte zwar in Windeseile gepackt, unbewusst aber eines ihrer schönsten Stücke angezogen, ein hellblaues Kostüm, das besonders gut zu ihren blonden Haaren und graublauen Augen passte. Auch ihr blasser Teint bot sich für leuchtende, helle Farben an. Sie sind ein Frühlingstyp, hatte eine Kosmetikerin Evelyns Aussehen vor einigen Jahren zusammengefasst. Heute fühlte sie sich eher wie der Typ »Spätherbst«.
»Warum nicht?«, sagte sie schulterzuckend. Sie hatte kein Zimmer reserviert, und es war schwül und windstill, ein Klima, in dem man sich nicht wünscht, einen Koffer durch ein Gewirr von Gassen zu schleppen. Vermutlich war es das Beste, sich der Obhut eines Taxifahrers anzuvertrauen.
Die Fahrt im offenen Wagen entlang der Hafenstraße war erholsam, vorbei an einer blitzsauberen Holzkathedrale und einem Glockenturm. Vor einigen Regierungsgebäuden hing die samoanische Flagge schlapp an riesigen Fahnenmasten herunter. Apia war nicht das, was man sich in Deutschland unter einer Hauptstadt vorstellte, es war klein und wenig geschäftig. Einige Radfahrer kreuzten die Fahrbahn. Ein paar Frauen erledigten Einkäufe auf dem Fischmarkt, begleitet von Kindern, die zwischen den Ständen Versteck spielten, während die Männer hinter dem Steuer rostiger Lieferwagen mit Getriebeproblemen saßen, die Radios mit Südseemusik laut aufgedreht, und noch rostigere Gegenstände von A nach B fuhren. Die meisten Leute unterhielten sich einfach miteinander und lachten in einer Weise, als sei es ihre liebste und häufigste Beschäftigung.
Neidisch blickte Evelyn auf diese freudetrunkenen Menschen.
Das Aggie Grey’s lag an der Küstenpromenade, mit Blick auf die Bucht von Apia. Cremefarben, zweistöckig und mit zahlreichen Holzveranden im Kolonialstil versehen, sah es aus, als könne einem Somerset Maugham, der Schriftsteller des britischen Empire, jederzeit entgegenkommen und seinen Sonnenhut höflich lüpfen. Im Foyer verstärkte sich Evelyns erster Eindruck noch. Von einem Bild an der Wand lächelte Aggie Grey höchstselbst herab, eine alte Dame mit Blume im Haar, Rüschenbluse und gelblichen Zähnen, porträtiert wie eine Lady. Darunter war ein Schild angebracht: 1897–1988. Obwohl Mrs. Grey seit nunmehr siebzehn Jahren tot war, spürte man in ihrem Hotel noch immer den angestaubten Charme jener Zeit, in der sie groß geworden war. Wer hier abstieg, hatte entweder keine Geldsorgen oder ein Faible für Kolonialromantik.
»Talofa. Herzlich willkommen«, begrüßte eine samoanische Rezeptionistin Evelyn. Sie war dezent geschminkt und bewegte ihre Hände mit größter Eleganz, als sie das riesige Buch vor sich aufschlug. »Was kann ich für Sie tun?«
»Ich möchte ein Zimmer, möglichst mit Blick auf die Bucht. Geht das?«
»Sie haben reserviert?«
»Nein.«
»Sie haben nicht vorbestellt?«
»Nein.«
»Das ist …« Die Rezeptionistin zögerte einen Augenblick, blätterte in dem Buch und fügte hinzu: »… bedauerlich.«
Dumm traf es eher, dachte Evelyn. Mitten in der Nacht und angetrunken einen folgenschweren Entschluss zu fassen ist noch verständlich, aber ihn gleich bei Sonnenaufgang in nüchternem Zustand in die Tat umzusetzen, das konnte man mit einigem Recht dumm nennen. Vor allem, wenn er ans andere Ende der Welt führte.
Andererseits, sie würde vielleicht nicht mehr leben, wenn sie in Frankfurt geblieben wäre.
