»Ich liebe das
Land.
Ich habe es erwählt als meine Heimat zu
Lebzeiten
und als Grabstätte nach meinem
Tod.
Und ich liebe die Menschen,
und ich habe sie erwählt als mein
Volk,
mit dem ich leben und sterben will.«
Robert Louis Stevenson, 1894, über Samoa
1
Samoa, November 2005
Ili Valaisi fragte sich manchmal, was die Leute an Papayas fanden. Papayas waren launisch. Sie wuchsen, wie und wann sie wollten. Der Erntezeitpunkt lag normalerweise zwischen Juli und Oktober, aber gab es ein bisschen mehr oder weniger Regen, ein bisschen mehr oder weniger Wind, ein bisschen mehr oder weniger Celsiusgrade hinter dem Komma, ließen die Papayas sich Zeit oder reiften im Gegenteil besonders schnell heran. Ili hatte einmal eine Papaya im Mai vom Stamm geholt, ohne zu wissen, ob die Frucht nun ein Nachzügler der letzten Ernte oder ein Vorbote der kommenden war. Papayas waren angeberisch. Größer als die meisten anderen Tropenfrüchte, schienen sie hinter ihren weichen grüngelben Schalen eine saftige Verheißung zu verbergen.
Ilis alte und geübte Hand zerteilte die Frucht mit einem konsequenten Messerschnitt, so dass die Papayahälften nach beiden Seiten auseinander fielen. Die Hälfte des Inneren füllten Hunderte schwarzer Kerne; ein Zeichen, wie stark der Drang der Papaya nach Fortpflanzung war. Schabte man die Kerne aus, was einige Mühe machte, blieb nur allzu wenig des hellroten Fruchtfleisches übrig, und da die Schale ungenießbar war und sich zudem nicht abschälen ließ, musste sie mit einem Messer abgetrennt werden, was weitere Verluste an Fruchtfleisch zur Folge hatte. Übrig blieb ein kläglicher Rest, weniger saftig als eine Melone und weniger süß als eine Mango.
Mehr als einmal hatte sie sich die Frage gestellt, warum sie ausgerechnet eine Papayaplantage betrieb. Alle anderen Plantagenbesitzer bauten Kokosnüsse an, Ananas, Bananen, Mangos oder Taro, die Südseekartoffel. In letzter Zeit verlegten sich immer mehr Landbesitzer auf den Anbau von Kaffee, angelockt von großartigen Versprechungen der amerikanischen und europäischen Kaffeekonzerne. So weit Ili wusste, war sie die einzige Plantagenbesitzerin Samoas, die ausschließlich Papayas anbaute. Vielleicht lag darin schon die Antwort. Sie war seit jeher gern aus der Reihe getanzt. In ihrer Kindheit hatte man sie spüren lassen, dass sie anders war als die übrigen Kinder, doch statt sich davon kränken zu lassen, betrachtete sie dieses Anderssein als Vorteil. Sie erlaubte sich, Fragen zu stellen, quer zu denken und offen ihre Meinung zu äußern, seltene Eigenschaften im kleinen und konservativen Königreich Samoa. Außerdem war sie mit Papayas aufgewachsen. Der erste Duft, an den sie sich erinnerte, war der von Papayas, und das erste Bild, wie ihre Mutter sie mit einer riesigen Papaya in der Hand anlächelte. Irgendwie hätte sie die launischen, angeberischen Früchte vermisst.
Trotzdem betrachtete Ili es als eine Art Rache an der widerspenstigen Frucht, dass sie jene, die sie nicht für den Export nach Australien, Neuseeland und Europa verkaufte, sondern zum Eigenbedarf zurückbehielt, optimal nutzte. Die Kerne trocknete sie in der Sonne; sie gaben einen würzigen Pfefferersatz ab. Und die Schalen legte sie für die Vögel zurecht, die mit ihren Schnäbeln die Fruchtfleischfetzen abpickten. Die ersten kamen bereits herangehüpft, vier Loris und ein Singstar. Ili begrüßte sie mit einem breiten Lächeln. Es würden noch mehr werden.
Schon als Kind liebte sie es, Vögel zu füttern, und hatte nie mehr damit aufgehört. Bereits in der sechzigsten oder siebzigsten Generation holten ihre fliegenden Freunde sich jeden Morgen und jeden Abend einige Leckerbissen bei ihr ab. Tausende Loris und Papageien hatte sie kommen und verschwinden sehen; sie wurden geboren, bekamen von ihren Eltern die Futterplätze gezeigt, fassten Vertrauen zu Ili, wurden selbst Eltern und führten ihrerseits wieder die Jungen zu Ilis Futterplatz hinter dem Haus, im Schatten der Papayas. So ging es viele Jahre, bis sie alt wurden und eines Tages ausblieben. Aber ihre Kinder und Kindeskinder waren bis dahin längst Stammgäste geworden.
