3
Auch das noch!
Das war das Erste, was Ili durch den Kopf ging, nachdem sie die Tür des Gästezimmers geschlossen hatte. Sie hatte schon so manchen kuriosen Gast unter ihrem Dach beherbergt. Da war eine Frau gewesen, die bei jedem Gecko, den sie sah, schreiend auf den nächstbesten Stuhl sprang, so als würde sie von einer Königskobra bedroht. Eine andere war mit Pinseln und Staffelei angereist – und mit einem Strohhut von den Ausmaßen eines Autoreifens – und kannte kein größeres Glück, als Ili zu malen, während sie Gartenarbeit verrichtete. Und ein nicht mehr junger Mann spazierte während der Ernte stundenlang durch die Plantage und beobachtete die halb nackten Arbeiter, wie sie sich abmühten und schwitzten. Vom Zugucken allein war er am Abend erschöpfter als die Erntearbeiter. Trotzdem hatte er bereits dreimal bei ihr logiert. Natürlich immer zur Erntezeit.
Aber eine Alkoholikerin war noch nie bei ihr untergekommen.
»Auch das noch!«, murmelte sie vor sich hin.
Sie hatte sofort den Weingeruch im Gästezimmer bemerkt, an sich noch nichts Ungewöhnliches. Viele Gäste stießen mit mitgebrachtem Sekt oder Wein auf einen schönen Urlaub an oder genehmigten sich einen Gin. Der Unterschied zwischen all diesen Leuten und Ilis neuem Gast war, dass die anderen ihre Spirituosen nicht versteckten, was Evelyn sehr wohl getan hatte – der Flaschenhals lugte unter der Decke hervor.
Ili stellte das Teewasser auf den uralten Gasherd und seufzte. Ane hatte aber auch ein Talent dafür, solche Leute ins Haus zu holen. Bestimmt war kein wahres Wort an dieser seltsamen Geschichte von der umherirrenden Frau, und Ane war es nur um ein paar Dollar gegangen. Aber nun war es eben so gekommen. Es war nicht Ilis Art, Gäste abzuweisen. Diese Evelyn war im Haus und sollte es auch bleiben, solange sie wollte. Das entsprach Ilis Verständnis von Gastfreundschaft.
Ebenso wie der Tee. Am ersten Tag lud sie Gäste stets zu einem Begrüßungsschwatz ein, und obwohl Ane schon mehrmals gemeint hatte, diese Sitte sei überholt und würde die Gäste, die heutzutage Distanz schätzten, nur stören, ließ Ili nicht davon ab. Waren die Menschen denn untereinander so distanziert geworden, dass sie Herzlichkeit ablehnten? Sie mochte das nicht glauben.
Mit einem Topflappen schob sie die gusseiserne Kanne von der Flamme und brühte den Tee auf. Als sie gleich darauf die quietschende Tür des Backofens öffnete, strömte ihr der Duft von Butterteig und Orangen entgegen.
In diesem Moment erschien Evelyn in der Tür. Sie hatte ihre schulterlangen Haare gekämmt und das schicke Kostüm durch eine weiße Jeans und ein knallrotes T-Shirt ersetzt. Trotzdem sah sie noch immer ein wenig blass und desolat aus.
»Oh, da sind Sie ja!«, rief Ili. »Ich dachte schon, Sie würden den Weg nicht finden in dem großen Haus.«
»Ich bin einfach dem Duft nachgegangen. Das riecht ja köstlich, beinahe vertraut.«
»Ich habe uns ein paar Scones gemacht, mit geriebenen Orangenschalen gemischt.«
»Scones!«, rief Evelyn überrascht. »Die habe ich zuletzt in Oxfordshire gegessen, bei einem Urlaub vor etlichen Jahren. Wie kommen Scones von England nach Samoa?«
»Über Neuseeland, vermutlich. Die Neuseeländer essen so gut wie alles, was Briten essen, und Samoa war bis vor vierundvierzig Jahren neuseeländische Kolonie, wissen Sie.«
»Das erklärt, warum so viele Samoaner perfektes Englisch sprechen, Sie eingeschlossen, Ili. Ich wunderte mich schon. Bei uns in Deutschland können gerade mal die Hälfte der Leute ein passables Englisch, dabei liegen wir viel näher an der Insel.«
Ili unterbrach das Umgießen des Tees und warf einen irritierten Blick auf Evelyn.