Die Rezeptionistin klappte das Buch vor sich langsam zu. »Ich bedaure außerordentlich«, entschuldigte sie sich umständlich und faltete die graziösen Hände wie zum Gebet. »Wir sind die nächsten vier Nächte ausgebucht. Eine Konferenz der Südpazifikstaaten, Sie verstehen.«
»Oh«, sagte Evelyn und verstand tatsächlich: Dutzende von Delegierten, deren Assistenten und die Assistenten dieser Assistenten, würden mit schwarzen Aktenkoffern durch die Hotelhallen ganz Apias strömen. In dieser Hinsicht war Samoa wohl wie die übrige Welt auch. »Dann werden wohl die anderen Hotels ebenfalls keine freien Zimmer mehr haben, oder?«
»Ich fürchte, nein. Zumindest nicht in Apia.«
»Wie heißt die nächste Stadt, und wie weit ist sie entfernt?«
Die Rezeptionistin lächelte mild. »Apia ist die einzige Stadt Samoas.«
Die Rezeptionistin reichte ihr geduldig ein Faltblatt mit einer Landkarte und einigen Informationen darauf. Danach befand Evelyn sich auf der Hauptinsel Upolu, fünftausend Kilometer östlich von Australien. Die noch etwas größere Schwesterinsel Savaii war nur wenige Kilometer entfernt, und beide Inseln waren zusammengenommen etwa so groß wie Luxemburg. Apia mit seinen dreißigtausend Einwohnern war tatsächlich die einzige Stadt, die übrigen hundertsiebzigtausend Samoaner lebten glücklich auf viele Dörfer verteilt, die vornehmlich die Küsten säumten. Touristisch war Samoa wenig erschlossen, das hieß: kaum Hotels. Einziger Lichtblick für Evelyn war, dass – laut Faltblatt – die meisten Samoaner Englisch sprachen und der Alphabetisierungsgrad fast achtundneunzig Prozent betrug.
Wenigstens, so spottete sie im Stillen über ihre Lage, würde man sie in Wort und Schrift verstehen, wenn sie hungrig und durstig über die Insel zog und um Nahrung und Obdach bettelte.
Natürlich konnte sie sofort wieder abfliegen. Aber sie war müde, nicht nur vom Flug, sondern noch mehr von den schrecklichen Ereignissen am Vorabend ihres Fluges.
Und sie brauchte endlich etwas zu trinken.
»Wenn es Ihnen weiterhilft«, meinte die Rezeptionistin, »dann telefoniere ich ein bisschen auf der Insel herum. Irgendwo gibt es bestimmt noch freie Zimmer.«
Einen solchen Service war Evelyn von deutschen Hotels nicht gewohnt, außer gegen Gebühr – im Voraus selbstverständlich. Doch die samoanische Rezeptionistin machte nicht den Eindruck, als verlange sie eine Gegenleistung. Sie blinzelte Evelyn freundlich zu, griff nach dem Telefon und wählte die erste Nummer.
»Sie müssen nicht hier in der Halle warten«, sagte sie, als ahne sie Evelyns Drang nach einem weiteren Martini.
»Haben Sie eine Bar?«
»Die Bar ist um diese Uhrzeit leider geschlossen, doch in der Teelounge bedient man Sie gerne. Diesen Gang entlang, immer geradeaus. Ich passe solange auf Ihr Gepäck auf.«
Evelyn atmete tief durch.
»Danke«, sagte sie. Sie fühlte sich elend, elend wie nie.
Marlon Brando sah Evelyn mit durchdringendem Blick an. Neben ihm zeigte David Niven sein süffisantes Lächeln, und Gary Cooper sah aus, als würde er sie im nächsten Moment über den Haufen schießen wollen. Die tropengelben Wände der Teelounge waren gespickt von signierten Fotos berühmter Schauspieler, die irgendwann einmal im Aggie Grey’s Tage und Nächte verbracht hatten.
Der samoanische Kellner verbeugte sich leicht. Sein rundes, braunes Gesicht hob sich von der weißen Uniform ab. Ein kleines Schild mit einem für Evelyn unaussprechlichen Namen darauf klemmte wie mit der Wasserwaage ausgemessen auf seiner Brusttasche. »Talofa. Was darf ich Ihnen bringen, Madam?«
»Talofa«, erwiderte sie höflich. »Einen Tee, bitte.«
»Sehr gern.«
»Oder warten Sie. Mit einem Schuss Rum, bitte.«
»Ein Sandwich dazu?«
»Nein, danke.«
Für den Bruchteil eines Moments schien es ihr so, als überlege er, wie hoch er den Schuss Rum in einem Elf-Uhr-Tee dosieren solle, der noch dazu ohne etwas zu essen getrunken wurde, aber das war wohl nur Einbildung. Er verbeugte sich neuerlich. Das Geräusch seiner Schritte wurde vom dicken Teppichläufer verschluckt.
