12

Evelyn ging mit Carsten zum Mount Mafane. Die Luft war schwül und schwer vom letzten Regenguss, Sonnenstrahlen trockneten die Tropfen auf den Blättern. Eine seltsame Stille lag über den Hängen; die Natur hielt während der Hitze Mittagsschlaf. Lediglich die unermüdlichen Bienen summten zwischen den weit geöffneten Blüten der Oleander und Bougainvilleen umher.

Es war nicht die beste Stunde, um auf Savaii einen Berg zu besteigen, und Evelyn keuchte. Solche Anstrengung war sie nicht mehr gewohnt. Früher hatte sie mit Carsten, einen riesigen Rucksack auf dem Rücken, die Provence, Burgund und das Loire-Tal durchwandert. In den letzten Jahren hingegen war sie untätig gewesen und lustlos, während Carsten wenigstens joggte und sich in Fahrradsprints verausgabte. Daher hielt er beim Aufstieg spielend mit, wohingegen sie wie ein alter Kessel keuchte.

Kurz unterhalb des Gipfelplateaus machten sie an einem Wasserfall Halt und tranken das klare Wasser aus der hohlen Hand.

Carsten benetzte Gesicht und Nacken und sagte, wie gut ihm die Erfrischung tue. Seit sie sich in Apia getroffen hatten, bemühte er sich, entspannt und fröhlich zu wirken, was, wie sie aus den mehr als fünfzehn Jahren ihres Zusammenlebens wusste, auf eine gegenteilige Gemütslage hindeutete.

Er ist unsicher und verkrampft, dachte sie. Ich habe ihm neulich Abend Angst gemacht, und er spürt, dass ich nicht einfach nur mit ihm spazieren gehen will.

Die Entscheidung zu diesem Ausflug hatte sie bereits letzte Nacht getroffen und nur noch das Morgengrauen und Moanas Bestattung abgewartet. Nach der Zeremonie und dem Gespräch am Grab hatte Ili müde und grüblerisch gewirkt, und außerdem hatte Evelyn angenommen, dass Ili diese letzten Stunden, die ihr bis zum Ablauf des Ultimatums blieben, im Papaya-Palast verbringen wollte. Daher wollte sie Ili mit dem Wagen nach Hause bringen und dann nach Apia fahren.

Kaum hatten sie sich ins Auto gesetzt, sagte Evelyn: »Sicher möchten Sie allein sein. Ich werde ein wenig herumfahren. Vielleicht sehe ich mir die Pulemelei-Pyramide an oder die Lavafelder im Norden. Am Nachmittag bin ich dann wieder zurück.«

Ili hatte jedoch an ihrem Kleid herumgefingert und erwidert: »Danke, Evelyn, aber es wäre mir lieber, Sie würden mich nach Salelologa fahren.«

»Zum alten Ben?«

»Nein, zur alten Fähre, bitte.« Dabei hatte sie auf eine nervöse Art gelächelt und hinzugefügt: »Ich habe noch etwas in Apia zu erledigen.«

»Tja, ich eigentlich auch.«

»Schön«, hatte Ili gesagt, »dann lassen Sie uns fahren.«

Es war Evelyn ganz recht, dass Ili nicht genau sagte, wohin sie wollte, das enthob auch sie einer Erklärung. Sie wollte ihr keine falschen Hoffnungen machen.

Die Überfahrt war weniger schweigsam gewesen als gedacht. Ili hatte geredet wie eine Fremdenführerin, ständig auf Upolu und Savaii gezeigt und irgendetwas erklärt. Erst als sich die Fähre dem Ziel genähert hatte, war Ili stiller geworden und hatte nur noch ein einziges Mal das Schweigen gebrochen.

»Nicht wahr, ich hatte viel, viel Glück, gerade hier mein Leben verbracht zu haben und nicht anderswo?«

»So ist es«, hatte Evelyn ehrlich bestätigt. »Sie gehören hierher.«

Ili hatte sie mit gütigen Augen angesehen. »Und Sie auch, Evelyn. Das weiß ich.«

Jetzt, als sie sich zusammen mit Carsten an der schattigen Wasserstelle erfrischte, gingen ihr Ilis letzte Worte noch einmal durch den Kopf und vermischten sich mit all den anderen Wahrheiten, die sie seit ihrem Eintreffen in Samoa erkannt hatte. Neulich Abend, im Ananas, war sie nach der Auseinandersetzung mit Carsten kurz davor gewesen, ihre Ehe über Bord zu werfen. Um ihn zu bestrafen wäre sie bereit gewesen, mit diesem Schritt auch sich selbst zu bestrafen, und damit wäre sie in einen Teufelskreis geraten. Ili hatte Recht gehabt. Man konnte mit Problemen nur auf dreierlei Weise umgehen: sie anpacken, ihnen erliegen oder mit kindlichem oder gefährlichem Trotz darauf reagieren. Evelyn hatte vor, sie anzupacken. Je nachdem, wie ihr Gespräch mit Carsten verliefe, würde sich ihr Leben in die eine oder andere Richtung verändern. Eines war jedoch schon jetzt klar: Es würde sich verändern. Es würde nicht länger stillstehen.

Während er die Feldflasche auffüllte, sagte Carsten beiläufig: »Als du mich von Apia aus anriefst und ein Treffen vorschlugst, hatte ich keine Ahnung, dass wir einen Gipfel stürmen.«

»Ich habe dir gesagt, dass ich dir etwas zeigen will.«

»Und? Handelt es sich um eine schöne Quellnymphe, die wie hingegossen auf den Wasserkaskaden liegt?« Er stemmte die Arme in die Hüften und lächelte auf jene Weise, die sie immer schon am meisten gemocht hatte – ein wenig frech und verlockend.

Zugleich spürte sie jedoch seine Unruhe.

»Nein«, sagte sie, ohne auf seinen scherzhaften Tonfall einzugehen – was ihn noch unruhiger machte. »Nein, ich will dir etwas anderes zeigen. Zuerst möchte ich dir allerdings etwas sagen. Es fällt mir nicht leicht, aber – es muss sein.«

Er setzte sich wie ein folgsamer Schüler, wobei sein Blick gebannt auf ihr haften blieb.

»Als ich beschloss, aus Frankfurt zu fliehen«, begann sie und lief langsam auf und ab, »habe ich nicht gewusst, was ich tue. Es steckte keine Überlegung dahinter, kein Plan, und darum konnte Bianca mich auch nicht davon abbringen. Da ich selbst keine Argumente hatte, ließ ich mich auch nicht von ihren Argumenten zurückhalten. Irgendwo in einem Winkel meines Gehirns steckte vielleicht die Frage, wie ich etwas vergessen könnte, an das ich mich unbedingt erinnern will, und umgekehrt, wie ich etwas behalten kann, ohne dass es mich zerstört und ohne dass ich es vergessen muss, um mich zu retten. Aber in dem Moment, als ich mich ins Flugzeug setzte, war ich mir dieser Frage nicht bewusst, und ganz sicher hatte ich nicht die Absicht, ein anderer Mensch zu werden, nicht einmal, mich großartig zu verändern.«