»Deutschland? Ihr Vorname … Ihre fließende Aussprache … Ich dachte tatsächlich, Sie seien … Eigentlich dachte ich gar nichts, aber dass Sie Deutsche sind, darauf wäre ich nie gekommen.«
Ili hatte erst ein einziges Mal Deutsche beherbergt, ein nettes, doch sehr schweigsames Ehepaar aus einem Ort namens Flensburg. Leider hatte sie keine wirkliche Beziehung zu ihnen aufbauen können, obwohl sie sich das sosehr gewünscht hatte. Alles, was mit Deutschland zusammenhing, interessierte sie.
Sie war zur Hälfte eine Deutsche.
Ich muss auf andere seltsam wirken, dachte Ili, als sie sich zusammen mit Evelyn auf den Boden der Veranda setzte und alle Dinge um sich herum platzierte, die zu einer britischen »Teatime« gehörten. Ein Teil von ihr, wohl der größte, war immer schon samoanisch gewesen, was sich an tausend Kleinigkeiten zeigte. Sie saß ungern auf Stühlen, sondern machte es sich stets auf den traditionellen Matten aus geflochtenen Palmblättern bequem, und zur Erfrischung trank sie am liebsten kava, das für alle Menschen außer Samoaner einfach nur nach gepfefferter Seife schmeckte. Sie liebte die bunten samoanischen Tücher, die man sich locker um den Körper wickelte, das ungesalzene, mit ein wenig Meerwasser beträufelte Essen, das man im Erdofen im eigenen Saft schmoren ließ, den Rhythmus von Trommeln und klatschenden Händen und die Blumengirlanden, die Frauen wie Männer sich aus reiner Freude am Duft um den Hals legten. Früher, als sie noch jung war, hatte sie die typischen Tätowierungen der Männer an den Beinen und an den Oberarmen ausgesprochen sinnlich gefunden. Jetzt, mit einundneunzig Jahren, war diese erotische Vorliebe freilich erloschen, dennoch betrachtete sie noch immer gern die blaugrauen Muster auf der Haut.
Trotz der Verbundenheit zu den alten Bräuchen ihres Volkes war die neuseeländische Kolonialzeit nicht ohne Wirkung auf Ili geblieben – sie hatte ja schließlich ihr halbes Leben damit verbracht. Das oft feuchtwarme Wetter Samoas verhinderte nicht, dass sie sowohl morgens wie auch am Nachmittag eine Tasse heißen Tees trank, und wenn Gäste kamen, stellte sie auch Sahne, Zucker, Marmelade und selbst gemachtes Gebäck dazu. Milchprodukte und Mehl waren nicht leicht zu bekommen, denn sie waren keine Bestandteile der samoanischen Küche, aber der alte Ben besorgte ihr in unregelmäßigen Abständen den Nachschub – wenngleich er ausländische Gerichte nicht schätzte und Ili wegen dieser verschrobenen Gewohnheit gerne neckte.
Am schwierigsten zu erkennen war sicherlich der deutsche Teil von ihr. Zwar war ihr Blut zur Hälfte deutsch – falls man Blut überhaupt einer Nationalität zuordnen konnte –, doch bis auf die etwas hellere Haut und die nicht ganz so ausgeprägte südseetypische Mandelform der Augen, war ihr europäisches Erbe nicht sichtbar. Manchmal dachte sie, dass die ihr eigene Disziplin ein Vermächtnis des Vaters war und womöglich auch der trotzige Geist, der sie bisweilen das Gegenteil tun ließ von dem, was die anderen taten. Sie konnte das nur vermuten. Tatsache war, dass ihre mütterlichen Wurzeln, die samoanischen, im wahrsten Sinne greifbar waren und sich in allen Dingen manifestierten, die Ili umgaben, während die väterlichen sich tief eingegraben hatten und unsichtbar blieben. Lange Zeit hatte sie sich damit abgefunden, manchmal bereitwillig und manchmal widerstrebend, nun aber ergab sich überraschend die Gelegenheit, mit jemandem zu sprechen, der aus dem Land kam, das irgendwo in ihr drin war.