Außer ihr saßen nur noch vier andere Gäste im Raum. Zwei ältere weiße Damen unter rosa Hüten fütterten ihren Terrier mit Kekskrümeln, und ein ebenso alter Mann hob zwischendurch das Gesicht aus der Zeitung, beobachtete die Damen dabei und schüttelte verständnislos den Kopf. An Evelyns Nachbartisch schließlich saß ein Mann ihres Alters, Mitte dreißig, dessen Finger leise auf die Tischplatte trommelten. Er war der Kontrapunkt in diesem harmonischen Ensemble der Lounge, denn er schien mit seinem unrasierten Kinn und den aufgekrempelten Hemdsärmeln irgendwie nicht hierher zu gehören.
Das Handy klingelte. Instinktiv griff Evelyn in die Handtasche, bevor ihr klar wurde, dass ihr eigenes Handy allenfalls noch in der Lagune vor Apia klingeln konnte und außerdem nicht die amerikanische Nationalhymne als Rufton hatte.
Der Mann an ihrem Nachbartisch zog das Handy mit ruhiger Hand aus der Gürteltasche seiner Jeans und sagte: »Ray Kettner. Hallo, George, Sie sind schwer zu verstehen, Philadelphia ist weit weg. Ja, legen Sie los.« Er hatte eine dunkle, entschlossene Stimme, die gut zu seinem leicht cowboyhaften Aussehen passte.
Schweigsam hörte er zu, was sein Gesprächspartner zu erzählen hatte, gab keinen Laut von sich, wippte aufgeregt mit den Beinen und trank in fast exakten Abständen von einigen Sekunden aus der Kaffeetasse, die er jedesmal etwas zu laut aufsetzte. Sobald er eine Hand frei hatte, fuhr er sich durch die kurzen Haare.
Auf Evelyn, die nur einen Schritt von ihm entfernt saß, wirkte er wie das männliche Pendant zu ihrem eigenen Zustand.
Als der Kellner kam, nickte sie ihm dankbar zu. Nacheinander platzierte er die weiße Wedgwood-Tasse, die Zuckerdose und das Silberkännchen vor ihr, in einer Weise, als sei eine andere Formation des Geschirrs undenkbar. Dann fügte er noch einen kleinen Teller mit einer Hand voll Biskuits hinzu. »Eine Empfehlung des Hauses.«
Sie wartete, bis er gegangen war. Die Biskuits ignorierend, griff sie sofort nach dem Tee und schenkte sich eilig ein. Sie führte die randvolle Tasse mit beiden Händen zum Mund und schluckte den heißen, dampfenden Inhalt hinunter.
Endlich, war das Erste, das sie dachte, obwohl es noch einen Moment dauern würde, bis es ihr spürbar besser ginge. Der Rum kam nur schwach zur Geltung; offenbar hatte der Kellner sich für eine sparsame Dosierung entschieden.
Evelyn ärgerte sich. Sie ärgerte sich über den Tee, den Kellner und über sich selbst. Konnte sie nicht einfach ihren Aufenthalt in diesem Südseeparadies genießen? Konnte sie – und dabei fielen ihr die Beschimpfungen ihrer Schwiegermutter wieder ein –, konnte sie sich nicht einfach zusammenreißen? Doch wie oft hatte sie das schon versucht! Und war immer gescheitert. Sie hatte von Schmerzpatienten gehört, die sich narkotisieren ließen, bis sie ihren Körper nicht mehr spürten, so als sei er ein Feind, den man loswerden müsse. Manche von ihnen hassten ihren Körper. So ähnlich wie jenen kranken Menschen erging es ihr, nur dass sie nicht ihren Körper hasste, sondern ihre Gedanken und Gefühle. Sie ertrug sie nicht. Sie ertrug nicht, dass sie immer nur an eines denken konnte, an jedem Tag, zu beinahe jeder Stunde. Sie konnte dem Unerträglichen nicht entgehen, niemals, es war immer präsent – es war jetzt präsent.
»Oh, mein Gott«, flüsterte sie vor sich hin und umkrampfte die Armlehnen des Sessels. Sie lehnte sich zurück und japste nach Luft. Rasch wollte sie sich einen weiteren Tee einschenken, doch ihre Hände zitterten so stark, dass der Mund des Kännchens hin und her wackelte wie ein Seismograph. Selbst als sie beide Hände zu Hilfe nahm, wurde es nicht besser.
Schließlich war es ihr egal. Sie goss sich den Tee ein, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, dass ein guter Teil auf die Untertasse und sogar das Tischtuch tropfte, und trank die Tasse in einem Zug leer. Es half nichts. Nicht einmal das half ihr noch. Gegen die Erinnerung war man machtlos.