Die Vögel waren ein Symbol für das, was Ili unter Glück verstand. Für sie hatte der Lauf der Natur etwas wunderbar Beruhigendes, ja auch Tröstliches, und sie konnte sich nicht vorstellen, ohne die immer gleiche Abfolge von Werden, Leben und Vergehen zu sein, ohne die Erinnerung an Vergangenes und ohne die Freude am Augenblick. Sie genoss es, wenn alljährlich ab Mai Passatwinde durch die Blätter des bergigen Tropenwaldes rauschten oder wenn im Gebüsch am Haus eine Zikade sang, sie genoss das weite Feld des Pazifischen Ozeans, die Fontänen vorbeiziehender Wale, den Duft brennender Kokosschalen im Erdofen und das Gelächter junger Leute, wenn sie, bunte Tücher um die Hüften, vom Baden kamen. Mondlicht, wenn es schräg durch die Blätter der Papayabäume fiel. Bienengesumme. Das Vorbeihuschen eines neugierigen Geckos. Von der Veranda aus in den Sommerregen zu lauschen. Das alles bedeutete wahres Glück für sie.
Sie kannte nur Savaii, die größte der vier Inseln Samoas, ein verlorener Punkt von vierzig mal sechzig Kilometern im unendlichen Pazifik, aber sie war sich sicher, dass es keinen zweiten Platz wie diesen auf der Welt gab. Nirgendwo sonst war die Unveränderlichkeit der Natur stärker zu spüren als hier – unveränderlich im Laufe eines Menschenlebens.
Ein samoanisches Sprichwort besagte, dass ein Mensch mehr Wurzeln hat als ein Baum. So war es. Mit vielen Orten auf der Insel verband sie eine spezielle Erinnerung, jede einzelne wie eine Wurzel, die ihr Kraft gab: die mächtige grüne Kappe des Mafane, auf den ihre Mutter sie als Mädchen hinaufgeführt hatte, die heiteren Feste in Palauli, dem Dorf ihrer Vorfahren, wo sie zum ersten Mal tanzen durfte, oder die kantigen Lavafelder im Norden, über die sie barfuß mit Senji spazieren gegangen war. Aber noch wichtiger als diese einzelnen, lebendigen Erinnerungen waren die Farben, Gerüche und Geräusche, die so alltäglich waren, dass selbst sie sie manchmal nicht mehr wahrnahm, und die doch unbewusst dieses starke Band zwischen ihr und der Insel bildeten. Da war die riesige rote Blüte des Flamboyantstrauches, die oft ganz unerwartet aufleuchtete. Der Anblick der gewaltigen Wolkentürme, die im Abendrot glühten, während von ferne die Gesänge der Männer durch den Wald hallten. Die kalten Bäche aus den Bergen, die über Felsentreppen hinab zur Küste plätscherten. Der schmale Pfad zum Mount Mafane hinauf, überdacht von den gewaltigen Riesenfeigen, den Muskatbäumen und grazilen Myrtazeen. Und natürlich gehörte auch ihr hölzernes Haus an der Palauli Bay dazu. Es war viel zu groß für die drei Frauen, die es bewohnten, es war ein Palast, auch wenn Ili dieses Wort ungern benutzte, das die Samoaner ihm gegeben hatten: faletele papaia, der Papaya-Palast. Hier war der Ort ihrer Kindheit, ihrer Ehe, ihrer guten und schlechten Tage seit mehr als neunzig Jahren.
Wenn Ili ihr Leben auf diese Weise betrachtete, fand sie, dass sie es nicht schlecht getroffen hatte. Gewiss, zu oft hatte sie kämpfen müssen, sogar um die selbstverständlichsten Dinge wie ihren Namen. Manches war ihr allzu früh abhanden gekommen, anderes immer versagt geblieben, vor allem Kinder, die sie gerne gehabt hätte. Viel, viel zu lange schon fehlte ihr ein Mensch, dem sie eine Stütze hätte sein können, was wiederum ihr selbst eine Stütze gewesen wäre und ihrem Leben eine Richtung gegeben hätte. Aber wenn sie wie jeden Tag die hundert Schritte zum Sand der Palauli Bay machte, das Meer sanft an die Bucht branden sah und die Südseesonne auf ihrer Haut spürte, wenn sie sich dann anschließend hinter das Haus setzte, die Vögel aus dem nahen Tropenwald lockte und ihnen beim Schnäbeln zusah, dann wusste sie, dass es ungerecht wäre, mit ihrem Leben zu hadern.