»Wussten Sie«, begann Ili, während sie Evelyn den Teller mit den Scones anbot, »dass Samoa eine deutsche Kolonie war, bevor die Neuseeländer kamen? Damals hieß Deutschland noch Deutsches Reich und wurde von einem Kaiser regiert.«
Evelyn wirkte sichtlich überrascht. »Ich dachte, die seien nur in Afrika gewesen.«
»Nicht nur. Ein Teil Neuguineas war ebenso Kolonie wie die Marshall-Inseln, die Marianen und eben auch Samoa. Apia sei die südlichste deutsche Stadt, rühmten Ihre Landsleute sich damals.«
»O je«, seufzte Evelyn und trank einen großen Schluck Tee. »Dann sind die Samoaner bestimmt nicht gut auf uns zu sprechen.«
Ili lächelte. »Keine Sorge. Abgesehen davon, dass die Deutschen auf Samoa relativ beliebt waren – Sie staunen, Evelyn, aber so war es –, abgesehen davon also hat keiner der heute Lebenden diese Jahre noch bewusst erlebt. Die deutsche Kolonialzeit auf Samoa endete vor langer Zeit – recht dramatisch übrigens. Doch dieses Haus hier, der Papaya-Palast, wurde noch in der deutschen Zeit erbaut – von einem Deutschen.«
»Wollen Sie damit sagen …«
»Ein Stück Geschichte, ja, wenn Sie so wollen, Ihrer Geschichte, Evelyn. Aber ebenso meiner. Ich bin hier geboren worden, nächsten Monat ist das einundneunzig Jahre her, im Dezember 1914.«
»Das ist ja unglaublich! Ich meine, sowohl das mit dem Haus wie auch mit Ihnen. Ich hatte Sie viel jünger geschätzt.«
In diesem Moment krachte eine Kokosnuss auf das Tablett, riss ein paar Scones mit sich und rollte unmittelbar neben Evelyn. Hinter einem Fliederbusch tauchte eine kleine und hagere Frau auf, den Rücken leicht gekrümmt und die Haut von Hunderten seichter Faltengräben zerfurcht, die sich wie Wurzeln über ihr altes Gesicht zogen. Gespenstergleich fielen kalte Wogen silbrigen Haares über ihre Schultern, und ihre zusammengepressten, wie von Nadeln vernähten Lippen verzogen sich zu einer schiefen, leidenden Grimasse. Rasch verschwand sie im linken Flügel des Papaya-Palastes.
»Du meine Güte«, ächzte Evelyn, noch immer erschreckt von dem Aufschlag der Kokosnuss. »Was war das denn?«
Ili schien weit weniger überrascht von dem Vorfall. »Moana, dieses Miststück«, schimpfte Ili. »Jetzt geht sie schon auf meine Gäste los.«
»Da ist ein Zettel an der Kokosnuss befestigt. Warten Sie, darauf steht …« Evelyn konnte die krakelige englische Schrift zunächst nicht entziffern. Dann stockte ihr der Atem. »Darauf steht: Ili will mich vergiften.«
Ili nahm den Zettel an sich, las ihn und zerknüllte ihn sogleich. »Ich bin einiges von ihr gewohnt, aber das mit der Kokosnuss ist neu. Machen Sie sich keine Sorgen, Evelyn. Ich weiß, Moana sieht aus wie eine Schauerfigur aus Grimms Märchen, aber sie ist nicht gefährlich, jedenfalls nicht auf körperliche Art. Und selbstverständlich wird Moana nicht von mir vergiftet – obwohl die Verlockung manchmal wirklich groß ist.«
Ili scherzte und lächelte, aber innerlich nahm sie Moanas Anschlag nicht so leicht. Dass auch Gäste in den seit Jahrzehnten andauernden Krieg zwischen ihnen einbezogen wurden, war neu. Überhaupt machte sich Moanas Hass in letzter Zeit stärker Luft als bisher – und scheute auch vor boshaften Lügen nicht zurück. Vergiften! So ein seniler Unsinn! Moana hätte genügend andere Vorwürfe auf den Zettel schreiben können, Vorwürfe, die der Wahrheit entsprachen oder ihr zumindest sehr nahe kamen. Ili hat mir meinen Verlobten weggenommen, hätte sie schreiben können. Oder: Ili hat meinen Ehemann vertrieben. Und dann war da noch die Sache mit Atonio, ihrem Sohn …
»Aber wie kommt sie denn auf so etwas?«, fragte Evelyn. »Ist sie krank?«
»Nicht im herkömmlichen Sinne, aber ich bin sicher, dass es irgendwo einen Namen gibt für das, was sie ist.«
»Und sie wohnt – hier?«
»Drüben, im anderen Teil des Hauses. Moana ist Anes Großmutter.«
»Oh.«
»Aber wie gesagt, sie wird Ihnen nichts tun. Wenn die Kokosnuss jemanden hätte treffen sollen, dann mich und nicht Sie.«
»Wie – tröstlich.«
»Es tut mir Leid, Evelyn. Wenn Sie lieber woanders wohnen wollen, verstehe ich das.«
Evelyn fragte sich ernsthaft, wo sie hier hineingeraten war: Anschläge mit Kokosnüssen, Gift … Dennoch fühlte sie sich nicht unwohl, was vermutlich an der freundlichen Gastgeberin lag. Und da der Tee keinen Mandelgeschmack aufwies, war auch nicht zu befürchten, dass sie eine samoanische Version von »Arsen und Spitzenhäubchen« miterlebte.