Wie von ferne, wie aus einem Traum mit gebremster Geschwindigkeit, hallte die Stimme ihres Tischnachbarn heran.
»Ich weiß, dass diese Erhöhung nicht geplant war, George. Hier haben sich neue Umstände ergeben. Ich habe jetzt ein geeignetes Areal gefunden. Sogar ein größeres als erwartet. Deswegen brauche ich die Erhöhung. Ja. Ja, natürlich gab es in der Vergangenheit Probleme, aber doch keine großen, und bisher hat die Bank ihr Geld noch immer … Das ist mir doch klar, George, und ich würde Sie doch nicht um … Okay, vielen Dank. Ab morgen zur Verfügung? Danke nochmals. Wiederhören.«
Und mit einer Sekunde Verzögerung, die Evelyn wie eine Stunde vorkam, sagte er: »Scheißkerl.«
Die Welt drehte sich. Evelyns Kopf wackelte. Die Tränen und die Übelkeit stiegen in ihr hoch. Dann die Wut. Die Wut auf alle, die Schuld hatten. Die Wut auf sich selbst.
»Madam?«
Jemand rüttelte sie.
»Madam? Geht es Ihnen nicht gut?«
Als sie Ray Kettner wahrnahm, kniete er neben dem Sessel und befühlte mit seiner schmirgelrauen Hand ihre Stirn.
»Sie sind ganz nass. Sieht aus, als hätten Sie einen Anfall gehabt. Sind Sie gegen irgendetwas allergisch? Sind Sie Diabetikerin?«
Sie lächelte kurz. Seine besorgte Stimme tat ihr gut.
»Nein, ich … Es geht schon wieder. Danke für Ihre Hilfe, Mr. …«
»Ray.«
Evelyn lächelte erneut, und Rays Augen, die klein und hell wie weiße Pfefferkörner waren, strahlten sie an. Sie fand, dass die extrem kurz geschnittenen, braunen Haare ihm etwas unnötig Hartes verliehen, denn in ihm steckte scheinbar ein Gentleman. Er band das Halstuch ab, das sie aus alten Westernfilmen kannte und das dem von Gary Cooper auf dem Foto an der Wand ähnelte, tauchte es in ein Glas Mineralwasser und betupfte damit ihre Stirn und Wangen.
»Danke, aber das ist nicht nötig«, wehrte sie höflich ab. »Mir geht es schon wieder sehr gut. Alles in Ordnung. Danke.«
»Gerne geschehen, Madam.«
»Ihr Tuch …«
»Bitte behalten Sie es«, sagte er.
»Aber ich …«
Eine junge Frau in Shorts ging auf Ray Kettner zu, beäugte Evelyn kurz und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen, wobei sie sich auf seinen Schultern abstützte. Sie war zierlich und ausgesprochen hübsch, und sie hätte problemlos in einer Neuverfilmung der »Bounty« mitspielen können. Doch schien sie mehr an westlichem Chic interessiert zu sein, wozu allerdings ihre flache, typisch polynesische Nase nicht recht passte.
Während Evelyn sich erholte, unterhielten sich die beiden.
