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Samoa, November 2005

 

»Er zitterte kaum weniger als Tupu, als er so dastand, beobachtet von seinem Vorgesetzten, von den deutschen Siedlern und den Samoanern, alles Menschen, mit denen er in guter Nachbarschaft hatte leben wollen«, berichtete Ili mit belegter Stimme. »Er fühlte sich allen verpflichtet, den einen wie den anderen. Jedem und allem wollte er es recht machen: seinem kranken Vater und seinem Namen, seiner alten Heimat und seiner neuen Heimat, seiner deutschen Familie und seiner samoanischen. Tristans Wurzeln in Samoa waren zu jung, um schon stark zu sein, und seine deutschen waren noch zu prägend, als dass er sie vollständig abgestoßen hätte.«

»Wie ging es weiter?«, fragte Evelyn gebannt.

»Tuila war inzwischen bis Salelologa gelaufen. Sie war völlig außer Atem und hatte Ivana und Vaonila weit hinter sich gelassen. Von der Gerichtsverhandlung und der bevorstehenden Exekution konnte sie noch nichts wissen, aber – wie sie mir später erzählte – ahnte sie ein Unglück. In Fetzen kam ihr das nächtliche Gespräch mit Tristan in den Sinn, seine Schlaflosigkeit, seine hypothetische Frage nach der Familie des Mörders, ihre ungeschickten Antworten … Nach und nach, während sie rannte, begriff sie, was geschehen war: Tupu war ein Mörder und Tristan sein Henker. Sie liebte sie, beide waren ein Teil von ihr, und sie empfand körperlichen Schmerz bei der Vorstellung, dass ein Teil den anderen aus ihr herausreißen würde. Sie glaubte, noch etwas retten zu können, wenn nicht Tupu, so doch Tristan. Er durfte Tupu nicht erschießen. Jeder andere, aber er nicht. Wenn sie nur schnell genug wäre …«

Ili stand auf und ging ein paar Schritte über den nachtkühlen Sand, bis ihre alten Füße vom Meer überspült wurden.

Ohne Evelyn anzusehen, fuhr sie fort: »Als sie an der Station ankam, lag der beißende Geruch des Pulverdampfes noch in der Luft.«

»Tristan hat tatsächlich den Befehl gegeben?«, fragte Evelyn. Irgendwie hatte sie auf das Gegenteil gehofft, trotz Tupus Taten und der Tatsache, dass Tristan im anderen Fall einige Jahre in ein deutsches Gefängnis gekommen wäre, fort von Tuila. Sie war der Meinung, dass Tuila diese Zeit überstanden hätte, gleichgültig ob in Samoa oder Arnsberg oder an einem anderen Ort. Ganz gewiss, Tuila hätte es geschafft. Sie war stärker, als Tristan glaubte. Und – sie war stärker als Tristan.

Ili sah sie an. »Ja, er hat Tupu erschossen.«

»Aber doch nicht er selbst?«

»Dass er es nicht mit eigener Hand und Waffe getan hat, ist nur ein unwichtiges Detail. Er hat Tupu getötet.«

Ili ging wieder zu Evelyn zurück. »Tuila kniete sich neben den Erschossenen, beugte sich über ihn und weinte. Tupus Körper wies vier unschöne Einschüsse auf, der ganze Oberkörper war blutverschmiert, und die Augen starrten weit offen ins Nirgendwo. Sie schloss sie und machte sich daran, Tupu mit einem Kleiderfetzen zu säubern. Man ließ sie gewähren. Rassnitz war gleich nach der Exekution gegangen, ebenso die beiden deutschen Siedler. Einzig die zehn Samoaner umlagerten noch den Leichnam, manche beteten, andere blieben stehen. Der Ausdruck auf ihren Mienen reichte von Trauer über Unverständnis für Tupus Verbrechen bis hin zu Zufriedenheit. Aber niemand verurteilte die Deutschen, weder in ihrer Gesamtheit noch eine spezielle Person.«

»Und Tristan?«, wollte Evelyn wissen.

»Tristan hatte die Fita-Fita abtreten lassen und stand zwischen den Einheimischen. Tuila beachtete ihn nicht, obwohl sie ihn bemerkt haben musste. Schließlich trat er einen Schritt vor und kniete sich neben sie. Er versuchte, ihr alles zu erklären, aber sie ging nicht darauf ein. In der Trauer, sagte sie, wolle sie nicht gestört werden. Dann kamen Ivana und Vaonila hinzu, und bei all den Tränen war für Tristan nicht mehr daran zu denken, irgendwelche vernünftigen Begründungen für sein Verhalten abzuliefern. Ihm blieb nur der Rückzug in die Station. Ausgeschlossen von der familiären Trauer, sah er zu, wie die drei Frauen Tupu fortbrachten.«