Trotzdem kam es vor, dass sie dem eigenen Schicksal Fragen stellte: Was wäre geschehen, wenn meine Großeltern mich damals nach Deutschland geholt hätten? Oder wenn es Moana nicht gäbe?
Sie wurde von Moana seit achtzig Jahren gehasst und hasste sie seit mindestens sechzig Jahren. Ihr gegenseitiger Hass hatte schleichend begonnen, hatte Schritt für Schritt genommen und sich in jener schrecklichen Oktobernacht 1942 vollendet. Seither sprachen sie kein einziges Wort mehr miteinander.
Dennoch lebten sie im gleichen Haus.
Plötzlich schreckte die bunte Vogelschar auf und flüchtete sich auf die nächsten Äste. Ili wusste sofort, was das bedeutete.
»Talofa, Ane«, sagte sie, ohne sich umzudrehen.
»Ich dachte, dein Gehör ist nicht mehr so gut.« Ane gab ihr einen Kuss auf die Wange, und Ili spürte den Abdruck des frisch aufgelegten Lippenstiftes. »Talofa, Großtante.«
Im Grunde war sie nicht ihre Großtante. »Du hast die Vögel aufgeschreckt.«
»Die kommen wieder.«
Nicht, solange Ane da war. Es war seltsam, dachte Ili, dass die wilden Vögel sich bis heute nicht an den Anblick Anes gewöhnt hatten, obwohl sie hier im Haus lebte und immer schon hier gelebt hatte. Die Vögel misstrauten Ane. Es war, als spürten sie, dass Ane als Kind, also vor gar nicht so langer Zeit, jeden Vogel zu fangen versucht hatte, der auf dem Boden herumlief. Ili war nicht bekannt, dass Ane jemals Erfolg gehabt hätte, aber sie fragte sich manchmal, was Ane mit einem gefangenen Vogel getan hätte.
»Möchtest du dich zu mir setzen?«, bot Ili ihrer jungen Verwandten an, obwohl sie wusste, dass Ane es ablehnen würde. Ili saß nach samoanischer Art auf einer Matte auf dem Boden, im Schatten der Papayabäume, und Ane war nicht der Typ von Frau, der sich auf den Boden setzte. Man musste sie sich nur ansehen: die langen Haare seidig schwarz, klimpernde Armreifen, die Hände elegant in die Taschen knapper Shorts gesteckt, und die dunkel lackierten Fußnägel lugten aus Sandalen, die der goldene Schriftzug eines italienischen Modehauses zierte. In einer Papayaplantage wirkte die Zweiundzwanzigjährige so fremd wie auf dem Mond.
»Nein, danke«, lehnte Ane ab. »Ich muss die Fähre kriegen. Ich bin nur gekommen, um dich zu fragen, ob ich dir etwas aus Apia mitbringen soll.«
Ili warf Ane einen kurzen Blick zu und verstand sofort. »Also schön, was willst du?«, fragte sie.
»Was ich will? Ich bin gekommen, um zu fragen, was du willst.«
»Du hast mich nie gefragt, was ich will, Ane.« Ili konnte den leichten Vorwurf in ihrer Stimme nicht verbergen. Sie seufzte: »Raus damit. Was soll ich für dich tun?«
Ane kapitulierte schnell. Sie hätte es bestimmt lieber gehabt, nicht durchschaut zu werden, andererseits blieben ihr nun komplizierte rhetorische Überleitungen erspart.
»Ich könnte in Apia dein Gästezimmer anbieten.«
»Es ist keine Saison, jetzt, wo die Regenzeit beginnt.«
»Ich hätte da schon einen Interessenten.«
Ein fast unmerkliches Lächeln umspielte Ilis alten Mund. Ane war durchschaubar wie das Wasser um Samoas Küsten. »Einen Mann natürlich.«
»Spielt das eine Rolle?«
»Der letzte Mann, den du mir als Gast vermittelt hast, verlief sich nachts im Haus und kroch in mein Bett – was sicherlich für ihn ein noch größerer Schreck war als für mich.«
»Er hat sein Zimmer nicht gefunden, das kann jedem passieren.«
»Er hat dein Zimmer nicht gefunden, Ane. Bitte, ich bin eine alte Frau, aber ich bin nicht dumm.«
Ane schwieg.
»Ist dein neuer Wunschgast auch derjenige, der dir in letzter Zeit die teuren Geschenke macht und den gemieteten Jeep bezahlt?«
Ane schwieg weiter und malte mit ihrer Sandale sinnlose Muster in den Sand.