»Alles in Ordnung, Raymond?«, fragte sie. »Du siehst irgendwie abgespannt aus.«
»Alles in Ordnung, Ane!«, erwiderte er und zog eine Zigarette aus der Brusttasche seines knittrigen Karohemdes. »Ich hatte ein paar geschäftliche Probleme, aber alles ist geklärt. Wo warst du so lange?«
»Ich habe die Fähre von Savaii verpasst und musste auf die nächste warten.«
Erfragte ungeduldig: »Und? Hast du mit ihr gesprochen?«
Sie nickte. »Vorhin. Aber sie will nicht, dass du bei uns wohnst. Schade. Es wäre einfach super gewesen.«
»Schon«, räumte er ein. »Aber was ich meinte, ist: Verkauft sie an mich?«
»Ach so. Nein. Sie will nicht verkaufen.«
Er drückte die eben erst angezündete Zigarette aus, als wolle er einen Nagel mit bloßen Fingern in die Wand pressen. »Mist.«
»Was macht das schon?«
»Überall Ärger und Verzögerungen.«
»Wichtig ist, dass meine Großmutter Moana an dich verkauft.«
»Und das ist juristisch nicht anfechtbar?«
Die junge Frau schüttelte sanft den Kopf. »Nein, nein. Das Land einschließlich Haus und Plantage gehört beiden zu gleichen Teilen, Ili und Moana. Wenn Moana verkaufen will, darf sie das nach unserem Recht tun, und da Ili sie nicht auszahlen kann, wird auch ihr Anteil mit verkauft.«
»Ob sie will oder nicht?«
Ane nickte. »Ich hoffe noch immer, dass Ili zur Besinnung kommt, aber ich rechne kaum damit. Moana und sie hassen sich. Und ich habe auch nicht das beste Verhältnis zu ihr.«
»Zu dieser Ili? Warum?«
»Ach«, seufzte Ane, »da gibt es eine unschöne Geschichte, die mit meinem toten Vater zu tun hat. Das ist jetzt nicht wichtig.«
»Warte, wenn sie erst mein Angebot hört, dann wird sie es sich schon noch überlegen.«
Ane seufzte. »Sie lebt in einer anderen Welt, Ray. Sie hängt an dem Land.«
»Würde doch uns allen so gehen mit dem Land, auf dem wir unser Leben verbracht haben. Aber ich kümmere mich ja gut darum. Das Hotel wird kein Betonklotz oder so. Es wird sich wunderbar in die Landschaft einfügen, man wird es kaum sehen. Und der größte Teil des Landes bleibt völlig unberührt. Ein paar Wanderpfade werde ich anlegen, das ist alles. Am Ende wird es deiner Ili so gut gefallen, dass sie ein Zimmer will.«
Er lachte und stieß Ane aufmunternd an. »So, und jetzt zeig mir dein wunderschönes Lächeln und sag mir, wann ich deine Oma treffen kann, um die Konditionen zu besprechen.«
Sie lächelte tatsächlich. »Moana? Schon morgen Mittag. Sie kocht sogar für dich.«
»Na, hoffentlich macht mein Magen das mit«, scherzte er.
Ihre Laune besserte sich zusehends. »Wenn es etwas gibt, das ich an Samoa mag, dann die Küche. Papageifische, geschmorte Früchte, Limetten, etwas Huhn, wenig Gewürze – und alles frisch. Um deinen Magen brauchst du dir keine Sorgen zu machen.«
Er stand auf. »Dein Wort in Gottes Gehörgang. Also morgen Mittag, ja?«
»Wo willst du hin? Ich dachte, wir amüsieren uns noch ein bisschen.« Sie lächelte. »Ich kenne die schönsten und einsamsten Strände auf der Insel. Den ›Return to Paradise Beach‹, zum Beispiel, wo Gary Cooper und Roberta Hayes 1952 den gleichnamigen Spielfilm gedreht haben.«
»Tja, weißt du«, sagte er, »Paradise Beach klingt wirklich toll, und Roberta Hayes habe ich immer schon gemocht, aber leider habe ich noch viel zu erledigen, Telefonate und so. Eine Firma leitet sich nicht von allein.«
Sie akzeptierte die Absage. »Na schön, dann verbummele ich eben den restlichen Tag, auch wenn ich nicht weiß, womit. Ich bin mal wieder völlig blank.«
»Was ist mit dem Vorschuss, den ich dir gestern gegeben habe?«
Sie streckte die von Sandalen eingefassten Füße unter dem Tisch hervor. »Das«, sagte sie.
»Wo ich herkomme, reichen zweihundert Dollar für vierzehn Tage.«
»Und wo ich hinwill, gerade mal eine Stunde.«
Mit leichtem Kopfschütteln drückte er ihr einen grünen Dollarschein in die Hand. Sie betrachtete die Banknote in einer Weise, als sehe sie darin ein Paar Ohrringe schimmern oder vielleicht das Pflegeset, auf das sie schon seit Wochen scharf war.
»Schönen Tag noch«, sagte er, und warf Evelyn einen kurzen Blick zu, bevor er die Lounge verließ.
In diesem Moment betrat die Rezeptionistin den Raum und kam mit eleganten Schritten auf Evelyns Tisch zu.