Sie holte tief Luft und ging langsam in die andere Richtung. »Etwas jedoch – nenne es Schicksal, Vorsehung, Gott, Zufall, Unterbewusstsein oder sonstwas – hat es anders gewollt. Ich bin hier auf Samoa in etwas hineingeraten, das mich mehr als eine Woche lang in Atem gehalten hat. Zuerst habe ich es gar nicht begriffen, aber nach und nach bin ich von dem Land und seinen Menschen eingehüllt worden. Ili erzählte mir auf derselben Veranda, wo ihr deutscher Vater und ihre samoanische Mutter einst gesessen haben, deren Geschichte. Ane wollte mich für ihre Zwecke einspannen, es gab familiäre Auseinandersetzungen, Beschimpfungen, Verdächtigungen, den drohenden Verlust des herrlichen Landes, einen Brand und schließlich einen Todesfall. Ein tagelanges Rauf und Runter und Hin und Her. Und ich war mittendrin. Und letzte Nacht dachte ich plötzlich: Eigentlich, Evelyn, hast du dich nicht schlecht geschlagen. Ich meine, du hättest mich sehen sollen, wie ich hier ankam: angetrunken, blass, tollpatschig, ein Schatten der Frau, die ich vor vier Jahren gewesen war. Dann jedoch habe ich schlechte Botschaften überbracht, ein Feuer gelöscht und Ili nach besten Kräften geholfen, ihr Land zu behalten. Du hättest mich nicht wiedererkannt  – ich habe mich ja selbst nicht wiedererkannt. Ich hatte mir nicht vorgenommen, diese Dinge zu tun, aber in der jeweiligen Situation musste ich sie tun, und ich hatte überhaupt keine Zeit, mich nur noch mit mir zu beschäftigen. Nur einmal, Carsten, habe ich mich in den letzten Tagen wieder elend gefühlt, und das war nach unserem Gespräch in der Bar.«

Er schluckte und senkte den Blick.

Eine große Stille lag in der Luft, die Wolken hingen starr am Himmel. Es war, als hörten die Tiere und Bäume und selbst der Wind ihr zu.

»Ich meine das nicht als Vorwurf, Carsten. Das Thema ist viel zu ernst, um Dreckklumpen daraus zu machen und sie auf den anderen zu schleudern. Wenn ich sage, dass ich das Ananas mit zwei Flaschen Champagner verließ und in die alten Depressionen zurückfiel, so ist das eine Feststellung, nicht mehr – und nicht weniger. Die Zeit mit Ili dagegen hat mir gut getan. Sie braucht einen Menschen, der ihr hilft, und ich brauche Ili.«

Carsten schwankte zwischen Reue wegen des Auftritts im Ananas und Verärgerung wegen Evelyns letzter Bemerkung. Auch er wollte gebraucht werden.

»Ist dir eigentlich schon einmal der Gedanke gekommen«, sagte er, »dass diese Ili ein Objekt der Fürsorge für dich geworden ist? Dass du nur jemanden brauchst, den du umsorgen kannst wie eine …« Carsten unterbrach sich.

»Wie eine Mutter, sprich es ruhig aus. Ili als Ersatz für Julia, das meinst du doch, nicht wahr?«

Er nickte halbherzig. Anders als früher allerdings, als er das Thema Julia stets geschickt umschiffte, sprach er es diesmal offen an.

»Du magst diese Frau, gut, nichts dagegen. Du willst ihr über eine schwere Zeit helfen, auch gut. Aber du kannst nicht ewig hier bleiben. Und was passiert, wenn sie – was in ihrem Alter nicht ungewöhnlich ist – stirbt? Dann machst du dir wieder Vorwürfe, dann stehst du wieder vor dem Nichts, dann könnte dasselbe mit dir geschehen wie damals nach dem Tod unserer Tochter.«

»Du bist besorgt, das weiß ich. Vielleicht hast du Recht. Ich will nicht behaupten, dass ich schon alles verstehe, was mit mir passiert, aber Tatsache bleibt, dass ich zum ersten Mal spüre, die schwierigste Zeit hinter mir zu haben, und dieses Gefühl ist überwältigend. Es geht aufwärts, Carsten, daran will ich fest glauben.«

Sie blickte den Hang hinauf. »Hier habe ich etwas für dich«, sagte sie und zog ein dünnes Päckchen aus ihrer Hosentasche. »Es sind Briefe.«

»An mich?«

»An Julia.«

Carsten erblasste. Er sah das Päckchen mit einer Ehrfurcht an, als hielte er die Büchse der Pandora in den Händen. »Du hast … ihr Briefe … geschrieben?«

Leise bat sie ihn: »Ich möchte, dass du sie liest. Bitte, Carsten. In der Zwischenzeit gehe ich das letzte Stück auf den Mafane. Komm nach, wenn du fertig bist.«

Sie wartete seine Antwort nicht ab und stieg schnell den Pfad zum Gipfelplateau hinauf. Noch immer wehte kein Lüftchen. Die Landschaft stand wie ein gigantisches Gemälde vor ihr, nach Norden und Westen der sattgrüne Teppich der Berge und Wälder, nach Osten und Süden das blaue Meer, gesprenkelt von den kleinen hellen Punkten der Yachten und Boote, die hier kreuzten. Natürlich wusste sie, auf welchem Fleck sie stand. Ili hatte ihr von Tuilas und Tristans Platz auf dem Mafane erzählt und von der überwältigenden Kulisse, die sich hier bot. Für das, was Evelyn vorhatte, war der Mafane ideal.

Doch so weit dachte sie jetzt noch nicht. Carsten las in diesem Moment die Briefe, und Evelyn war in Gedanken bei ihm und ihrer Tochter. Bruchstücke dessen, was sie in den letzten Tagen geschrieben hatte, zogen an ihr vorbei:

Julia, ich bin gerade aufgestanden, der Tag ist noch jung und mein Kopf noch frei. Ich glaube, diese Zeit ist unsere Zeit. Mit dir zusammen gehe ich in den Tag, nehme dich mit … Vorhin ging ich durch die Plantage spazieren, und ich musste daran denken, welchen Spaß du mit diesen lustig aussehenden Papayabäumen gehabt hättest. Vergib mir, aber da musste ich weinen … Diese Welt ist so anders, Julia, dass man kaum glauben kann, dass es sie überhaupt gibt. Eine Zauberwelt, aber genau deswegen erreicht sie mich: Ich laufe durch den lauen Regen und spüre ihn auf meiner Haut; ich sehe die Feuer der Dämmerstunde und rieche den Duft der gekochten Brotfrucht; ich beobachte junge Frauen, die Blumen für die Abendtoilette sammeln, und lächele ihnen zu. Sonnenstrahlen erreichen wieder mein Herz, Julia, und ich weiß, dass du dich darüber freuen würdest. Du hast mich nie einsam sehen wollen, traurig und ziellos. Indem du gekommen und gegangen bist, hat sich mein Leben verändert, aber wenn aller Genuss und Lebenshunger für immer mit dir verschwände, wäre es so, als würdest du zweimal sterben. Du liebst mich, Julia, ich weiß das. Ich spüre es. Für uns beide werde ich wieder leben … Ili hat mir von den Seelen der Verstorbenen und Ungeborenen erzählt, von Seelen, die sich treffen und verbinden. Da habe ich an dich denken müssen, an deine Seele, und mir kam der Gedanke, dass deine Lebenskraft, die für siebzig oder achtzig Jahre ausgereicht hätte, unverbraucht geblieben und damit frei geworden ist, frei für andere, noch Ungeborene. Eine Menge Leute würden mich verrückt nennen, an so etwas zu glauben, mir gibt es ein gutes Gefühl, und nur das zählt … Ich habe heute gesehen, wie es ist, wenn eine Seele versteinert, starr und verbittert ist, oder wenn sich allenfalls eine harte Narbe über der Wunde bildet. Mir ist klar geworden, welche Chance darin liegt, sich auszusöhnen, nicht nur mit Menschen, sondern auch mit dem, was wir Schicksal nennen … Das Schicksal ist neutral, Julia, das habe ich jetzt verstanden. Es schließt Türen zum Glück und öffnet dafür andere, doch wir Menschen starren immerzu nur auf die verschlossene Tür, so dass wir die offenen überhaupt nicht wahrnehmen … Ich lerne gerade, die Erinnerungen zu beherrschen, anstatt sie über mich herrschen zu lassen. Der Gedanke an dich soll etwas Schönes sein, etwas Zauberhaftes, Berührendes, und nicht eine Faust, die mir ins Gesicht schlägt. Mein Schmerz um dich ist mächtig, aber meine Liebe zu dir ist mächtiger … Dein Vater ist da, und ich weiß nicht, wo ich mit ihm anfangen soll. Wenn er nur mit mir reden würde, ich meine, richtig reden, wenn er nicht immerzu diesen Eisenpanzer tragen würde! In all den Jahren seit du fort bist, habe ich viele, sehr viele Fehler gemacht, Julia, aber der Schlimmste war, dass ich immer glaubte, allein mit dir zu sein, schrecklich allein. Dass du, wo immer du bist, nicht nur eine Mutter hast, die an dich denkt, sondern auch einen Vater, daran habe ich nie gedacht. Jetzt fühle ich, dass du Carsten so liebst wie du auch mich liebst, und an dieses Band möchte ich anknüpfen. Du hättest, wenn du nicht gestorben wärst, uns beide an deiner Seite gewollt, Mutter und Vater, nicht bloß mich, und so willst du gewiss auch jetzt uns beide, Carsten und mich, haben, die für dich sehen, fühlen und dir die Bilder der Welt zeigen … Ich bin nicht mehr einsam, mein Schatz, ich habe dich wiedergefunden, und ich habe ein Leben wiedergefunden. Wir können nie auf eine normale Weise zusammen sein, doch meine Worte verbinden uns … Niemand wird je deinen Platz einnehmen, Julia, doch in einem Herzen darf nicht nur Platz für einen einzigen Menschen sein. Ich will mit dir lachen, mit dir singen, mit dir weinen. Und ich will alle Menschen, die das wollen, daran teilhaben lassen …

Plötzlich schlangen sich von hinten Carstens Arme um sie. Sie spürte seinen warmen Körper und brauchte sich nicht umzudrehen, um zu erkennen, dass er ihr näher war als seit langem. Er reichte ihr die Briefe, und sie drückte sie an die Brust.

»Du hast mir einen Schatz gegeben«, flüsterte er. »Etwas Großartiges.«

»Ja, ich weiß.«

»Würdest du diese Briefe jemals einem Menschen zeigen, den du – den du nicht liebst?«

Sie verneinte stumm.

Sein Atem strich über ihre Haare. »Und ich hatte schon geglaubt«, flüsterte er, »dass ich dich verloren habe, damals, zusammen mit Julia. Dass ich schlecht für dich bin.«

»Du bist nicht schlecht für mich«, widersprach sie. »Du, Carsten, du bist der Mensch, der mir fehlt.«

Sein Körper erzitterte, und sie merkte, dass er weinte.

Es war verrückt. Erst jetzt, vier Jahre später und am anderen Ende der Welt, erkannte sie, dass sie im Grunde überhaupt nichts mehr von Carsten wusste, nichts über seine Gefühle, seine Ängste, seine Trauer. Sie hatte immer angenommen, dass er es leichter habe, mit allem fertig zu werden, vielleicht weil er ein Mann war. Doch das war ein Irrtum gewesen. Er hatte es nicht leichter gehabt. Er hatte, tief in sich drin und auf eine andere, aber nicht weniger intensive Weise, jeden einzelnen Tag genauso gelitten wie sie. Vielleicht war er vor vier Jahren von einer inneren Stimme gewarnt worden, dass der Verlust seines Kindes ihn in eine Hölle reißen würde, wenn er stehen blieb und zurückblickte. Also war er losmarschiert, und Evelyn war erstarrt. Für ihn war sie mit ihrer Verzweiflung wohl so etwas wie eine Bedrohung gewesen, immer dann nämlich, wenn sie über Julia sprechen wollte. Jetzt erkannte sie, dass das, was ihn früher ausgemacht hatte, was sie geliebt hatte, nicht verschwunden und nie verschwunden gewesen war.

Doch die eigentliche Prüfung stand ihnen noch bevor, und Evelyn wusste, dass jetzt die Zeit dafür gekommen war.

»Ich habe dir die Briefe an Julia gezeigt«, begann sie nach einer Weile, »aber ich will dir noch etwas anderes zeigen. Dies hier.« Sie deutete nach Westen auf die bewaldeten Hänge. »Das alles ist Ilis Land. Es ist reich und bunt, voller Mangroven, Rhododendren, Muskatbäume und Orchideen, ein Stück Urzeit, mit keinem Geld der Welt aufzuwiegen. Hier gibt es Vögel, die nirgendwo sonst auf der Welt leben, und das Land ernährt noch immer seine Bewohner. Keine Konservenfabriken, keine Fischereiflotten. Die Einheimischen angeln und jagen den größten Teil ihres Essens oder pflücken es von den Bäumen. Klingt wie ein Paradies, nicht wahr?«

Er nickte.

»In den ersten Tagen nach meiner Ankunft«, fuhr sie fort, »war diese Fülle an Leben mir beinahe unheimlich. Ich habe sie bewundert, das schon, aber zugleich erschien mir diese lebendige Natur, die sich stets erneuert, wie eine Beleidigung. Meine Tochter war tot, mein Leben trostlos, doch hier grünte und leuchtete alles. Ich war neidisch. Da es mir schlecht ging, wünschte eine dunkle Stimme in mir, dass es anderen auch schlecht gehen müsse. Zum Glück war diese Stimme nicht sehr stark, doch ich denke, dass es vielen Menschen so geht, dass sie etwas zerstören wollen, weil in ihrem Leben etwas zerstört worden ist. Wer glücklich und mit sich im Reinen ist, nimmt anderen nichts weg, im Gegenteil, er gibt. Und da kommst du ins Spiel.«

Er wollte etwas sagen, aber sie war schneller. »Du und Ray Kettner. Allerdings interessierst du mich mehr, denn ich bin mit dir verheiratet und nicht mit Kettner.«

Ihr Ton wurde entschiedener. »Du hilfst dabei, den Regenwald zu fällen. Und was dann? Die Leute sollen deiner Meinung nach Kaffee anbauen. Von den erbärmlichen Gewinnen, die dabei für die Bauern abfallen, will ich erst gar nicht reden. Das eigentlich Dumme ist nämlich, dass Regenwaldböden nährstoffarm sind. Nach zwei bis drei Jahren gedeihen die Sträucher nicht mehr, und die Kaffeebauern sind genötigt, neue Flächen zu roden. Das geht immer so weiter, und da Tropenbäume äußerst langsam nachwachsen, ist die Insel in zwanzig Jahren kahl. Natürlich möchte es die samoanische Regierung so weit nicht kommen lassen, daher wird sie in sechs, sieben Jahren die Notbremse ziehen wollen. Doch das wird die Bauern nicht interessieren. Sie werden, weil sie dann gar keine andere Wahl mehr haben, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, die Waldstücke heimlich in Brand setzen und anschließend aufkaufen – damit sie zumindest zwei weitere Jahre Kaffee anpflanzen können. So läuft es in Brasilien, Guatemala, Kolumbien, überall dort, wo Tropenwälder stehen und Kaffee angebaut wird. Wenn dann irgendwann gar nichts mehr geht, wird man den Samoanern zynisch empfehlen, Rinderherden zu halten. Die gleichen Menschen also, die zwanzig Jahre vorher sehr gut auf und von ihrem Land gelebt haben, treiben dann Kühe über eine verödete Landschaft, nur um ein bisschen Geld zu verdienen, das sie brauchen, um sich Lebensmittel im Supermarkt zu kaufen. Das, Carsten, ist in meinen Augen geradezu pervers.«