»Fort? Wohin?«

»In den Wald, Evelyn. Auf einen dicht bewachsenen Hügel nahe der Pulemelei-Pyramide. Einer alten, samoanischen Tradition verpflichtet, hielten die drei Frauen, die winzige Moana und im Grunde auch ich im Bauch meiner Mutter die Totenwache vom Sonnenuntergang bis zum Aufgehen des Morgensterns. Auf einem großen Tuch neben dem Leichnam sitzend, verharrten sie stumm die ganze Nacht und warteten auf ein Zeichen des Waldes. Lässt ein Tier sich auf dem Tuch der Wächter nieder, wird es zweimal verjagt; setzt es sich zum dritten Mal nieder, erkennen wir darin den Geist des Toten. In jener Nacht war es ein Käfer mit einem schillernd roten Panzer, der sich nicht verjagen ließ. Man wartete, bis das Insekt – oder besser gesagt, Tupus Geist – davonflog, erst danach verscharrte man den nun seelenlosen Leichnam an Ort und Stelle in der Erde. Seither verkörpern die roten Käfer für unsere Familie das Andenken an Tupu.«

Evelyn lächelte. Jetzt verstand sie, weshalb Moana, Tupus Tochter, die Käfer hegte und pflegte. »Ein schöner Brauch.«

»Es gibt ihn noch heute, wenn auch in abgewandelter Form. Tupu war einer der Letzten, die vollständig nach dem alten Ritus bestattet wurden.«

»Haben sich Tuila und Tristan ausgesprochen?«

Ili seufzte: »Es kam etwas dazwischen.«

»Und was?«

»Tupu starb am 31. Juli 1914. Erinnern Sie sich nicht, was vier Tage später, am 3. August, geschah? Denken Sie noch einmal nach.«

»Oh«, rief Evelyn gedehnt. »Sie meinen …«

Ili nickte. »Der Tag begann als großes Fest in Samoa, für die Deutschen sowieso, aber auch für die Einheimischen, denen jeder Anlass recht war, um mitzufeiern. Doch am Ende des Tages …«

 

Samoa, August 1914

 

Über die Bucht vor Apia hallten die schrägen Töne der Blaskapelle, die Seemannslieder spielte, und zwischen den Riffen schossen pfeilschnell die blumengeschmückten Kanus der Einheimischen umher. An den Kais standen die Frauen und beobachteten die wundervoll gewachsenen, kraftstrotzenden Männer, die sich mit ihren Booten einen Wettkampf lieferten. Die Luft war angenehm frisch, der Wind rauschte in den Palmen. Es gab Stände, an denen Perlwein und Mangobowle für die Damen ausgeschenkt wurde, Gin oder Anisschnaps für die Herren. Man schüttelte sich gegenseitig die Hand, stand herum und plauderte über die nächste Ernte, applaudierte zwischendurch den Musikanten und Wettkämpfern, machte sich hinter vorgehaltener Hand ein wenig über den dicken samoanischen König lustig, der von Kaiser Wilhelm eine Pickelhaube geschickt bekommen hatte, die er wie eine Kokosnuss unter dem Arm trug, und warf zwischenzeitlich auch einmal einen begehrlichen Blick auf die samoanischen Frauen, die am Ufer tanzten und die Männer auf dem Wasser anfeuerten.

Der Gouverneur gab der »Samoanischen Zeitung« zwischen zwei Gläsern Schnaps ein Interview, in dem er die neu eingerichtete Funktelegrafenstation als großen Fortschritt für die Kolonie bezeichnete, mittels der man endlich an das weltweite Kommunikationsnetz angebunden sei.

»Stellen Sie sich vor«, sagte er einem jungen Reporter, der mit aufgerollten Ärmeln vor ihm stand und Notizen machte. »Zum Frühstück können wir unseren Eltern, Kindern oder Geschwistern im Reich eine Nachricht schicken. Und noch zum Abendbrot erhalten wir deren Antwort. Von den geschäftlichen Vorteilen für unsere Kaufleute und Pflanzer will ich gar nicht reden, die liegen ja auf der Hand.«

»Wann bekommen wir die erste Nachricht aus der Heimat?« , fragte der Reporter, während er unbeeindruckt schrieb.

»Nun, mein Guter, wir haben vor zwei Stunden eine Funknachricht an die Admiralität in Wilhelmshaven geschickt und die Station betriebsbereit gemeldet. Ich erwarte noch heute Nachmittag eine Antwort. Und danach gibt’s ein Feuerwerk, das vor allem unsere samoanischen Freunde begeistern wird.«

Ohrenbetäubende Böllerschüsse machten ein weiteres Gespräch unmöglich. Das gesamte deutsche Südseegeschwader, also die Schlachtschiffe »Scharnhorst« und »Gneisenau« sowie die Kreuzer »Dresden« und »Leipzig«, feuerte aus allen Rohren ins Türkis des Himmels.

Das gewaltige Donnern ließ sogar noch auf Savaii das Wasser vibrieren, wie Tristan feststellte, als er in seinem Haus saß und gedankenverloren in ein halb gefülltes Glas Gin blickte. Er war nicht zur Einweihung der Funktelegrafenstation nach Apia gefahren, obwohl man ihn dort erwartete. Stattdessen hoffte er, endlich mit Tuila sprechen zu können, die schon drei Tage nicht nach Hause gekommen war. Sie kam auch an diesem Tag nicht. Keiner kam. Ivana war in ihr altes fale zu ihrer Schwiegermutter gezogen, und von Tuila fehlte jede Spur. Vaonila verriet Tristan nur, dass sie irgendwo in die Berge gegangen war, um zu trauern und um über alles nachzudenken. Mehr sagte sie nicht zu ihm, und er nahm es ihr nicht übel. Er hatte ihren Sohn erschossen, das konnte eine Mutter nicht einfach vergessen, nicht so schnell jedenfalls, auch wenn sie begriff, warum es passiert war.