»Ich habe ein Zimmer für Sie gefunden, das einzige freie auf ganz Upolu, wie es scheint. Es ist auf der Südseite der Insel, im Bongo Beach Club. Die vermieten Zimmer normalerweise nur per Pauschalbuchung, aber ich habe Ihre Situation erklärt, und nun machen sie eine Ausnahme.«
Bongo Beach Club, wiederholte Evelyn im Geiste. Das hörte sich nach einem Hotel an, in dem von früh bis spät Animationsprogramme abliefen und laute Hulamusik am Pool gespielt wurde – nicht gerade das, was sie sich erhofft hatte. Aber was war das überhaupt? Was brauchte sie eigentlich? Es gab nur eine ehrliche Antwort darauf: Sie wusste es nicht. Sie hatte sich noch keine Gedanken darüber gemacht. Sie war aus einem Zuhause geflohen, das ihr keine Sicherheit mehr gab, sondern sie nach und nach zerstörte, einem Zuhause, wo sie nicht umschlossen und beschützt war, sondern wo sich alle davongestohlen und sie allein zurückgelassen hatten, einem Zuhause, das voll war von stummen Vorwürfen, verstohlenen Blicken und Menschen, die sich in ihrer Gegenwart unwohl fühlten, von einem Zuhause, das sie in einen bleiern schweren Alltag zwingen wollte, den sie nicht mehr ertragen konnte oder wollte. Vielleicht konnte man sagen, dass sie das Gegenteil dessen brauchte, was sie in Frankfurt zurückgelassen hatte: Stärke, Geborgenheit, Mut. Doch das war schon zu viel verlangt. Sie war eine Ertrinkende gewesen, die sich im letzten Moment auf eine Insel hatte retten können und die froh war, etwas zu haben: eine Zukunft.
Aber ob der Bongo Beach Club das Richtige für den Anfang dieser Zukunft war?
»Wenn Sie sich dafür entscheiden«, fuhr die Rezeptionistin fort, die auf eine Antwort wartete, »kommen Sie zu mir nach vorn, dann rufe ich Ihnen ein Taxi.«
Lächelnd ging sie davon.
Über die Ablenkung durch Ray Kettner und dessen anschließendes Gespräch mit der jungen Frau hatte Evelyn völlig ihren Zustand vergessen. Ihre Hände zitterten nicht mehr.
Sie nahm zehn Tala, die samoanische Währung, die sie beim Zwischenstopp in Australien getauscht hatte, aus ihrer Handtasche und legte sie auf das Silbertablett. Tief durchatmend und sich in das Schicksal fügend, dass sie nicht in diesem schönen Hotel bleiben konnte, sondern in einen lauten Strandclub ziehen musste, stand sie auf.
Die junge Frau, mit der Ray Kettner gesprochen hatte, trat in diesem Moment an sie heran. »Entschuldigung«, begann sie. »Ich habe eben zufällig gehört, dass Sie ein Zimmer suchen. Ich könnte Ihnen eines vermitteln.«
»Tatsächlich?«
»Es ist allerdings in einem Privathaus auf der Nachbarinsel Savaii. Sehr ruhig, wenig Komfort, dafür mit Blick auf die Palauli Bay. Wir leben zu dritt im Papaya-Palast, drei Frauen, und Sie wären der einzige Gast.«
»Papaya-Palast? Ein schöner Name.«
»Also, was ist nun mit dem Zimmer?«
Evelyn fand, dass alles besser als der Bongo Beach Club wäre. »Ich nehme es.«
Die junge Frau lächelte zufrieden und streckte Evelyn die Hand hin. »Super. Ich bin Ane.«
»Evelyn.«
»Super. Ach übrigens, bevor ich es vergesse, ich müsste Ihnen eine Vermittlungsgebühr berechnen. Sagen wir zwanzig … äh … fünfundzwanzig Dollar.«
»Ich habe nur Euro oder Tala«, erwiderte Evelyn.
»Euro klingt gut«, sagte Ane und zog Evelyn die Geldscheine aus der Hand. »Dann holen wir noch Ihr Gepäck und können gehen.« Ihr Blick fiel auf Evelyns fleckiges Kostüm und den verschütteten Tee auf dem Tisch. »Ein Missgeschick?«, fragte sie.
»Ja«, erwiderte Evelyn zögerlich. »Ein Missgeschick.« Überwältigend!