Er schwieg einen Atemzug lang. »Woher weißt du denn das alles?«

»Ich war im einzigen Internet-Café von Apia und habe ein wenig recherchiert. Viele Umweltorganisationen haben detailliert nachgewiesen … »

Er wiegte skeptisch den Kopf. »Ich finde, die übertreiben. So ist das nun einmal im Handel.«

»Nein«, widersprach sie entschieden. »Handel ist, wenn man in Maßen nimmt und gleichwertig zurückgibt. Wer wie ein Raubritter von Land zu Land zieht und Schätze plündert, legal oder nicht, betreibt Ausbeutung. Siebzig Prozent der Regenwälder Südostasiens sind bereits gerodet, und jedes Jahr kommt allein in Indonesien eine Fläche von der Größe der Niederlande hinzu. Wenn Ray Kettner in Samoa Erfolg hat, wird er weiter nach Fiji ziehen, auf die Salomonen und so weiter. Er wird dabei eine Spur der Korruption hinterlassen, denn in seinem Geschäft wird ordentlich geschmiert, und in dieser Spur werden andere Konzerne ihren Erfolg suchen, riesige japanische Fischflotten und Walfänger zum Beispiel. Ein paar Inseln werden für den Tourismus verschont, um uns in Katalogen eine heile Welt zu zeigen, wie man das bereits in Indonesien, Malaysia, Brasilien und so weiter macht. Aber die anderen werden …«

»Evelyn, bitte«, sagte er mühsam. »Wohin soll uns das bringen? Besser, wir reden nicht länger darüber.«

»So wie wir vier Jahre lang nicht über Julia geredet haben?«

»Das ist nicht dasselbe!«, rief er erregt.

»Nein, das ist es nicht. Aber es ist etwas Ähnliches, denn es würde zwischen uns stehen, Carsten.«

»Ich verstehe nicht, wieso.«

Sie löste sich mit sanfter Gewalt aus seiner Umarmung. »Es würde zwischen uns stehen«, wiederholte sie. »Vorhin sagte ich, dass ich hier in etwas hineingeraten bin, aber eigentlich, Carsten, müsste ich wir sagen. Du bist ebenso Teil dieser Angelegenheit wie ich, ob es uns nun passt oder nicht. Wir können nicht so tun, als würde es Ili und Kettner und das Land nicht geben. Wir sind mittendrin.«

Er seufzte. »Ich kann Raymond Kettner genauso wenig leiden wie du, aber …«

»Das ist doch schon ein Anfang.«

»… aber er ist Kunde meiner Bank, versteh das doch.«

»Dann solltest du das ändern.«

»Wie bitte?«

»Carsten, ich habe dir vorhin ganz offen gesagt, wie sehr ich für uns einen Neuanfang wünsche. Aber das Leben ist keine Schiefertafel, über die man mit einem feuchten Lappen fährt und alles auslöschen kann, was bereits geschrieben wurde. Wir sind durch die Hölle gegangen, haben uns versteckt, haben uns verloren … Wir sind andere Menschen geworden, also müssen wir auch ein anderes Leben führen, sonst wird es nicht funktionieren, nicht für mich. Ich kämpfe um dich, siehst du das nicht? Aber du musst auch um mich kämpfen!«

Er starrte sie fragend an, und Evelyn konnte förmlich die Rädchen hören, die sich in seinem Kopf zu drehen begannen.

»Was heißt das?« In seiner Frage schien bereits ein Verdacht zu liegen.

Ein Windhauch strich über das Plateau und trug die harzige Feuchtigkeit der Bäume mit sich.

»Das heißt«, sagte sie, »dass ich hier auf Samoa bleiben werde. Für immer.«

 

An Tagen wie heute, an denen der Wind nicht vom Meer her blies, konnte man in der Plantage die fernen Glocken der Kirche von Palauli hören, zarte, zerbrechliche Klänge, die vom geringsten Rauschen des Blattwerks übertönt werden konnten. Ili liebte dieses Spiel der Geräusche. Als Kind hatten die Glockenschläge ihr die Mittagszeit angezeigt, wenn sie zwischen den Papayas spielte, und zur Dämmerung hatten sie sechsmal gemahnt, endlich nach Hause zu gehen. Natürlich hatte sie manchmal getrödelt, und wenn ihre Mutter sie dann fragend ansah, entschuldigte sie sich, indem sie einfach behauptete, die Glocken nicht gehört zu haben. Tuila hatte dann stets gelächelt, auf eine Weise, die alles ausdrückte, was Mütter für ihre Kinder empfinden können.

Ili lehnte sich gegen eine Papaya, fuhr mit der Handfläche über ihren Stamm und fühlte die glatte, warme, duftende Rinde.

In der Luft lagen zwölf helle Glockenschläge, die gleichen, mit denen so viele angenehme Erinnerungen verbunden waren.

Der letzte Klang erstarb. Das Land gehörte nicht mehr ihr.

Ili spürte einen Schmerz in der Brust, sanfter und umfassender als neulich, als sie auf dem Pfad zusammengebrochen war, beinahe so, als würde eine riesige Hand sie umklammern und forttragen.

Sie hielt sich an der Papaya fest und presste ihre Wange an das Holz.

Und dann sah sie Ane zwischen den grünen Stämmen auftauchen.

 

»Ernsthafte Bedenken«, zischte Raymond.

Seine Faust schloss sich so fest um das kleine Handy, dass die Knöchel weiß wurden.

Verdammter Europäer. Er hatte schon immer gewusst, dass Europäer Hasenfüße waren, und er hatte gleich gespürt, dass dieser Braams ein besonderes Exemplar dieser Gattung war. »Ernsthafte Bedenken«, hatte dieser Wichtigtuer mit dem aristokratischen Gehabe plötzlich der Bank gemeldet. Ernsthafte Bedenken wegen der Rückzahlung des Kredits, ernsthafte Bedenken, ob die Investitionen von Kettner’s Wood auf Samoa im Sinne einer langfristigen und nachhaltigen Finanzpolitik des Inselstaates – und damit auch der United Trade and Commerce Bank – seien, ernsthafte Bedenken wegen der Seriosität von Raymond Kettner selbst.

Der Angestellte am anderen Ende der Leitung hatte sich Mühe gegeben, den telefonischen Bericht, den Carsten Braams dort abgegeben hatte, Raymond gegenüber in ein diplomatisches Gewand zu kleiden, aber nüchtern betrachtet bedeutete das nichts anderes als: Wir glauben nicht mehr, dass wir mit Ihnen weiterhin zu tun haben wollen.