»Ich bitte dich nur, es Tuila zu erklären«, sagte er.

»Sie kennt deine Gründe«, antwortete sie kurz und wandte sich wieder irgendeiner Arbeit zu.

Tagelang wartete er auf der Veranda des Palastes oder unten an der Bucht, und manchmal ging er zum Mafane hoch, in der vergeblichen Hoffnung, sie an ihrem gemeinsamen Lieblingsplatz zu finden. Auch am dritten August wartete er, mit einem Glas Gin in der Hand, mit trüben Augen und offenem Hemd. Er erschien nicht mehr zum Dienst, schützte eine Krankheit vor. Das Militär war sowieso für ihn gestorben, da er es abgelehnt hatte, die Ehe mit Tuila annullieren zu lassen. Der Brief, in dem er um seine Entlassung bat, lag schon unterschrieben im Haus. Was kümmerten ihn da noch die Einweihung eines Funktelegrafen und ein Schwatz mit Kolonisten!

In Apia vermisste man ihn kaum. Rassnitz hatte dafür gesorgt, dass sich Tupus Aussage ihn betreffend in Windeseile verbreitete. Gerüchte machten die Runde, wuchsen um mehr und mehr Details an und wucherten schließlich ins Ungeheuerliche. Für die Deutschen war er ein Verräter, der den Überfall auf das Picknick mitorganisiert hatte, wie die Gouverneursgattin versicherte. Auch dies war ein Thema bei dem Fest am Hafen.

Indes traf das ersehnte erste Funktelegramm ein. Die Menschen scharten sich um die Station, um die erwarteten Glückwünsche der Admiralität zu vernehmen. Endlich eine direkte Verbindung zur Heimat!

Gouverneur Dr. Schultz und Oberst Rassnitz sowie der Kommandant des Südseegeschwaders standen lächelnd neben dem Funker, als dieser die übermittelte Botschaft notierte und dem Gouverneur übergab.

Sie lautete: »Österreichischer Thronfolger vor vier Wochen von serbischem Attentäter ermordet. Stop. Bündnisfall eingetreten. Stop. Kriegserklärung an Russland am 1. August. Stop. Heute Morgen Kriegserklärung an Frankreich. Stop. Krieg gegen Großbritannien wahrscheinlich. Stop. Alle Schutzgebiete seit heute unter Kriegsrecht. Stop. Auf Verteidigung einstellen. Stop. Es lebe der Kaiser. Stop und Ende.«

 

Ein ganzer Erdball lag zwischen Samoa und dem Geschehen in Europa, und dementsprechend reagierten die Menschen in der Kolonie völlig anders als die im Heimatland. Das Reich befand sich im Freudentaumel, Aufmärsche fanden statt, ja sogar Siegesfeiern, bevor der erste Schuss gefallen war. Gab es dort vorher in manchen Punkten politische Uneinigkeit, so standen die Untertanen plötzlich geschlossen hinter dem Kaiser.

In Samoa trat das Gegenteil ein: Eine ängstliche Unruhe erfasste die Kolonisten, die sich noch einmal verstärkte, als am 4. August auch Großbritannien in den Krieg gegen das Reich eintrat. Australien und Neuseeland, die ihrem Mutterland beistanden, waren nicht allzu weit entfernt, und das imponierende deutsche Südseegeschwader, das zunächst noch vor Upolu vor Anker lag, hatte auch noch Neuguinea sowie die Marianen, Karolinen und Palau zu verteidigen und legte geschlossen ab. Nun war man nur noch ein einsames Pünktchen im Pazifik, beschützt von vierzig samoanischen Polizisten und etwa genauso vielen deutschen Siedlern mit Gewehren. War man vorher ein verschworener Kreis von Kolonisten, so traten jetzt Meinungsverschiedenheiten zutage. Einige erlaubten sich, den Krieg abzulehnen, andere waren derart begeistert, dass sie darauf bestanden, mit dem nächsten Postschiff ins Reich zurückzukehren und an die Front zu gehen.

»Die Front ist hier«, erklärte Rassnitz bei einer Besprechung mit dem Gouverneur. »Wir können keinen Schützen entbehren, kein einziges Gewehr.«

»Ich kann die Leute nicht hier halten, wenn sie nicht bleiben wollen.«

»Sie können. Samoa steht unter Kriegsrecht.«

»Das ist ein Umstand, den ich lieber nicht betonen möchte. Kriegsrecht! Das klingt, als würde ich die Kolonie von nun an mit Gewalt regieren wollen. Hören Sie, Oberst, ich will nicht, dass sich bei uns etwas ändert. Ich will Ruhe und Frieden.«

»Im Krieg gibt es keine Ruhe. Warten Sie nur, bis das erste feindliche Kriegsschiff vor Apia auftaucht, dann werden sich alle hinter uns scharen und wir werden kämpfen wie Helden.«

»Zu welchem Zweck, Oberst, sagen Sie mir das?«

»Um die Kolonie zu halten, selbstverständlich. Halten, bis das Südseegeschwader uns zu Hilfe eilt und den Feind versenkt.«