Das war das erste Wort, das Evelyn einfiel, als sie aus Anes Jeep stieg. Vor ihr erstreckte sich sattgrüner Rasen von der Größe eines halben Fußballfeldes, umsäumt von Fliederbüschen, gelben Rosen und Riesenfarnen. Ginstersträucher wuchsen in Abständen auf der hügeligen Fläche, die sanft zur Küste abfiel, und die Bucht war von einer Kolonie schlanker, teils lustig verbogener Kokospalmen verdeckt. Das Meer war von hier aus nur eine rauschende Ahnung, doch manchmal blitzte vom Wasser reflektiertes Sonnenlicht zwischen den Stämmen hindurch. Das Haus selbst verdiente seinen Namen zu Recht. Der Papaya-Palast war gewiss zehnmal größer als die Häuser, die Evelyn auf der Fahrt hierher in den Dörfern gesehen hatte. Er bestand nur aus dem Erdgeschoss und hatte eine lang gestreckte, rechteckige Form. Von drei Seiten abgeschirmt von Bäumen und Sträuchern, fügte er sich wunderbar in die üppige Landschaft ein. Obwohl er stark an die samoanische Bauweise erinnerte, vollständig aus dunkelbraunem Holz gebaut und mit einer dicken Schicht getrockneter Palmwedelblätter abgedeckt war, schien er dennoch einen kolonialen Einschlag zu haben. Die Pfosten, welche die Überdachung rund um das Haus stützten, ragten, anders als bei den üblichen samoanischen Konstruktionen, zu viert aneinander gebunden auf, was sie eher wie Säulen erscheinen ließ. Jede dieser Säulen war mit Kokosfaser umwickelt, und an jeder zweiten rankten sich orangefarbene oder dunkelrote Bougainvilleen empor, deren Verästelungen bis zum Dach reichten und bei jedem Luftzug munter wippten.
Insgesamt, resümierte Evelyn, wirkte das Anwesen wie die Südseevariante einer prächtigen Villa.
»Sie müssen sehr froh sein, hier zu leben«, sagte Evelyn, ohne den Blick vom Gebäude zu nehmen.
»Es ist nett«, seufzte Ane. »Jedenfalls schöner als die offenen Hütten, die hier sonst stehen.«
Evelyn war aufgefallen, dass die Samoaner ihre Häuser rund und offen bauten, ohne Wände und Türen, was bedeutete, dass jeder Einblick in das Familienleben der Nachbarn bekommen konnte. Zwar gab es Matten, die wie Rollos heruntergelassen werden konnten, aber sie deckten nur die Intimbereiche ab, das übrige Haus blieb offen. Der Papaya-Palast hingegen hatte zwar einen offenen Mittelteil, durch den man bis zur Rückseite des Hauses blicken konnte und der den rechten und linken Flügel voneinander trennte. Die beiden Flügel jedoch waren mit Wänden und Türen versehen.
In der rechten Flanke öffnete sich eine Tür, und eine Frau trat heraus. Evelyn schätzte sie auf Mitte siebzig. Sie war füllig, aber nicht dick, und obwohl sie ihre schwarzgrau melierten Haare wie ein Schneckenhaus hochgesteckt trug, war sie einen halben Kopf kleiner als Evelyn. Die Farbe ihrer Haut erinnerte eher an die von Spaniern oder Griechen als an das Bronze der Einheimischen. Noch irgendetwas anderes an ihr wirkte europäisch, doch Evelyn konnte auf die Schnelle nicht bestimmen, was es war.
»Großtante«, sagte Ane und ging auf sie zu. »Darf ich dir Evelyn vorstellen. Ich habe sie getroffen, als sie auf der Suche nach einem Zimmer durch Apia irrte.«
Evelyn fand diese Beschreibung reichlich übertrieben. Sie war nicht durch Apia geirrt, sondern hatte Tee in einem Luxushotel getrunken, als sie Ane begegnet war. Aber ihr kam der Gedanke, dass die alte Großtante vielleicht erst überzeugt werden musste, einen Gast aufzunehmen, und da Evelyn nicht die Absicht hatte, zum zweiten Mal an diesem Tag einen Ort, der ihr gefiel, zu verlassen, grinste sie lieber verschmitzt zu der dramatischen Erklärung Anes, als ihr zu widersprechen.
»Alle Hotels sind ausgebucht, stell dir das vor«, fuhr Ane fort. »Irgendeine Konferenz. Und Evelyn hat kein Zimmer reserviert. Ich weiß, du wolltest eigentlich niemanden aufnehmen, aber was hätte ich tun sollen, als sie mich ansprach? Natürlich habe ich sofort an dein Gästezimmer gedacht.«
»Natürlich«, erwiderte die Großtante und bedachte Ane mit einem halb ärgerlichen, halb nachsichtigen Blick. Dann reichte sie Evelyn die Hand und lächelte.
»Ich bin Ili Valaisi«, stellte sie sich selbst vor. »Einfach Ili für Sie. Und jetzt gehen wir erst einmal hinein. Ich zeige Ihnen, wo Sie wohnen werden.«
Evelyn blickte noch einmal zur verschlossenen Tür ihres Gästezimmers, bevor sie den Koffer öffnete. Vier Flaschen goldgelben Weißweins, den sie noch schnell in Apia an der Anlegestelle gekauft hatte, funkelten sie an, doch sie versuchte, sie zu ignorieren, und widmete sich erst dem übrigen Inhalt.