»Das ist mir scheißegal!«, hatte Raymond dem Mann mit dem dünnen Stimmchen über zehntausend Meilen hinweg zugerufen. Seine Wyoming-Direktheit war mit ihm durchgegangen, und er hatte gebrüllt: »Sie haben meinen Kredit schon bewilligt, und was anderes als Geld will ich sowieso nicht von Ihnen! Am allerwenigsten Wertschätzung! Die können Sie sich sonstwohin klemmen!«

»Mr. Kettner, wir werden nochmals mit der samoanischen Regierung über Ihren Fall diskutieren, und sind ziemlich sicher, übereinstimmend zu dem Schluss zu kommen, dass …«

Raymond hatte aufgelegt.

Was hätte es gebracht, länger mit diesem Wicht zu sprechen?, dachte er. Ich habe mein Geld von ihnen bereits, und den Kredit können sie mir frühestens in vier Jahren kündigen. Bis dahin befinden sich die Bäume längst als Sitzmöbel in hübschen Gärten, und die Banken werden bei mir Schlange stehen.

Selbst auf die Unterstützung der samoanischen Regierung konnte er verzichten. Natürlich nur, wenn …

Mal angenommen, dachte er, und brach die Überlegung gleich wieder ab.

Hektisch trank er einen Whiskey.

Der Gedanke kam zurück: Hast du denn eine Wahl? Dein ganzes Geld, ein Vermögen, steckt in diesem Geschäft, und mehr noch, deine Zukunft. Du bist erledigt, wenn du dieses alte Weib nicht dazu zwingst, an dich zu verkaufen. Und wenn sie nicht will …

Er dachte an Ane und ihre Gier. Sie würde ihm das Land verkaufen.

Er trank noch einen weiteren Whiskey.

Dann verließ er das Hotelzimmer.

 

Evelyn konnte noch immer nicht glauben, dass sie das alles vorhin gesagt hatte. Und dass sie Carsten verlieren würde.

Sie stand im Garten des Papaya-Palastes, den Blick auf das Haus und die orangefarbenen Bougainvilleen gerichtet, und versuchte, sich an ihre Worte zu erinnern.

»Das heißt«, hatte sie gesagt, »dass ich hier auf Samoa bleiben werde. Für immer.«

Sie war sich bewusst gewesen, was dieser Satz bedeutete, welche Änderung ihres Lebens er beinhaltete. Vielleicht würde sie ihren Beruf nicht mehr ausüben können, vielleicht würden Freundschaften in die Brüche gehen, vielleicht würde sie nur noch vier- oder fünfmal in ihrem Leben ihre Eltern wiedersehen, vielleicht würde sie schreckliches Heimweh bekommen, das raschelnde Herbstlaub vermissen, den Duft der hessischen Streuobstwiesen im August, die kalten Abende auf den Frankfurter Weihnachtsmärkten, die Osterglocken in den Vorgärten.

Vielleicht würde sie Carsten verlieren.

Sie hatte nicht die geringste Ahnung gehabt, wie er auf ihre Ankündigung reagieren würde. Er war noch nie der aufbrausende Typ gewesen, daher schied diese Variante aus. Ansonsten jedoch hatte sie alles für möglich gehalten: dass ein vorwurfsvoller, ja, liebloser Blick sie traf; dass er sich stumm abwandte und ging; dass er sie für verrückt erklärte. Sie hatte Angst gehabt vor seiner Reaktion, schreckliche Angst, und doch waren ihr die Worte wie von selbst über die Lippen gekommen.

»Hast du schon einmal das Gefühl gehabt, etwas unbedingt tun zu müssen? Und kennst du diese bösartigen kleinen Zweifel im Kopf? So geht es mir zurzeit. Ich spüre, dass ich richtig handle, ich weiß nur nicht, ob ich das alles durchstehe – ohne dich. Ich brauche dich. Bitte, Carsten, bleib bei mir. Bei mir und Ili, auf dem Papayaland.«

Evelyn verlangte sehr viel von ihm, das wusste sie. Während sie ihre Frankfurter Unternehmensberatung verkaufen oder als stille Teilhaberin von Bianca weiterführen könnte, würde er seinen Job aufgeben müssen, denn auf Samoa boten sich ihm keine seiner Qualifikation angemessenen Möglichkeiten. Außerdem war er in den letzten Jahren mehr mit der Bank als mit ihr verheiratet gewesen.

Er war sich mit beiden Händen durch die Haare gefahren, hatte die Lippen gespitzt und langsam ausgeatmet.

»Wovon willst du hier leben?«, wollte er schließlich wissen.

Seine Frage versetzte ihr einen Stich. Wovon willst du hier leben? Er sagte du, nicht wir.

»Ich habe Einnahmen aus der Firma«, erklärte sie. »Sie ist schuldenfrei.«

»Das Haus ist nicht schuldenfrei.«

»Aber fast. Wenn wir es verkaufen, bleibt noch ein schöner Teil übrig.«

»Du willst es verkaufen, ja? Unser Haus? Das wir mal geliebt haben!« Er schüttelte den Kopf, als würde er versuchen, aus einem Albtraum aufzuwachen. »Und womit willst du dich hier beschäftigen?«

»Nun ja, Ili kann jede Hilfe gebrauchen. Sie wird ja nicht jünger, und es gibt so viel Papierkram zu erledigen. Sicher werde ich genug zu tun haben.«

»Hast du schon mit ihr darüber gesprochen?«

»Ob ich hier bleiben kann? Nein, noch nicht. Aber ich weiß, dass sie nichts dagegen haben wird.«

»Du vergisst Kettner«, hielt er ihr entgegen. »Ili wird schon bald kein Land mehr haben. In genau …«

Er hatte auf die Armbanduhr gesehen. »In genau einer Stunde und fünfunddreißig Minuten.«

»Dann wird sie mich sogar noch nötiger brauchen. Ich hoffe allerdings noch immer auf Rettung.«

»Nur ein Wunder könnte euch noch retten.«

»Ein Wunder hat mich schon einmal gerettet, als ich beschloss, hierher zu fliegen. Wieso nicht auf ein zweites hoffen?«

Sie hatten sich gegenübergestanden, und sich nicht aus den Augen gelassen. Evelyn hatte daran gedacht, wie sie sich in der Mensa der Universität zum ersten Mal begegnet und ins Gespräch gekommen waren, weil er an dem kleinen Tisch versehentlich ihr Mineralwasser getrunken hatte; wie sie ihn eine Woche später in ihre Einzimmerwohnung zum Essen eingeladen hatte und ausgerechnet Tunfisch mit Bohnen kochte, was er immer schon abscheulich fand, an diesem Abend aber verschwieg und erst einige Wochen später zugab, als sie bereits zusammen waren; wie sie ihre erste Rucksacktour gemacht hatten, durch Devon in England, wo es eine Woche lang nur geregnet hatte; wie sie beide zum ersten Mal Julias Körper auf einem Computerbildschirm des Gynäkologen gesehen hatten und glücklich waren wie nie zuvor. Das alles zog an Evelyn vorbei, und sie konnte nur hoffen, dass auch Carsten diese Dinge nicht vergessen hatte.

Schweigend sah sie zu, wie er sein Handy aus der Tasche zog, den Empfang abwartete und eine lange Nummer wählte.