»Es ist mal was anderes«, umschrieb Evelyn ihre Skepsis. »Ich werde bleiben und besser auf herumf liegende Kokosnüsse achten. Und Sie sind wirklich sicher, dass Moana nicht etwas fehlt – im Kopf?«
»Sie kann mich nicht ausstehen, milde ausgedrückt. Wir sprechen seit langer Zeit kein Wort miteinander. Nicht ein einziges. Wenn Moana sich ein Bein bräche und Ane wäre gerade nicht in der Nähe, würde sie eher zugrunde gehen, als mich um Hilfe zu rufen.«
Das wurde ja immer besser, dachte Evelyn. »Und im umgekehrten Fall?«
»Ich würde wahrscheinlich rufen, aber es brächte nichts. Moana würde mich einfach liegen lassen.«
Ili seufzte. »Wissen Sie, Evelyn, wir leben schon so lange im Unfrieden, Moana und ich, praktisch seit unserer Kindheit, dass wir uns einen anderen Zustand zwischen uns kaum vorstellen können. Sie mögen das vielleicht seltsam finden, aber wir haben uns daran gewöhnt.«
»Also ist Moana auch im Papaya-Palast geboren worden?« , fragte Evelyn neugierig.
»Nein, sie wurde …« Ili zögerte. Eigentlich kannte sie Evelyn ja kaum, jedenfalls nicht gut genug, um ihr eine Familiengeschichte zu erzählen. Andererseits hatte sie nicht das Gefühl, eine Fremde vor sich zu haben. Vielleicht lag es daran, dass Evelyn Deutsche war und deshalb irgendeine – wenn auch nur äußerst entfernte – Beziehung zu den Geschehnissen rund um den Papaya-Palast hatte. Vielleicht war aber auch schlicht Evelyns Interesse der Grund. Ili hatte schon sehr lange keine Gelegenheit mehr gehabt, mit anderen Menschen über die dramatischen Ereignisse des Jahres 1914 und die Zeit danach zu sprechen. Sobald sie englischen oder amerikanischen Gästen berichtete, dass der Papaya-Palast in der Kaiserzeit von einem Deutschen erbaut worden sei, sank die Aufmerksamkeit jener Touristen rapide, so als sei diese Tatsache in sich bereits langweilig und die Geschichte dahinter noch weit langweiliger, weil Amerikaner und Briten darin keine Rolle spielten. Außer vor vielen Jahren mit dem alten Ben hatte sie überhaupt noch nie darüber gesprochen.
»Das alles lässt sich nicht in fünf Minuten erzählen«, warnte Ili.
»Zeit gibt es in Samoa genug, das haben Sie selbst gesagt. Außerdem waren mir wechselvolle, weit zurückreichende Familiengeschichten schon immer die liebsten.«
»Dann wird Ihnen meine gefallen.«
Ili goss sich Tee nach, trank einen Schluck und vertiefte sich in die blühenden Büsche vor der Veranda. Aus den Erzählungen ihrer Mutter entstanden vor Ilis Auge Bilder voller bunter Details, und den Bildern entsprangen lebendige Menschen mit all ihren Sehnsüchten, Ängsten und Unzulänglichkeiten.
»Im Grunde genommen begann alles am … Ja, ich glaube, es war jener Tag, der eine Entwicklung in Gang setzte, die bis heute, zweiundneunzig Jahre später, ihre Wirkung behalten hat.«
Samoa, 27. Januar 1914
Die Luft zitterte wie unter Donnerschlägen. Seevögel flatterten erschreckt auf, Hunde und Katzen verbargen sich, und die Menschen entlang der Hafenpromenade in Apia unterbrachen ihre Unterhaltungen. Alle Samoaner blickten aufs Meer hinaus, wo das deutsche Schlachtschiff »Scharnhorst« eine Salve nach der anderen zur Seeseite feuerte. Bald war es eingehüllt von weißen Rauchschwaden, doch noch immer blitzten die Mündungen der mächtigen Kanonenrohre im Abstand weniger Sekunden auf.