Ili hielt es für besser, es dabei bewenden zu lassen. Ane war nicht ihr Kind, nicht ihre Enkelin, sondern die Enkelin ihrer Cousine. Es gab eine Zeit, da sie versucht hatte, sich um das Mädchen zu kümmern, vielleicht sogar mehr um ihrer selbst willen als wegen Ane. Da war ein junges Geschöpf gewesen, das jemanden brauchte, und ihre Brust quoll zu dieser Zeit über von Liebe und Fürsorge, die sie niemandem sonst schenken konnte. Aber Moana, instinktsicher darin, sie dort zu treffen, wo es wehtat, hatte ihr eines Nachts eine Warnung an die Tür geheftet und darin jede Einmischung verboten. »Du hast meine Familie zerstört, Ili Valaisi. Ich schwöre dir, der Tag, an dem du dich in das Leben meiner einzigen Enkelin einmischst, wird dein letzter sein.«
Ili fragte sich manchmal, wie viel Moana eigentlich von ihrer Enkelin wusste. Gar nicht sosehr von dem Leben, das sie führte – obwohl auch das kapriziös genug war –, sondern von dem, was in Ane vorging. Von ihrer Seele.
»Also, was sage ich nun dem Interessenten?«, wollte Ane kleinlaut wissen. »Mir liegt etwas an ihm.«
»Nichts gegen deine Bekanntschaften, Ane. Aber mir wäre das momentan zu viel Aufwand. Warum fragst du nicht deine Großmutter? Sie hat genug Platz.«
Der Vorschlag war lächerlich, das wusste auch Ili.
Sie lehnte die dargebotene Hand dankend ab und rappelte sich allein hoch. Sie war nicht mehr so schlank wie in ihrer Jugend, und es gab viele Bewegungen und Tätigkeiten, die sie nicht mehr ohne weiteres ausführen konnte, aber sie wollte sich auf keinen Fall davon bezwingen lassen. Ihre glatten, vollen Wangen und ihr noch immer aufrechter Gang ließen ihr wahres Alter nicht vermuten, und ihre schwarzen Augen hatten die Fähigkeit nicht verloren, sowohl scharfsichtig als auch rebellisch oder neugierig blicken zu können. Fremde, die ihr bei der Gartenarbeit oder dem Kochen zusahen, schätzten sie stets auf Anfang bis Mitte siebzig. Trotzdem konnte es auch ihr zu viel werden, vor allem, wenn Fremde im Haus waren. Gäste machten Arbeit und waren auch sonst anstrengend. Vor allem Ehepaare. Ehepaare stritten entweder miteinander oder quasselten einem das Ohr ab. Das letzte Paar, dem sie das Zimmer vermietet hatte – zum Ende der letzten Saison Anfang Oktober –, war tagelang mit einem Fotoapparat um sie herumgelaufen und hatte am Ende sogar die Dreistigkeit besessen, sie zu fragen, ob sie sich nicht ein wenig »ursprünglicher« zurechtmachen könnte, sprich, ihr Oberteil ausziehen würde. »Früher liefen Samoaner oben ohne herum«, hatte der Mann gesagt. Und seine Frau fügte hinzu: »Sie haben sich zu sehr verwestlichen lassen, meine Liebe.« Ili antwortete ihnen: »Sobald Sie beide nur mit Hirschfell bekleidet herumlaufen wie Ihre Ahnen, ziehe ich auch meine Bluse aus.« Das Ehepaar verließ am nächsten Morgen ihr Haus.
Und nun sollte einer von Anes ausländischen Liebhabern ihr auf die Nerven gehen? »Bitte versteh mich«, sagte Ili und überging ihren eigenen Vorschlag, den Gast bei Moana einzuquartieren. »Die Ernte war anstrengend. Die Arbeiter mussten beaufsichtigt werden, die Verkäufe überwacht, Konditionen ausgehandelt …«
»Vielleicht sollten wir verkaufen.«
»Wie bitte?«
»Es gibt in Apia jetzt ein schönes Heim, wo Großmutter und du eure letzten Jahre genießen könntet.«
»Ich kann sie auch hier genießen«, gab Ili ärgerlich zurück.
»Aber dort würdest du betreut werden. Sieh mal, hier musst du kochen, dich um die Plantage kümmern, das Haus fegen und alle diese Dinge.«
»Diese Dinge machen mir Freude. Ich koche gerne.«
»Und was ist, wenn du das eines Tages nicht mehr schaffst? Du könntest ja auch unglücklich stürzen oder dich an deinem alten Ofen verbrennen oder …«
»Oder von Marsmenschen entführt werden«, ergänzte Ili bissig. Sie konnte nicht glauben, dass Ane mit einem solchen Vorschlag ankam. Sie konnte das alles einfach nicht ernst nehmen.