»Sie schlagen also vor, dass wir uns eingraben?«

»Genau das. Im Ernstfall werden wir uns ein Stück ins Inselinnere von Upolu zurückziehen, wo wir uns in vorbereiteten Gräben verschanzen. Sobald die Feinde gelandet sind und sich in Sicherheit wiegen, werden wir zuschlagen.«

»Und Savaii?«

»Dasselbe. Leutnant von Arnsberg muss die Insel halten.«

»Arnsberg ist so gut wie verabschiedet, Oberst. Er erscheint ja nicht mal mehr zum Dienst, wie Sie mir selbst berichtet haben.«

»Ich kann mir meine Leutnants im Moment leider nicht aussuchen, Exzellenz. Einem Samoaner das Kommando zu geben, das kommt nicht in Frage, ebenso wenig wie irgendeinem deutschen Kokosbauern, der noch grün hinter den Ohren ist. Besser Arnsberg als keiner. Da kann er mal zeigen, was in ihm steckt.«

»Warum sollte er das tun, so übel, wie Sie ihm mitgespielt haben? Gegen meine ausdrückliche Order, übrigens. Sie hatten lediglich den Auftrag, die Erfüllung der Bedingung zu überwachen, die ich ihm gestellt hatte.«

»Bei allem Respekt: Das ist wohl kaum der rechte Zeitpunkt, um über solchen Firlefanz zu diskutieren, Exzellenz. Sehen Sie es doch mal so: Arnsberg bekommt jetzt eine hervorragende Gelegenheit, die Sympathie und Achtung zurückzugewinnen, die er bei uns verloren hat. Wenn er sich wacker schlägt, wird alle Schmach getilgt sein.«

 

Tuila hatte fast eine ganze Woche lang in den Wäldern rund um den Toiawea gelebt. Das Gefühl der Einsamkeit war tief und erfrischend gewesen. Nur umgeben von den Stämmen der Riesenfeigen, den schwarzen, durch das Gebüsch fliehenden Schweinen und von den Liedern unsichtbarer Sänger inmitten des exotischen Blätterdachs ließ es sich besser nachdenken als irgendwo sonst. Am Tag suchte sie nach Früchten und Wurzeln, nachts schlief sie, ein wenig geplagt von Mücken, auf einem Bett aus Bananenblättern.

Wo auch immer sie hinging, begegnete ihr der rote Käfer; nicht einer, sondern Hunderte davon. Er, der ihr früher nicht aufgefallen war, krabbelte über ihr Blätterbett, über das Obst, das sie pflücken, und die Wege, die sie beschreiten wollte. Er sonnte sich auf Steinen, schwirrte über die Bäche oder tauchte plötzlich aus der Sonne auf. Tupu war allgegenwärtig. Es war, als wolle er sie nicht loslassen, als verfüge er noch immer über die Macht, sie zu beeinflussen.

Aber nicht nur er. Das Gerücht, dass sie mit Tristan verheiratet war, hatte sich über die ganze Insel verbreitet, und aus diesem Samenkorn der Wahrheit zog Tupus Witwe Ivana nun eine regelrechte Schlingpflanze der Lüge und Selbsttäuschung: Der Missionar habe die Eheschließung publik machen wollen, und Tupu habe nichts anderes gewollt, als dem alten Mann den Mund zu stopfen, bevor Tristan und Tuila in eine schwierige Lage gekommen wären. Und so sei es ihm gedankt worden, mit vier Kugeln in der Brust.

Erst diese absurde Geschichte öffnete Tuila die Augen. Sie kannte Tristan, und sie kannte Tupu. Wenn sie sich zu entscheiden hatte, wer von beiden der Niederträchtige war und wer der Ehrenhafte, musste sie nicht lange überlegen, denn nur, wenn man Tupu als Widerstandskämpfer und heimlichen Erpresser Tristans sah, ergab alles einen Sinn. Nach und nach, auch ohne die Erläuterungen ihres Mannes, verstand sie, wie sich die Dinge zusammenfügten.

Eines Abends ging sie wieder nach Palauli. Ihre Mutter und Ivana saßen schweigend im fale und aßen ein gegrilltes Täubchen, das ihnen jemand aus dem Dorf vorbeigebracht hatte. Moana wurde mit Bananenbrei gefüttert. Tuila setzte sich ihnen gegenüber, und die beiden sahen sie an.

»Wirst du wieder hier wohnen?«, fragte Vaonila.

»Nein, im Palast.«

»Du gehst also zu ihm zurück«, sagte Ivana mit schmalen Lippen. »Nach allem, was er uns angetan hat.«

»Ja«, sagte Tuila. »Er hat uns wirklich Schlimmes angetan. Er hat dich und Moana unter Einsatz seines eigenen Lebens gerettet. Er hat versucht, unseren Vater zu retten. Er hat ein Haus gebaut, das er euch geöffnet hat, und er hat solange zu Tupu gehalten, bis es ihn an den Rand des Verrats gegen die Deutschen brachte. Er hat mich zur Frau genommen, obwohl er wusste, wie gefährlich das war.«

»Er hat Tupu erschossen!«, schrie Ivana. »Meinen Mann!«

Tuila ignorierte Ivana und sah ihre Mutter an. »Tupu war ein Mörder, du weißt es. Ohne Rücksicht auf uns, speziell auf mich, hat er Tristan benutzt. Wären wir ein unabhängiges Volk ohne die Gesetze der Deutschen, würde man Tupu an einen Pfahl gebunden haben und hätte ihn verdursten lassen. Tun wir doch nicht so, als sei mein Bruder  – dein Sohn – gestorben, weil er ein Krieger war, denn so ist es nicht. Wir wollen es nicht gerne wahrhaben, aber er ist gestorben, weil er ein Feigling war, ein grausamer Feigling.«

Sie streckte die geschlossene Faust nach vorn und öffnete sie. Ein kleiner roter Käfer krabbelte orientierungslos auf der Handfläche herum. »Denkt ihr, was ihr wollt. Aber für mich ist Tupu, der Tupu des letzten Jahres, erledigt.«

Und dann erschlug sie den Käfer.