»Hallo, Neil, hier ist Carsten Braams. Na, wie ist das Wetter in Philadelphia? Tja, da habe ich es in Samoa besser. Weshalb ich anrufe: Es gibt nun doch ein Problem mit unserem Kunden. Ich habe herausgefunden, dass er die Einheimischen zum Teil unter erheblichen Druck gesetzt hat, um an ihr Land zu kommen. Nein, Neil, schlimmer. Es gab sogar einen Brand. Was ich damit sagen will? Dass er früher oder später Ärger mit dem Gesetz bekommt, und was dann mit unserem Kredit passiert, können Sie sich denken. Ja, ich halte es wirklich für riskant. Natürlich weiß ich, dass wir große Sicherheiten von ihm haben, aber … Da ist noch etwas anderes, Neil, das Sie wissen sollten. Die samoanische Regierung hält es jetzt vielleicht für lukrativ, mit Kettner Geschäfte zu machen, langfristig aber werden sie bereuen, ihm jemals begegnet zu sein. Für unsere Position hier wäre das äußerst schlecht.«

Carsten hatte minutenlang wie ein Autoverkäufer argumentiert, während Evelyn auf ihn zuging, ihn umarmte und ihre Wange an seine drückte. »Danke« , hatte sie in sein freies Ohr geflüstert und ihn nicht mehr losgelassen, bis er schloss: »Gut, Neil, rufen Sie ihn an? Fein. Ich werde in der Zwischenzeit noch mal mit der Regierung sprechen. Natürlich, noch heute bekommen Sie einen ausführlichen Bericht. Und kommen Sie trocken nach Hause. Bye, Neil. Bye.«

Er hatte sie mit einem Blick angesehen, der ausdrückte: Ich muss völlig verrückt sein, aber ich habe es getan – und geschafft.

Verlegen wegen ihrer und seiner glänzenden Augen, hatte er seine Hände in die Taschen gesteckt, tief durchgeatmet und gesagt: »Ich muss jetzt dringend nach Apia zur Regierung. Du hast es ja gehört.«

»Es gibt einen Hubschrauberplatz nahe Salelologa. Von dort bist du im Nu drüben.«

»Gut. Dann los.«

Während des Abstiegs und im Wagen auf dem Weg zum Hubschrauber hatte sie sich Carsten so nahe gefühlt wie nie zuvor. Er hatte ihr geholfen, und zwar nicht aus Überzeugung in der Sache, sondern weil er sie liebte; er war über seinen Schatten gesprungen und hatte etwas aufgegeben, was ihm wichtig gewesen war, nämlich seine berufliche Integrität – er hatte für sie gelogen.

 

Bisher hatte sie ihre kurze Affäre mit Ray Kettner verschwiegen. Natürlich auch, weil sie ihr peinlich war, weil keine Frau so etwas ihrem Mann gerne erzählt. Vor allem aber deshalb, weil sie nicht wollte, dass Carsten sich aus reiner Vergeltung und männlicher Eitelkeit gegen Kettner stellte. Damit hätte sie Carsten zu einem Instrument gemacht, und das wollte sie nicht. Er sollte sich nicht einfach gegen Kettner entscheiden, sondern für sie.

Und das hatte er getan.

Danach war sie an der Reihe gewesen. Wenn sie sich für Carsten entscheiden wollte, musste sie ehrlich sein.

Und so war sie ehrlich gewesen. Nachdem sie den Wagen auf dem grasbewachsenen Parkplatz neben der Hubschrauberstation abgestellt hatte, hatte sie Carsten alles über sich und Ray erzählt. Es war die längste Viertelstunde ihres Lebens gewesen.

Carsten hatte gar nichts gesagt, nicht, während sie redete, und nicht, als sie fertig war und schwieg. Sie saßen ein paar Minuten beieinander, den Blick auf die langsam rotierenden Rotorblätter eines alten Hubschraubers geheftet, und dann war er ausgestiegen. Einfach so. Ohne einen Ton. Ohne einen letzten Blick. Ja, er hatte das zweite Wunder wirklich werden lassen und Ilis Land gerettet, und dafür liebte sie ihn noch mehr. Doch er würde nicht auf Samoa bleiben. Was er heute für sie getan hatte und noch tun würde, war sein Abschiedsgeschenk an sie.

Umgeben von den Farben und Düften des Gartens befielen Evelyn Zweifel. Hatte sie sich in etwas verrannt? War ihre Vorstellung, nur hier den Balsam für ihre Genesung zu finden, übertrieben? Zahlte sie nicht einen zu hohen Preis, wenn sie Carsten verlor? Sollte sie nach Deutschland zurückkehren?

In der Ferne hallten zwölf Glockenschläge.

Einer Antwort gleich, peitschte ein Schuss durch die nahe Pflanzung.

 

Sie rannte zunächst ins Haus, nachdem sie den Schuss gehört hatte. Als sie Ili dort nicht fand, lief sie in die Plantage, irgendwohin, weil sie nicht wusste, aus welcher Richtung der Schuss gekommen war. Darüber, dass sie vielleicht selbst in Gefahr sein könnte, dachte sie nicht nach. Möglicherweise, vermutete sie, war der Schuss gar kein Schuss gewesen, und selbst wenn, konnte Ili ihn abgegeben haben, als eine Art Hilferuf.

Und was, wenn Ili die Waffe auf sich selbst gerichtet hatte …?

Dann sah sie ein blauschwarzes Tuch durch die Bäume leuchten, das Tuch, das Ili am Morgen auf der Beerdigung getragen hatte.

»Ili!«, rief sie, ohne eine Antwort zu bekommen, und kniete sich neben sie.

Ili saß an einen Stamm gelehnt, die Augen starr.

»Mein Gott, Ili. Was ist mit Ihnen?«

»Sie …«, stammelte Ili. »Sie hat es nicht fertig gebracht.«

Evelyn schickte ein Stoßgebet zum Himmel. »Ein Glück, Sie können sprechen. Ich dachte schon … Aber wovon reden Sie? Wer hat was nicht fertig gebracht?« Evelyn folgte Ilis starrem Blick und entdeckte erst jetzt Ane, die ein Stück entfernt auf dem Boden kauerte. Das Gesicht in den Händen vergraben und zusammengerollt wie ein Embryo, wimmerte sie leise vor sich hin.

»Ane wollte auf mich schießen«, sagte Ili mit schwacher Stimme. »Aber sie schaffte es nicht. Sie zitterte, weinte, redete unzusammenhängendes Zeug. Sie ließ die Waffe fallen, und dabei löste sich ein Schuss.«

»Sind Sie verletzt?«

Ili griff nach Evelyns Händen. »Nicht auf die Weise, die Sie befürchten, meine Liebe. Ich bin nur – müde. Mein Herz … Es war mir sehr lange ein treuer Diener, aber jetzt muckt es auf. Lassen Sie mich einen Augenblick hier sitzen. Und bleiben Sie bei mir, ja?«

»Natürlich bleibe ich bei Ihnen. So lange Sie wollen.« Ili blinzelte vertrauensvoll. »Das ist länger, als Sie vielleicht denken.«

»Dann sage ich danke.«

Sie sahen einander an und lächelten.

Ein Schleier aus Wolken zog vor die Sonne, und durch die Blätter der Papayabäume fielen nur noch einzelne Flecken trüber Helligkeit. Die Stille schien auf den Mittagsregen zu warten, der jeden Moment niederprasseln konnte. Drüben lag noch immer Ane und schluchzte wie ein kleines Kind, das darauf wartet, dass die Mutter kommt und es tröstet.