»Jetzt machst du Scherze darüber, Großtante, aber es könnte so kommen. Und wenn niemand in der Nähe ist? Was dann?«
»Dann«, seufzte Ili, »liege ich lieber eine Stunde unter Schmerzen dort, wo ich mein ganzes Leben verbracht habe, als fünf Jahre in einem Heim, in dem es nach Putzmittel und Creme riecht.«
»Trotzdem«, beharrte Ane. »Wir sollten ernsthaft überlegen, ob wir unser Haus und die Plantage nicht verkaufen. Und unser übriges Land auch.«
Ili presste die Lippen zusammen.
Es ist mein Haus und mein Land, dachte sie. Sie haben es mir gestohlen, deine Großmutter, deine ganze Familie. Und du irgendwie auch.
Ilis Kopf zitterte. Ihr lagen eine Menge Erwiderungen auf der Zunge, aber stattdessen sagte sie: »Du verpasst deine Fähre, Ane. Es ist besser, du gehst jetzt.«
Es verging kein Tag in Ilis Leben, an dem sie nicht wenigstens einmal durch die Papayaplantage streifte. Für jemanden, der für diese Früchte so wenig Sympathie aufbringen konnte wie sie, war das ein ziemlich ungewöhnliches Verhalten, zumindest außerhalb der Reifungszeit oder Ernte. Jetzt, wo die Papayas gepflückt waren, hätte sie die Plantage ohne weiteres sich selbst überlassen können. In den nächsten Monaten würde ausreichend Regen fallen, jeden Tag drei bis vier Stunden, manchmal sogar ganze Tage hindurch. Die warmen Schauer reinigten die Luft, tränkten den Boden und hielten die Bäume sattgrün. Die Papayas ruhten.
Ili jedoch ruhte nie. Nicht, dass sie große Eile an den Tag gelegt hätte, dies oder jenes zu erledigen, so wenig wie man einem Uhrwerk Eile unterstellen würde. Sie konnte nur nicht ohne Beschäftigung sein. Nachdem sie die Vögel versorgt hatte, bereitete sie gewöhnlich ihr Frühstück zu, meistens aus Brotfrüchten, die in Kokosmilch getunkt wurden, etwas Ananas und eine Tasse Tee. Sie liebte jedoch auch französische Mirabellenmarmelade, seit ein Gast ihr vor Jahren diese geschenkt hatte, und wann immer sie sie irgendwo ergattern konnte, kaufte sie sich zwei oder drei Gläser. Die kleinen Einkäufe erledigte sie immer noch selbst. Dazu schnürte sie sich einen Korb auf den Rücken und machte sich gemächlich auf den Fußmarsch nach Salelologa, einem größeren Dorf an der Ostseite, wo auch die Fähren nach Apia an- und ablegten. Vor einigen Gebäuden, die teils verfallen und teils wieder aufgebaut waren, blieb sie stehen und dachte kurz an ihre Mutter und an ihren Vater, den sie nie kennen gelernt hatte. Zu behaupten, sie bekomme beim Anblick dieser Orte einen Stich in der Brust, wäre übertrieben, aber ein Gefühl von Beklommenheit erfasste sie doch. Sie hatte nie ganz verwunden, weder eine Erinnerung noch ein Bild von ihrem Vater zu haben. Sie wusste alles über sein Leben, sogar Kleinigkeiten, denn ihre Mutter war, wenn sie von ihm angefangen hatte, aus dem Erzählen kaum noch herausgekommen. Doch von einem Dritten eine Darstellung und eine Geschichte überliefert zu bekommen, ist nicht dasselbe, wie jemanden mit eigenen Augen vor sich zu sehen, und sei es in einer verschwommenen Erinnerung an längst vergangene Zeiten. So hatte sich Ilis Bild ihres Vaters im Laufe der Jahrzehnte mehrfach verändert – in jeder Hinsicht. In ihrer Jugend sah sie ihn als Helden, später, nach dem Tod ihrer Mutter, entwickelte sie eine gewisse Skepsis ihm gegenüber, fand ihn ungeschickt, ja, feige, und heute kam es ihr vor, als sei er ein trauriger Mensch gewesen, der einfach nicht in seine Zeit passte. Im gleichen Maße, wie sich ihr Charakterbild von ihm veränderte, wandelte sich auch ihre physische Vorstellung, weg vom strahlenden Ritter, hin zum melancholischen, gedankenverlorenen Typ. Er war einfach keine feste Größe in ihrem Leben, und das war unbefriedigend, denn obwohl er ihr Leben mehr noch als ihre Mutter bestimmt hatte, war er aufgrund seiner für Ili schattenhaften Existenz nie ein wirklicher Teil davon geworden.