 

In der Polizeistation brannte nur eine einzige Lampe, deren schummriges Licht sich in der Flasche mit dem glasklaren Inhalt brach. An der Wand lehnte ein Gewehr und verbreitete einen dumpfen, öligen Geruch, wie zur Erinnerung, dass es einsatzbereit war. Tristan schenkte sich ein Glas Gin randvoll ein, bevor er zum Fenster ging und in die schwarze Nacht starrte.

Der Krieg hatte ihn wieder an seine Arbeit getrieben. Nachdem der Gouverneur ihm brieflich die schwierige Lage mitgeteilt und gesagt hatte, dass man ihn jetzt brauche, hatte Tristan sich nicht verweigern können. Er dachte an seine Eltern, die nicht weit entfernt von der Grenze zu Frankreich lebten, und an die jungen Gutsbauern, die in diesen Tagen uniformiert ins Feld rücken würden. Wie alle anderen würde er seine Pflicht tun, wenn das Land ihn brauchte, selbst hier, selbst im Paradies. Keinen Moment hatte er nach dem Brief des Gouverneurs gezögert, hatte seine Uniform gesäubert und glatt gestrichen, hatte Hemden für eine Woche eingepackt und alles andere, das er brauchte, um eine Weile in der Polizeistation Quartier zu beziehen. Den Gin brauchte er für die Abende. Am Tag war er ausreichend abgelenkt mit der Befestigung der Station, der Aufsicht über die Arbeiten an den Gräben am Waldrand, dem Kontakt zu den Siedlern und mit den übrigen tausend Dingen, die einem möglichen Kampf vorausgingen. Aber die Nächte waren furchtbar, so oder so, mit oder ohne Gin, aber mit Gin waren sie wenigstens nicht so lang. Nach Tupus Hinrichtung hatte er mit dem Trinken angefangen, weil er noch nie zuvor einen Menschen erschossen hatte, und in den Tagen darauf hatte er weitergetrunken, weil er fürchtete, dass Tuila ihn verlassen könnte. Doch dann – seltsam –, gestern in der Nacht, hatte er plötzlich gespürt, dass sie ihn verstehen würde. Es war beinahe so, als wäre sie bei ihm und spräche mit ihm, und obwohl sie nicht bei ihm war, kam es ihm vor, als seien sie sich noch nie so nahe gewesen. Er wusste, sie würde ihn nicht verlassen. Er wusste, sie berührte ihn.

Als am anderen Ende der Stube die Tür leise knarrend aufging, spürte er, ohne sich umzudrehen, dass sie es war, die hereinkam. Er hörte ihren leichten, barfüßigen Schritt auf dem Stein, und als sie direkt hinter ihm stand, lächelte er in die Fensterscheibe, in der sich ihr hellbrauner Oberkörper, zur Hälfte von der Lampe zart beschienen, spiegelte.

»Du trinkst viel«, flüsterte sie. »Meinetwegen?«

Er verneinte. »Nur noch wegen des Krieges. Er kann alles verändern.«

»Magst du mich nicht ansehen?«

»Ich sehe dich, Vögelchen. In der Scheibe.« Trotzdem drehte er sich um. »Ich möchte dich küssen.«

Sie blinzelte ihn an und lächelte wie Mona Lisa. »Ich bin deine Frau. Küss mich.«

»Und Tupu?«

»Tupu ist tot. Hör mir gut zu! Er ist tot! Alles an ihm ist tot. Ich lasse nicht länger zu, dass er unser Leben bestimmt. Du hast ihn erschossen, und ich habe ihn erschlagen.«

»Erschlagen?«

»Frag nicht länger. Ich bin hier, weil sein Körper und sein Wille keine Macht mehr haben. Ich bin zu dir gekommen, um dir das alles zu sagen und dann nie wieder darüber zu sprechen.«

Er stellte sein Glas ab und zog, ohne sie aus den Augen zu lassen, seine Uniform aus, bis er fast nackt vor ihr stand. Seine Hände strichen über ihre Schultern, und ihre Hände lagen auf seiner Brust.