Sie packte nacheinander alle Kleidungsstücke aus und sortierte sie in die Regale und Schränke. Es waren schöne Möbel, die meisten aus dunklem Holz mit alten Narben, die darauf hinwiesen, dass diese Gegenstände schon eine lange Geschichte hinter sich hatten. Lange brauchte sie dafür nicht: eine weiße Jeans, eine dunkle Stoffhose, T-Shirts, zwei Blusen, Wäsche, sogar ein eisgrünes Herrenhemd von Carsten, das sie versehentlich gegriffen haben musste. Nach wenigen Handgriffen war der Koffer leer – bis auf die vier Flaschen. Kurz blieb ihr Blick auf ihnen haften, dann sah sie sich unruhig in dem kleinen quadratischen Raum um, betrachtete zum dritten und vierten und fünften Mal das Rattanbett mit dem geschwungenen Kopfteil, das Moskitonetz, das sich wie ein Baldachin darüber wölbte, die Schubladenkommode und den breiten Armlehnstuhl, der aussah, als habe schon Kapitän Cook höchstpersönlich auf ihm gesessen. Sie konnte sich jedoch ablenken, so viel sie wollte – immer wieder kam sie auf den Weißwein zurück.
Bei der Berührung einer Flasche mit Alkohol bekam Evelyn das Gefühl, als nehme sie eine geladene Waffe in die Hand. Einerseits vermittelte eine Waffe die Sicherheit, dass man auf alles vorbereitet sei, und manche Menschen durchströmte dabei sogar ein Gefühl der Befriedigung und Macht. Andererseits erweckte eine Waffe die Befürchtung, dass sie sich irgendwann gegen einen selbst richten könnte. Geladene Waffen waren unheimlich. Man fühlte sich damit nie ganz wohl und nie völlig unwohl. So etwa erging es ihr mittlerweile mit einer simplen Flasche Wein, und sie wusste, dass das ein schlechtes Zeichen war. Die übelsten Zerstörungen in ihrem Leben waren nicht diejenigen, die plötzlich über sie hereingebrochen, sondern diejenigen, die ganz langsam in ihren Alltag eingesickert waren.
Wieder spürte sie das gallige Gebräu von Erinnerungen und Gefühlen in sich aufsteigen. Sie zog Ray Kettners Tuch hervor und tupfte sich damit die Stirn ab. Verzweifelt legte sie sich auf das Bett.
Es klopfte an der Tür.
Evelyn zuckte heftig zusammen und spürte im nächsten Augenblick, wie sich ihr Rock mit Weißwein voll sog. Sie hatte eine Flasche geöffnet und ein großes Wasserglas von der Anrichte gefüllt, leer getrunken und erneut gefüllt. Nun tropfte alles auf ihre Kleidung und den Boden. Der typische Geruch von Weißwein erfüllte binnen Sekunden das ganze Zimmer.
Ilis Stimme drang dumpf durch das Holz: »Ist alles in Ordnung?«
»J-ja«, rief Evelyn.
»Darf ich kurz hereinkommen?«
»Einen Moment, bitte.«
Sie öffnete rasch das Fenster und kippte den restlichen Inhalt des Glases hinaus, steckte den Korken in die halb leere Flasche, schlug die Decke darüber, schloss den Koffer und schob ihn eilig unter das Bett.
Sie räusperte sich. »Ja bitte?«
Ili steckte ihren großen runden Kopf durch einen Spalt. »Ich habe Sie doch nicht etwa geweckt?«
»Nein, ich habe mich nur ein wenig von den Strapazen der Reise erholt.«
»Gefällt Ihnen das Zimmer, Evelyn? Leider ist es nicht allzu groß.«
»Es ist sehr hübsch«, antwortete sie.
»Fein. Möchten Sie einen Tee mit mir trinken? Es ist eigentlich schon zu spät dafür, beinahe Abend, aber ich dachte, wir können uns ein wenig kennen lernen. Natürlich nur, wenn Sie möchten.«
Evelyn lächelte. »Gerne. Ich komme sofort. Eine Minute.«
»Lassen Sie sich bitte Zeit. Davon haben wir auf Samoa genug.«
Die Tür schloss sich wieder.
Evelyn stöhnte auf. Das war gerade noch einmal gut gegangen.