Während des Fußmarsches nach Salelologa und wieder zurück überlegte Ili sich bereits, was sonst noch im Haus oder im Garten zu tun sein könnte. Sie legte fest, wann sie den Holzboden fegen, das kleine Fischnetz in die Palauli Bay auswerfen oder den Erdofen reinigen würde. Wenn es einmal nichts mehr zu tun gab, schnitt sie Blumen und gab ihren Räumen damit neue Farbe.
Aber für die Plantage war immer Zeit. Sie redete sich zwar gerne ein, dass es Pflichtbewusstsein war, das sie zwischen die Papayas trieb, selbst wenn es nichts zu sehen gab. Tatsächlich jedoch bewegte sie sich gerne zwischen ihren Bäumen. So wenig sie die Früchte leiden konnte, so sehr liebte sie die Bäume an sich, die dünnen, hellgrünen Stämme, die Blätter, die in drei bis vier Metern Höhe wie überdimensionale Eichenblätter sternförmig vom Stamm wegstrebten, und die grünlich weißen Blüten. Die Gestalt und das Blattwerk der Papayas ließen die Sonnenstrahlen kaum durch und tauchten den Boden in ein diffuses, beinahe unwirkliches Licht. Während in den Wäldern um die Plantage herum turbulentes Treiben herrschte, blieben die Papayas stumm. Nur wer genauer hinsah, konnte auch hier vereinzelt Loris in den Baumkronen entdecken und Geckos, wenn sie die Stämme hinaufflitzten. Ansonsten war die Plantage eine Oase der Ruhe.
An diesem Vormittag unterbrach die Hupe von Ben Opalanis Lieferwagen die Stille. Der alte Ben – jeder nannte ihn so, sogar Ili, die zwanzig Jahre älter war als er – versorgte die Inselbewohner seit einem halben Jahrhundert mit allen Lebensmitteln, die entweder in den Wäldern nicht zu finden oder die zu schwer waren, um sie lange Strecken von den Läden in die Häuser zu tragen. Heutzutage, wo fast jede Familie ein Pferd mit Wagen besaß und manche gar ein Auto, gingen seine Geschäfte schlechter, aber Ili, die zwei Meilen vom nächsten Dorf entfernt lebte, war zu einer seiner besten Kundinnen geworden.
»Ben, du bist früh dran heute.« Sie öffnete ihm die Fahrertür, weil sie wusste, dass sie von innen klemmte, schon seit Jahren.
Er wuchtete seinen massigen Körper aus dem Wagen und streckte sich. Unter dem bunten Hemd wölbte sich sein Bauch wie eine Melone. »Ich habe in letzter Zeit wenig zu tun«, sagte er. »Zu wenig.«
Ili nickte verständig. Die meisten der älteren Inselbewohner besannen sich wieder auf frühere Zeiten und versorgten sich mehr und mehr von den Früchten und Tieren des Waldes, die nichts kosteten, und kauften so wenige Lebensmittel wie möglich hinzu. Die jungen Insulaner wiederum, die wenig Lust auf Jagd und Ernte hatten, gingen entweder in die Hauptstadt Apia oder verließen Samoa.
Ili beobachtete, wie Ben die Kisten mit Gemüse eine nach der anderen in die Küche trug und dabei sein Gesicht unter den Anstrengungen zu einer Fratze verzog. Durch seine Nase, die noch viel platter war als die der meisten anderen Samoaner, schnaufte er kräftig und tief. Obwohl er wegen seiner Körpermasse und dem großen, runden Kopf immer ein wenig bedrohlich wirkte, war er die Sanftmut in Person.
Er war einsilbiger als sonst. Normalerweise brauchte er fünf Minuten für das Abladen und eine halbe Stunde, um Ili den neuesten Tratsch zu erzählen, angefangen bei geplanten Beschlüssen des Fono, des samoanischen Parlamentes, über skandalöses oder lustiges Betragen von Touristen bis hin zu Von-wem-ist-sie-schwanger-Klatsch. Dass er in den letzten Jahren allerdings bewiesen hatte, dass er Geheimnisse auch für sich behalten konnte, insbesondere einige Geheimnisse der Familie Valaisi, rechnete Ili ihm hoch an.
»Ach, komm schon«, munterte Ili den alten Ben auf. »Die paar Jahre, die wir noch haben, überstehen wir auch noch.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, Ili. Ich höre auf.«
»Das sagst du schon, seit ich dich kenne«, erwiderte sie schmunzelnd.