»Weißt du noch«, flüsterte er, »damals in der Obstpflanzung?«

Sie lachte kurz. »Ja.«

»Dort lagen wir zum ersten Mal beisammen.«

»Und ich habe mich über deine Brusthaare lustig gemacht. Weil ich Brusthaare nicht kannte.«

»Sie kitzelten dich.«

»Sie kitzelten mich. Sie haben mich verrückt gemacht – in mehr als einer Hinsicht.«

»Wie? Du hast dich zuerst in meine Brusthaare verliebt?«

»Zuerst in die Brusthaare.«

»Und dann in den ganzen Rest?«

»Und dann in den ganzen Rest, vom Scheitel zur Sohle. Nichts ist seither anders an dieser Liebe geworden, nichts ist weniger geworden. Mir ist jetzt klar, dass unsere Herzen nicht zwei sind, sie sind eins.«

»Das ist auch mir klar geworden, Tuila. Gestern.«

»Ja, gestern. So war es bei mir auch. Irgendetwas war gestern bei uns.«

Sie drückte ihr Ohr auf sein Herz, und so gingen sie hinaus ins Dunkel, Mann und Frau, hinunter zum Steg. Sie fürchteten nicht, dass einer sie sehen könnte, und selbst wenn, so wäre es ihnen egal gewesen. Tuila fühlte seine Stärke, und er die ihre.

»Du sollst wissen, dass ich kämpfen werde, wenn es sein muss.«

»Du meinst diesen Krieg? Er ist nicht hier.«

»Heute nicht, nein.«

»Du willst für deinen Vater kämpfen.«

»Für mein Land.«

»Und für deinen Vater.«

»Für uns, Tuila. Für unsere Zukunft in Samoa. Für unser Kind, das hier aufwachsen soll. Niemand soll unserem Kind nachrufen, dass sein Vater ein Feigling und Verräter ist.«

Tuila schwieg dazu, so als könne sie den Krieg durch Schweigen beenden.

Am Ende des Stegs angekommen, legten sie sich auf die warmen Planken, schauten in den Nachthimmel und sahen, wie eine Wolkenwand einen Stern nach dem anderen verdunkelte. Beide hörten sie das schwere Geräusch des Ozeans, schmeckten den Wind und spürten durch die Finsternis hindurch die Welt, die sie umgab. Sie berührten und küssten sich. Tuila löste ihr Hüfttuch, und sie wickelten sich darin ein. Alles um sie herum schien ihnen unwichtig und klein, die Ewigkeit, das All, die Konflikte der Menschheit … Sie verstanden für einige Stunden nicht mehr, was an allem so bedeutend sein sollte, wo es doch diese Nacht gab. So lagen sie beieinander, umschlungen, ein Ganzes, zusammen mit dem Kind, das in Tuila heranwuchs.

 

Im Morgengrauen zog warmer Dunst über das Wasser wie Nebelschwaden, vom Passat getrieben. Das Meer war still, und das Wasser gluckerte am Steg. In der Ferne bellte ein Hund.

Tristan erwachte als Erster. Er spürte seine Knochen, denn ein Holzsteg war kein weiches Bett. Vorsichtig befreite er sich von dem Tuch, in das er noch immer mit Tuila eingewickelt war. Sie schlief noch. Er betrachtete ihre geschlossenen Lider und legte seine Hand auf ihren Unterleib. Ihm fiel ein, dass er noch nie mit seinem Kind gesprochen hatte, das holte er jetzt nach, nicht mit lauter Stimme, sondern stumm wie bei einem Gebet. Es waren sehr einfache Dinge, die er zu sagen hatte: einen guten Morgen wünschen, ein »Ich liebe dich«, ein »Ich freue mich schon auf dich« …

Danach fühlte Tristan sich wach und munter. Vom Steg aus ließ er sich langsam in den Ozean gleiten, tauchte unter, wusch sich die Haare, tauchte wieder unter, und genoss die Erfrischung.

Er schwamm einmal um den Steg herum bis zum Ufer und stapfte dort durch den Sand zur Station hinauf. Die ersten Männer seiner Fita-Fita würden bald kommen, und er wollte nicht nackt vor ihnen stehen, also zog er sich wenigstens eine Hose an und spannte sich die Hosenträger über die Schultern. Als er das Fenster öffnete, bemerkte er einen leicht verbrannten Geruch, den er den Feuern des erwachten Salelologa zuschrieb.

Tuila rührte sich noch immer nicht unter ihrem Tuch. Früher war sie noch vor dem ersten Licht aufgestanden, aber seit der Schwangerschaft schlief sie länger. Er gönnte es ihr. Sie würde bald schon allzu wenig Ruhe bekommen, wenn das Kind erst da war.

Da sie sich nie an Kaffee gewöhnt hatte, bereitete er in der kleinen Küche der Station ein Potpourri aus Bananen, Mangos und Papayas zu, stieß Löcher in zwei Kokosnüsse und füllte die Milch in Schalen. Zwischendurch blickte er immer mal wieder hinunter zum Steg. Der Dunst über dem Meer verzog sich langsam, und obwohl Tristan keinen stärkeren Wind wahrnahm, hörte er ein starkes Rauschen.

Das Tablett war voll gestellt mit Schalen und Früchten, aber die Blumen, die Tuila so liebte, fehlten noch. Also ging er auf die der Landseite zugewandte Seite der Station und pflückte zwei Blütenstängel einer ihm unbekannten Art, die blutrot leuchteten. Er lächelte. Für meine beiden Schätze, würde er sagen, wenn er sie Tuila überreichte. Eine Blume für dich und eine für unser Kleines.

Er platzierte die Blüten auf dem Tablett, nahm es hoch und balancierte es nach draußen.

Als er den Hügel zum Steg hinunterging und einen Blick auf das Meer warf, tauchte plötzlich aus dem Dunst eine riesige, stählerne Silhouette auf, aus einem Schornstein qualmend, rauschend wie ein Wald, keine fünfhundert Meter entfernt.