»Wie konnte sie nur etwas so Abscheuliches tun wollen?«, fragte Evelyn. »Sie hätte Sie beinahe umgebracht, Ili.«

»Moana steckt in ihr, vergessen Sie das nicht. In Samoa nennen wir es den Geist der Ahnen, woanders heißen sie Gene und Erinnerungszellen, aber es ist das Gleiche. Moana, Ivana, Tupu, Tino, Atonio und alles, was diese Menschen ausgemacht hat, fließt in Anes Adern und lässt sie nicht los. Sie hat einen fünffachen Abwehrkampf zu führen, und sie hatte von Anfang an schlechte Karten, ihn zu gewinnen. Und ich selbst – ich habe das Meine dazu beigetragen, dass sie diesen Kampf heute endgültig verloren hat.«

 

Samoa, Sonntag, 19. Juni 1995

 

Die Vorbereitungen für die Papayaernte waren in vollem Gang, aber die Familie hatte sich angewöhnt, sonntags nicht mehr zu arbeiten. Im Gegensatz zu früher brauchte Ili mit ihren nunmehr achtzig Jahren einen Tag in der Woche, an dem sie sich weder mit Geschäften noch mit Papayas abgab, sondern zu alten Büchern griff, spazieren ging oder backte, alles Dinge, die ihr Ruhe gaben.

Atonio hatte sich nach Taiatas Tod lange nicht um den Sonntag geschert und wie an allen anderen Tagen verbissen gearbeitet – allenfalls, dass er mal etwas früher nach Hause kam. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, weitere Flächen zu erschließen, und mit Ili, die sich weigerte, Geld dafür herzugeben, etliche Kämpfe ausgefochten. Allerdings hatte auch seine Kraft Grenzen. Mehr erschlossenes Land bedeutete mehr Arbeit. Seit zwei Jahren spürte er allmählich, dass sein Körper nicht mehr seinem Willen folgen konnte, und so hatte er unlängst mit Ane einen Abstecher nach Sydney gemacht. Er schützte Geschäftskontakte vor, die er ausbauen wolle, aber jeder wusste, dass er eine Auszeit gebraucht hatte, einen Urlaub, etwas, das ihn für eine Weile aus dem Gewohnten herausriss. Die Tage hatten ihm gut getan, das war deutlich zu sehen. Seither ging er an jedem siebten Wochentag mit Mutter und Tochter in die Kirche, blieb den Nachmittag in Palauli und schwatzte mit den Dörflern.

Ili glaubte schon, er hätte sich endlich wieder gefangen; Senji hätte gesagt: seine Mitte gefunden.

An jenem Junisonntag hingegen kam er, entgegen seiner neuen Gewohnheit, mit Moana und Ane nach dem Gottesdienst zurück. Ili, die auf ihrer Veranda saß, sah sie kommen. Sie ging nie in die Kirche, nicht sosehr aus Überzeugung denn aus Gewohnheit – als Mädchen und junge Frau hatte sie versäumt, damit anzufangen –, und betete lieber auf der Veranda, mit Blick auf die Palauli Bay.

Normalerweise ging Atonio mit einem stummen Kopfnicken an ihr vorbei, und allenfalls Ane kam gelegentlich zu ihr, auf der Suche nach einem süßen Scone oder einem Mangokuchen. Heute ging Ane jedoch in den Garten spielen, stattdessen kam Atonio zu ihr.

»Können wir nachher reden?«, fragte er. »Es ist wichtig.«

Ili runzelte neugierig die Stirn. »Sicher. Meinetwegen auch gleich.«

»Ich habe meiner Mutter versprochen, einige Reparaturen zu erledigen. Passt es dir, wenn sie ihren Mittagsschlaf hält? Und nicht hier, wenn es geht. In der Plantage. An der südöstlichen Wasserleitung, bitte. Dort sind wir ungestört.«

»Das hört sich ja spannend an.«

»Ich muss dir etwas sagen, das dir nicht gefallen wird.«

»Wie du meinst …«, sagte sie zögerlich. Eine schlimme Ahnung beschlich sie.

Zur vereinbarten Zeit legte sie ihr Buch beiseite, auf das sie sich nach Atonios Worten ohnehin nicht mehr hatte konzentrieren können, und verließ den Papaya-Palast durch den Hinterausgang. Sie öffnete den Werkzeugschuppen und holte eine schwere Rohrzange heraus, bevor sie sich auf den Weg zum Treffpunkt machte.

 

Atonio wartete bereits auf sie. Sein Gesicht war ernst, und Ili dachte daran, wie sehr er sich in den letzten dreißig Jahren verändert hatte. Wo war die Freude geblieben, die er in seiner Jugend ausstrahlte? Wo die Zärtlichkeit, die er Taiata entgegengebracht hatte? Ein völlig anderer Mensch stand vor Ili, als der von jenem Hochzeitstag 1966.

»Nun«, sagte sie, »da bin ich.«

Er hockte auf dem Wasserhahn, der einen Meter über dem Boden eine notdürftige Sitzgelegenheit abgab.

»Wieso hast du eine Rohrzange dabei?«, fragte er.

»Weil du offenbar nicht der Erste und Einzige bist, der es sich auf der Leitung gemütlich macht. Sie ist verbogen, das Wasser hat keinen richtigen Druck mehr. Wenn wir uns schon an dieser abgelegenen Stelle treffen, soll es auch einen praktischen Nutzen haben. Darf ich?«

»Ich kann das doch machen.«

»So etwas schaffe ich noch, auch wenn ich nicht danach aussehe.«

Er machte ihr Platz und beobachtete, wie sie mühsam das Rohr geradebog. Noch bevor sie damit fertig war, begann er: »Wie bisher kann es nicht weitergehen. Hier ändert sich nichts, das ist ein Fehler. Ich bin fast fünfzig, und was habe ich erreicht? Sieh dir die anderen Pflanzer an, die gehen mit der Zeit, tun was für die Zukunft. Papayas, weißt du, das war vielleicht was fürs Jahr 1914. Dies hier ist jedoch nicht mehr die Welt von damals, Tante Ili, aber du scheinst zu glauben, dass dein Wiegenfest dir näher ist als dein Todestag.«

Abrupt hielt sie mit ihrer Arbeit inne. »Das ist wohl die geschmackloseste Bemerkung, die mir gegenüber je gemacht wurde, mein Junge. Ich weiß selbst, dass ich nicht mehr jung bin, deswegen muss ich mich aber noch lange nicht jetzt schon von Krähen ausweiden lassen, wie du eine bist. Geht es dir wieder ums Geld, ist es das?«

»Nein«, sagte er, »diesmal nicht.«

»Sehr beruhigend. Was also dann?« Etwas hektischer als zuvor hantierte sie an dem Wasserrohr herum.

»Ich habe mich ein wenig im Dorf nach Alternativen zu den Papayas umgehört. Groß im Kommen ist Kaffee. Sag nicht gleich Nein, Tante. Mit Kaffee kann man so gut wie nichts falsch machen. Er ist schnell angepflanzt, wächst gut, gedeiht prächtig in unserem Klima und hat einen riesigen Absatzmarkt. Stell dir das doch einmal vor: Südsee-Kaffee!« Er gestikulierte mit den Händen, als male er einen Traum in die Luft. »Kaffee aus Samoa. Den werden die Leute wie verrückt kaufen.«

Sie schüttelte mit dem Kopf. »Das Problem sind nicht die Leute, sondern die Konzerne. Sie werden immer wählerischer und zahlen immer weniger.«

»Die Preise sind gut«, widersprach er.