Er schüttelte noch beharrlicher den Kopf. »Diesmal meine ich es ernst, Ili. Es geht nicht mehr. Die Kisten, die hätte ich auch noch mit achtzig geschleppt. Das Schlimme ist, dass es nichts mehr zu schleppen für mich gibt. Weißt du, wie viele Kunden ich noch habe? Neununddreißig.«
Ili biss sich auf die Lippe. Dass es so schlimm stand, hatte sie nicht gewusst. »Und deine Kaffeeplantage?«
»Die bringt mir nichts ein. Die Preise decken so gerade die Kosten. Da ist noch nicht die Arbeit mitgerechnet, die ich hineinstecke.«
Ili ging es kaum anders. Die Preise für Tropenfrüchte sanken seit zwanzig Jahren beharrlich, während die Anbaukosten gleich blieben. Wenn sie den Großhändler darauf ansprach, zog der nur eine gleichgültige Miene und sagte das alles erklärende und alles entschuldigende Zauberwort: der Weltmarkt. Der Weltmarkt war eben so. Mittlerweile war es so weit gekommen, dass Ili für jedes winzige Stück Technik, das von Neuseeland, Amerika oder Europa gekauft werden musste, umgerechnet sechshundert Papayas bezahlte. Eine Schraube kostete umgerechnet fünf Papayas.
Bei Kaffee war es noch schlimmer. Der wurde ja fast monatlich billiger.
Ben unterbrach den Kistentransport für einen Moment, stemmte seine schweren Arme in die Hüften und sah sich um. Ili konnte erkennen, dass er nur mühsam die Tränen zurückhalten konnte. »Ich werde mein Land verkaufen, Ili.«
Ili presste sich überrascht die Hand auf den Mund. »Ben, du … Du bist dort geboren worden. Du hast dein ganzes Leben dort verbracht. Deine Tochter und die Enkel ebenso.«
Er schluckte und sah zu Boden. »Meine Tochter ist durch ihren Mann versorgt und die Enkel … Was bedeutet denen noch das Land? Da ist ein Mann, Ili …, ein Amerikaner, der hat mir einen akzeptablen Preis geboten. Will ein Hotel bauen. Warum nicht? Und ich … ich wäre alle Sorgen mit einem Schlag los.«
»Du wärst auch deine Freude mit einem Schlag los. Das kannst du nicht ernst meinen. Versprich mir, dass du es dir noch einmal überlegst. Vielleicht, wenn du etwas anderes anbaust oder …«
»Ich habe mich schon entschieden«, sagte er knapp, doch schon einen Moment später verbarg er das Gesicht in den Händen, und sein massiger Körper zuckte unter den feinen Stößen aus seinem Innern. Ili rieb ihm schweigend den Rücken. Was hätte sie noch sagen können, welchen Trost konnte sie geben? Jedes Wort wäre hohl gewesen.
Eine Weile standen sie so da, bis Ben sich einen Ruck gab, mit den Ärmeln seines Hemdes etwas wegwischte, das keiner sehen sollte, und mit schweren Schritten wieder zur Ladefläche stapfte.
Er hielt zwei tote Hühner an den Füßen hoch.
»Moana hat die für heute bestellt. Bringst du sie ihr oder soll ich?«
Was will sie denn mit zwei Hühnern auf einmal?, dachte Ili. Hühner waren teuer, hielten sich nicht lange frisch, und für Ane und sie waren zwei ganze Hühner viel zu viel. Es sei denn, sie erwartete einen Gast. Aber das war absurd. Moana hatte seit zehn Jahren keinen Gast mehr empfangen, seit dem Tod ihres Sohnes …
Ein kalter Schauer jagte Ili über den Rücken, und sie schüttelte den Gedanken an diesen entsetzlichen Tag ab.
»Bitte bringe du sie ihr«, sagte Ili. »Außer dir und Ane hat sie ja niemanden, mit dem sie reden kann. Sie wird sich freuen.«
Was kümmert es mich eigentlich, ob Moana sich freut, warf Ili sich sogleich selbst vor. »Außerdem muss ich wieder in die Plantage«, redete sie sich heraus.
»Ili«, rief er ihr hinterher, und sie wandte sich noch einmal um.