Tristan brauchte einen Augenblick, um zu verstehen.

Er warf das Tablett zur Seite und lief in die Station. Dort griff er sich das Gewehr. »Tuila!«, schrie er aus dem Fenster. »Tuila, wach auf!«

Sie bewegte sich nicht.

Er verlor keine Sekunde. Das Gewehr im Anschlag, rannte er zum Steg, rief ihren Namen.

Sie wachte erst auf, als seine Schritte auf dem Holzsteg bebten.

»Was ist?«, fragte sie benommen.

»Ein Kreuzer. Ein neuseeländischer Kreuzer. Dort vorn.«

Sie erschrak und war sofort hellwach. »Was wollen die hier?«

»Die überfallen uns. In die Station, schnell.«

Tuila wickelte sich notdürftig das Tuch um die Hüften, und dann liefen sie geduckt über den Steg zurück. Am Ufer warf Tristan einen Blick über die Schulter und sah, dass die Neuseeländer ein Beiboot zu Wasser gelassen hatten. Von kräftigen Ruderschlägen getrieben, kam es schnell näher.

»Lauf in die Station«, sagte er.

»Du auch.«

»Ich komme nach. Tu, was ich sage. Und geh nicht ans Fenster.«

Er wartete, bis Tuila in der Station angekommen war, dann suchte er sich eine Mangrove, die dicht am Wasser stand, als Deckung.

Er überprüfte sein Gewehr, brachte es in Anschlag und wartete, bis das Boot nahe genug herangekommen war. Die sechs Ruderer waren allesamt blutjunge Burschen, nur der Steuermann sah erfahren aus, und er war es auch, der Befehle auf Englisch gab.

Ihn nahm Tristan ins Visier.

Er zielte, drückte ab.

Der Schuss löste hektische Aktivität auf der Barke aus. Der Steuermann sackte nach vorn, das Boot schlingerte.

Tristan feuerte drei weitere Patronen ab, zwei klatschten ins Wasser, die dritte verursachte einen Aufschrei.

Die Barke schaukelte heftig. Ein Mann fiel ins Wasser und wurde mit Mühe an Bord gezogen. »Back, back!«, schrie einer, doch da nur drei der sechs Rudermänner sich ins Zeug legten, fuhr das Boot Zickzack und gewann nur langsam Distanz zum Ufer.

Tristan feuerte nicht weiter, obwohl er noch zwei Patronen zur Verfügung hatte. Es ging ihm nicht darum, möglichst viele Angreifer zu töten oder zu verletzen. Er hatte die feindlichen Soldaten lediglich zum Rückzug bewegen wollen. Fürs Erste war Zeit gewonnen.

Er rannte zur Station, wo Tuila ihn an der Tür erwartete. »Tristan, ich habe Angst.«

»Dann sind wir schon zwei«, sagte er. »Bleib von Türen und Fenstern weg.«

Er war jetzt nur noch halb bei Tuila. Es gab so vieles, woran er jetzt denken musste.

Mittels einer halb verrosteten Sirene mit Handkurbel löste er Alarm aus. Die Einwohner von Salelologa zogen sich geordnet und aufgeregt schwatzend in die Wälder zurück, und von den zwölf Polizisten der Fita-Fita kamen immerhin sieben binnen weniger Minuten in die Station. Von den anderen musste man annehmen, dass sie sich nicht berufen fühlten, in den Krieg zu ziehen.

Tristan erklärte seinen Männern die Lage und teilte ihnen entlang der Station und des Ufers verschiedene Standorte zu, von denen aus sie einen möglichen weiteren Angriff abwehren sollten. Für den Fall, dass die Übermacht zu groß würde, sollte man sich in die ausgehobenen Stellungen am Waldrand zurückziehen.

Erst als alle Gewehre und Munition ausgegeben waren und der Raum sich geleert hatte, wandte er sich wieder Tuila zu.

»Was soll das, Tristan?«, fragte sie besorgt. »Warum machst du das?«

»Weil es meine Aufgabe ist. Gestern habe ich versucht, es dir zu erklären.«

»Gestern ist plötzlich so weit weg, Tristan. Gestern war kein Krieg. Heute kommt er über das Wasser zu uns.«

Er sah sie mit einer Mischung aus Zärtlichkeit und Trotz an. »Ich muss es tun.«

»Was?«

»Kämpfen.«

»Gegen ein stählernes Ungeheuer kämpfen? Niemand darf das von dir verlangen.« Die letzten Worte klangen schon nicht mehr überzeugt.

»Hier bist du nicht sicher«, sagte er leise. »Geh mit den anderen in die Wälder.«

»Ich will nicht. Ich will hier bleiben.«

Einer der Polizisten schrie Alarm, und als Tristan vorsichtig aus dem Fenster blickte, sah er vier Barken sich der Küste nähern. Der Dunst hatte sich vollständig verzogen. Es herrschte klare Sicht.

»Feuer frei«, befahl Tristan, und sofort hallte der Morgen von Schüssen wider. Diesmal erwiderten die Neuseeländer das Feuer.

Tristan benutzte den Fensterrahmen als Stütze für sein Gewehr. Die Waffen der fünf Polizisten, die nicht erschienen waren, lagen geladen bereit, und so konnte er beinahe fünf Minuten ohne Pause schießen.