»Jetzt, ja. In fünf Jahren, nein.«

»Woher willst du das wissen, hm? Hast du irgendwelche Gaben, von denen ich noch nichts weiß?«

»Dazu muss man kein Prophet sein, Atonio, sondern nur seinen Kopf benutzen. Die Konzerne verleiten in der ganzen Welt die Pflanzer dazu, Kaffee anzubauen. In ein paar Jahren gibt es so viele Bohnen, dass die Kunden sich schon jeden Tag eine Koffeinvergiftung antrinken müssten, um all das Zeug aufzubrauchen. Die Preise werden also stürzen wie ein Wasserfall. Und dann?«

»Andere sind nicht so pessimistisch. Ben will auch Kaffee anbauen …«

»Ben«, fiel sie ihm ins Wort, »ist der beste Freund, den ich habe. Genau genommen ist er der einzige Freund. Aber ich würde ihm jederzeit offen ins Gesicht sagen, dass er weniger vom internationalen Nahrungsmarkt versteht als ich.«

Er schürzte die Lippen. »Ich habe aber schon mit meiner Mutter gesprochen, und sie …«

»Moana versteht von der Plantage so viel wie ich vom Fußballspielen.«

»… und sie«, fuhr er zähneknirschend fort, »hat mir das nötige Geld versprochen, das ich brauche. Die Hälfte der Plantage gehört ihr – und damit mir. Mit dem Einverständnis meiner Mutter kann ich tun, was ich für richtig halte, ganz egal, was du davon hältst, Tante. Ich werde die halbe Plantage roden und mit Kaffeesträuchern bepflanzen, ob du dich nun schwarz ärgerst oder nicht.«

»Bist du übergeschnappt? Unser Einvernehmen willst du auflösen? Plötzlich den Besitz teilen? Der Besitz ist nicht teilbar!«

»Er ist es! Er war es immer gewesen! Du kannst froh sein, dass du bisher so viel Glück hattest. Meine Mutter hätte schon längst …«

»Das Land gehört mir!«, schrie sie. »Mir, hörst du? Du und deine Mutter, ihr habt kein Recht, dieses Land zu verändern. Mein Vater hat die Papayas gekauft, meine Mutter hat sie gepflanzt und hochgezogen, und deine Großmutter hat sie uns gestohlen.«

»Tante Ili …«

»Ich werde verhindern, dass du deine Pläne in die Tat umsetzt. Wage es, nur eine einzige Papaya zu fällen!«

»Tante Ili …«

»Dann werde ich dir alle Anwälte Samoas auf den Hals hetzen, und wir werden sehen, wem dieses Land tatsächlich gehört.«

»Wenn du es so willst, bitte. Aber du wirst verlieren, Ili. Du hast keine Chance.«

Sie holte aus und rammte ihm die Rohrzange in den Bauch, war jedoch viel zu schwach, als dass sie etwas hätte ausrichten können. Atonio stöhnte kurz auf und rieb sich die Stelle, wo ein blauer Fleck zurückbleiben würde. Das Werkzeug fiel zu Boden.

»Ich wünschte«, presste sie hervor, »ich wäre jünger und stärker, dann würde ich dich …«

»Was?«, fragte er grinsend.

»Ich weiß es nicht, Atonio. Ich weiß nicht, was ich dann tun würde. Du und deine Vorfahren, ihr habt die Eigenschaft, stets das Schlechte in den Menschen zu wecken.«

Bevor ihr die Tränen über die Wangen liefen, drehte sie sich um und eilte davon, so schnell sie konnte. Sie hatte kein Ziel, sie lief einfach durch die Papayas. Ihr Schluchzen begleitete sie, und manchmal musste sie stehen bleiben und sich abstützen.

Zuerst hörte sie ein knisterndes Geräusch, dann, sich umblickend, sah sie meterhohe Flammen auflodern, keine fünfhundert Schritte entfernt. Der Passat trieb die Feuersbrunst nach Nordwesten. Ili selbst war nicht gefährdet, da ihr Standort nicht auf dem Weg des Feuers lag, die Plantage jedoch drohte vollständig zu verbrennen.

Atonio, dachte sie, beruhigte sich aber wieder. Wie sie, würde auch er den Brand rechtzeitig bemerken.

Vielleicht war noch etwas zu retten. Wenn sie an die Wasserleitung käme …

Sie näherte sich dem Feuer von der sicheren Seite. Viel konnte sie nicht erkennen, weil das saftige, feuchte Laub einen dichten Qualm erzeugte. Mehr als ein Dutzend Papayas, meinte sie, brannten wohl noch nicht.

Sie glaubte, nicht richtig zu sehen, als aus dem Qualm heraus zwei Schemen auf sie zukamen wie Geister. Noch bevor sie sich fragen konnte, wer die beiden waren, erkannte sie Ben an seiner schweren Gestalt. Er zog Ane an der Hand hinter sich her.

»Was …?« Ili konnte nur stammeln. »Wieso …? Was macht ihr hier? Geht es euch gut?«

Ben hustete. »Ich war gerade auf dem Weg zum Papaya-Palast, wollte euch besuchen. Da fand ich Ane.«

Ili umarmte das verstörte Kind. »Danke, Ben. Gut, dass du zur Stelle warst. Nicht auszudenken, was sonst vielleicht passiert wäre.«

»Sie war es«, platzte er heraus. »Ane hat das Feuer gelegt. Ich habe es gesehen, konnte aber nichts mehr tun. Mit den Füßen und meinem Hemd habe ich versucht, das Feuer zu ersticken.«

Ili wollte zur Wasserleitung laufen.

»Geh nicht, Ili«, hielt Ben sie zurück. »Ich war schon dort. Die Leitung ist verschmort, die Schläuche auch. Du kannst nichts tun, Ili.«

Sie wandte sich Ane zu, packte sie an den Schultern. »Warum hast du das getan? Sag es mir!«

Ane presste die Lippen zusammen, blieb stumm.

Sie schüttelte sie. »Sag es!«

Anes Augen waren starr wie die einer Puppe. »Sydney«, sagte sie bloß. Mehr brachte sie nicht heraus. Ben glaubte, sie fantasiere von ihrem Urlaub in Australien, doch Ili verstand sofort den Sinn dahinter.

»Bitte«, flüsterte Ane wie betäubt. »Bitte, sag Papa und Oma nichts. Bitte, bitte.«

In diesem Moment fegte ein Regenschauer über sie hinweg und wurde zum Wolkenbruch. Sie mussten sehr laut miteinander sprechen, um sich überhaupt noch zu verstehen.

»Hast du Atonio gesehen?«, fragte Ili Ben.

Er nickte. »Ja, er rannte von der anderen Seite auf das Feuer zu. Wie ich versuchte er, es mit dem Hemd auszuklopfen. In dem vielen Rauch verlor ich ihn aus den Augen.«

»Gott gebe, dass ihm nichts passiert ist«, murmelte Ili.

 

Der Regenguss löschte das Feuer binnen Minuten. Ili, Ben und Ane streiften durch das verkohlte Gelände und riefen Atonios Namen, wieder und wieder.

»Vielleicht ist er zum Haus gerannt?«, überlegte Ili.

Kurz darauf packte Ben sie am Arm und erstarrte. »Nein«, sagte er, »er ist nicht zum Haus gerannt.«

Nun sah auch Ili es und drehte sich weg.

Ane schrie auf, und Ili presste den Kopf des Kindes an sich. Sie atmete schwer, und ihr wurde übel. »Das ist … Himmel, Ben. Bring uns weg, bring uns ganz schnell hier weg.«