»Ja?«
»Der Mann, der Amerikaner …«
»Was ist mit ihm?«
»Er hat gesagt, dass er sich auch für Land im Süden von Savaii interessiert, also hier. Lass es dir mal durch den Kopf gehen.«
Ili ging über die Plantage hinaus ins Innere der Insel. Sie ging schnell, viel zu schnell. Der Weg zum Mount Mafane war verschlungen, und die Mangroven und Brotfruchtbäume standen manchmal so dicht, dass ein Ortsfremder sich leicht verlaufen konnte. Sie jedoch kannte hier jeden Ast. Schon als kleines Kind war sie den Pfad entlangspaziert, ebenso allein wie jetzt. In Samoas Wäldern lebten keine gefährlichen Tiere, weder Raubkatzen noch Giftschlangen, und wenn sich im Gebüsch manchmal die Zweige bogen oder ferne Schritte zu hören waren, erkannte sie dahinter sofort ein scheues Wildschwein, einen Flughund oder Wildhühner. Normalerweise wanderte sie den Weg bis zum Ende, ganz langsam, auf jeden Schritt und jede Pflanze achtend. Heute jedoch nicht. Sie war erregt. Achtlos stieß sie Äste beiseite und trampelte über Farne hinweg. Ihr Herz raste. Sie nahm es dem alten Ben übel, was er zuletzt gesagt hatte. Nur, weil er selbst aufgab, hatte er kein Recht, andere zum Aufgeben zu verleiten! Und Ane auch nicht. Ja, wenn sie wenigstens aus ehrlicher Sorge gesprochen hätte …
Ein Stich durchfuhr ihre Brust, gleich danach ein zweiter. Ili blieb stehen und seufzte. Wenn ihr Herz jetzt aufhörte zu schlagen, wäre es ein schöner Tod an einem vertrauten Ort. Die Südseesonne stand an einem klaren Himmel, und das Konzert des Waldes erfüllte den Raum um sie herum. Sie war reich, nicht an Geld, sondern an Schätzen der Natur. Unter ihr lag das grüne Land, so weit das Auge reichte. Ein Viertel des Inselsüdens gehörte ihr, bedeckt von Tropenwald, zerklüfteten grünen Hügeln, engen Tälern mit Bächen und von Vögeln besetzten Felsen. Die Papayaplantage nahm sich dagegen nur wie ein Klecks aus, kaum ein Zehntel des Besitzes, und das Haus und der bunte Garten waren von hier oben nur Punkte. Dahinter breitete sich der Ozean aus, eine unendliche, milchig blaue, sich wölbende Fläche.
Die Erschöpfung drückte Ili zu Boden. Sie ließ sich zwischen Halmen und Farnen nieder, roch die Feuchtigkeit und schloss die Augen. Ein Vogel flatterte vorbei, vielleicht einer von denen, die sie immer fütterte.
Sie war einundneunzig Jahre alt, hatte eine große Seuche, zwei Weltkriege und drei Währungen überlebt, Schikanen und Wirtschaftskrisen durchgestanden, furchtbare Verluste erlitten und menschliche Enttäuschungen eingesteckt. Sie war geliebt worden und hatte geliebt – ihre Mutter, Senji und jeden einzelnen Tag ihres Lebens das Land, das Papayaland. Aber einmal musste Schluss sein. Einmal musste die Nacht kommen.
Moana wird sich freuen, dachte sie.
Und Ane? Ane vielleicht auch.
Aber die Nacht ließ auf sich warten. Der Schmerz in der Brust verschwand so plötzlich, wie er gekommen war. Ili lag noch einen Moment mit geschlossenen Augen auf dem Boden, bevor sie sich langsam aufrichtete. Alles war wie zuvor: die Sonne, der Wald, die Weite, das Leben … Die Natur überging einzelne Schicksale. Was hätte sie auch sonst tun sollen?
Ili atmete durch. An einem tief hängenden Ast zog sie sich wieder auf die Beine. Sie klopfte ihr einteiliges, rot und weiß gemustertes Tuch von den Schultern bis zu den Knöcheln ab und schaute wieder hinunter auf den Papaya-Palast, wie er, halb verborgen unter Palmen, in der Sonne ruhte.
Solange ich atme, werde ich hier bleiben, versprach sie sich. Und der Tag, an dem ich dich verlasse, wird mein letzter sein.
Diese Aussicht gab ihr die Stärke weiterzuleben.
Als sie ein paar Schritte zurückgegangen war, hörte sie das Geräusch einer Propellermaschine und blickte auf den Himmel über dem Meer. Das zweimotorige Wasserflugzeug bereitete soeben den Anflug auf die Küste der Nachbarinsel Upolu vor.
Zehn Uhr, dachte Ili. Noch nicht Mittag, und man hatte sie schon zweimal aufgefordert, das Land herzugeben. Und einmal ihr Leben, was auf das Gleiche hinauskam.
Was konnte ein solcher Tag wohl noch an Überraschungen bringen!