Tuila hockte nicht weit von ihm in einer Ecke und hielt sich die Ohren zu. Sie weinte. Aber als sie sah, dass Tristan ihre Hilfe brauchte, lud sie Patronen nach, so gut sie konnte. Nie zuvor hatte sie ein Gewehr in Händen gehalten. Sie hasste Waffen.

Die Fita-Fita schlug sich wacker. Hinter Stämmen und Brettern verborgen, boten sie für die Neuseeländer ein schlechtes Ziel, während diese auf dem Wasser nahezu ungeschützt waren. Jedesmal, wenn sie versuchten, der Küste zu nahe zu kommen, splitterte das Holz ihrer Barken und einzelne Soldaten schrien auf. Schließlich stürzten sich einige von ihnen sogar ins Meer, um dem Kugelhagel zu entgehen. Bald ruderten die Boote zurück, außerhalb der Schussweite.

Unter den Polizisten brach Jubel aus. Sie waren Nachfahren von Jägern und Kriegern und hatten noch nie richtig von ihren Waffen Gebrauch machen können. Das Gefecht war für sie eine Reminiszenz an ihre Ahnen, ein rituelles Abenteuer.

»Gut gemacht!«, rief Tristan aus dem Fenster. »Ich schwöre euch, ihr bekommt alle einen Orden.« Er wandte sich Tuila zu. »Und du auch.«

»Orden«, sagte sie erregt. »Ein Stück glänzendes Metall. Vor Jahrhunderten, als ihr über das Meer zu uns gekommen seid, da habt ihr uns auch glitzernde Glasmurmeln gegeben, im Tausch gegen die Schätze unserer Wälder und Berge. Und heute gebt ihr uns noch immer solch dummes Zeug, diesmal im Tausch gegen unser Leben. Das Alberne daran ist, dass ihr mittlerweile selber auf den Tand hereinfallt. Geht es dir darum? Um einen Blechstern?«

»Sei nicht bitter«, sagte er und strahlte über das ganze Gesicht. »Wir haben einen Sieg errungen.«

Erneut begann sie zu weinen.

»Nicht doch«, flüsterte er und nahm sie in den Arm. »Nicht weinen. Scht, mein Vögelchen, scht. Leg dich etwas hin. Ruh dich aus.«

»Ich will nicht«, antwortete sie müde. »Ich will hier weg. Mit dir, Tristan. Warum gehen wir nicht einfach weg? Was geht uns das alles an? Sag mir das.«

Er führte sie zu einer Pritsche im Nebenraum, und als er sie zudecken wollte, war ein Pfeifen zu hören und gleich darauf ein furchtbares Donnern.

Sie liefen zum Fenster und sahen noch, wie eine gewaltige Fontäne unmittelbar neben dem Steg aufstieg und wieder in sich zusammenbrach.

»Geschützfeuer!«, schrie Tristan. »Alles in Deckung!«

Gleich darauf detonierte eine Granate am Strand und riss einen Krater vom Durchmesser eines Mannes in den Sand.

»Lauf«, befahl er Tuila. »In den Wald, nun lauf schon.«

»Nicht ohne dich.«

»Wir haben keine Zeit für so etwas.« Er nahm Tuila an den Schultern und schob sie durch die Räume der Station zum Hinterausgang.

»Geh, Vögelchen. Denk an unser Kind. Mir kann nichts passieren, solange ich in dir bin.«

Die Erde erzitterte, und eine Feuersäule stieg in den Himmel, gefolgt von einem schwarzen Rauchpilz. Das Polizeiboot war getroffen.

Tuila blickte ihn entsetzt an. »Es gibt so vieles, was wir noch nicht gemacht haben, Tristan. So vieles will ich dir noch zeigen. Die Schildkröten, wenn sie in der Nacht ihre Eier legen, den Gipfel des Toiawea, die Drachenblume, die nur ganz oben wächst …«

»Das machen wir alles noch.«

»Versprich es.«

»Ich verspreche es. Jetzt musst du gehen.«

Eine dumpfe Explosion, Schreie, ein Baum zersplitterte in Millionen Teilchen.

»Ich muss zu den Männern«, sagte er. »Wenn ich ihnen keinen Befehl gebe, ziehen sie sich nicht zurück. Ich muss zu ihnen.«

Er stieß sie von sich. »Geh endlich, Vögelchen. Geh.« Es klang wie ein Befehl. »Hörst du nicht? Denk an das Kind!«

Sie hörte zu weinen auf, aber ihre Lippen zitterten. Und plötzlich ging ein Ruck durch sie, und sie sah Tristan fest und mit weit geöffneten Augen an, bevor sie sich umwandte und in den Wald lief.

Sie drehte sich nicht mehr um.

Als er sah, dass sie in Sicherheit war, ging er wieder in die Station. Dort griff er ein Gewehr, hielt es aus dem Fenster und schoss. Er schoss aufs Meer. Irgendwohin. Er konnte nichts sehen, denn seine Augen waren nass von Tränen.

Als die Erde direkt vor der Station aufspritzte und ihm die Brocken um die Ohren flogen, befahl er den Rückzug.

Er stürzte zur Tür.

Eine Druckwelle zog ihm die Beine weg, und er spürte noch, wie sein Körper durch die Luft wirbelte.