Auch im Garten der Gouverneursresidenz verharrten die Menschen, obwohl man von dort keine Sicht auf das Geschehen hatte. Einige Damen hielten sich mit ihren behandschuhten Händen die Ohren zu, andere kniffen bei jedem Schuss kurz die Augen zusammen, aber sie alle rührten sich nicht von der Stelle.
Die Lippen des Gouverneurs formten stumm Zahlen, einundfünfzig, zweiundfünfzig, dreiundfünfzig, vierundfünfzig, fünfundfünfzig. Bei fünfundfünfzig hielt er inne, lauschte angestrengt, und als nichts mehr zu hören war, glitt ein zufriedenes Lächeln über sein pralles Gesicht. Er schob die Nickelbrille auf der Nase zurecht, wandte sich den Gästen zu und streckte den kugeligen Bauch heraus.
»Hochverehrte Damen, geschätzte Herren!«, rief er und hob das Glas. »Auf Seine Majestät, den Kaiser. Er möge lang und eindrucksvoll herrschen.«
»Auf den Kaiser«, echote es aus dreißig Kehlen zurück.
Die Stiefelabsätze der beiden anwesenden Offiziere schlugen zusammen, die Herren in Zivil taten es ihnen nach. Die Damen klappten ihre weißen Sonnenschirme zu. Jeder trank einen Schluck Schaumwein. Eine Kapelle aus Samoanern in Uniform spielte die Hymne, und wenn sie auch entsetzlich schräg klang, verzog dennoch keiner eine Miene. Mit dem verklingenden letzten Ton schwollen die Brüste der Männer wieder ab, und die Schirme der Damen klappten wieder auf. Der offizielle Teil des fünfundfünfzigsten kaiserlichen Geburtstages war damit beendet. Die Gäste, die sich während des Saluts und der Hymne instinktiv zusammengerottet hatten, verteilten sich nun wieder auf dem Gartengelände, begleitet von – schrägen – Operettenmelodien.
Tristan stand ein wenig abseits und beobachtete das Treiben der ausnahmslos weiß gekleideten Menschen. Frau Kruse hielt ein Schwätzchen mit Frau Tiedemann und jammerte über die feuchte Hitze, Frau Janssen beklagte sich bei Frau Hufnagel, dass der entsetzliche Kanonendonner ihr beinahe das Trommelfell zerrissen habe, während Frau Hufnagel dergleichen nicht verspürt hatte. Die Herren wiederum fachsimpelten entweder über die Ernteerträge des letzten Jahres, die geschätzten Ernteerträge des kommenden Jahres oder die zunehmenden Spannungen zwischen dem Deutschen Reich und Großbritannien.
Tristan war erst vier Monate auf Samoa, und trotzdem kannte er die Rituale und Lieblingsthemen der hiesigen Gesellschaft bereits in- und auswendig, ja, er hatte sie schon nach dem ersten Abend gekannt. Man sollte doch glauben, dass diese Menschen, die weiter weg vom Reich lebten als irgendwelche anderen Deutschen, den neu aus der Heimat eingetroffenen Leutnant Tristan von Arnsberg anderes zu fragen gewusst hätten, als wie er die entsetzliche Hitze empfinde und welche Meinung er bezüglich der zunehmenden Spannungen zwischen dem Reich und Großbritannien einnehme – Spannungen, die es schon seit zwanzig Jahren gab und die angeblich immer noch zunahmen. Doch der gedankliche Horizont der Kolonisten reichte nicht über ein halbes Dutzend Gesprächsthemen hinaus, und dieses halbe Dutzend teilte sich auch noch in Sujets für Damen und für Herren auf. Alles war durchschaubar und überschaubar. Die Hanssens, die Janssens, die Tiedemanns, die Hufnagels und eine Hand voll weiterer Plantagenbesitzer und Kaufleute, das war der ganze Kosmos, den Tristan vorfand und der heute bequem in einen Garten von zweihundert Quadratmetern passte. Überraschungen gab es in dieser Welt nicht. Jede Entwicklung kündigte sich Wochen im Voraus an, so dass jeder genug Zeit hatte, sich darauf einzustellen. Keine Verlobung, die nicht schon seit Ewigkeiten abzusehen war, keine Ernte, die nicht von vorn bis hinten mit allen Eventualitäten durchdiskutiert wurde, ja, selbst die Toten hatten ihr Ableben zeitig genug mit einem hartnäckigen Husten, Kurzatmigkeit oder allgemeinem Unwohlsein angekündigt. Jeder, einfach jeder, passte sich der ungeschriebenen Ordnung des hiesigen Mikrouniversums an.
Das Zusammensein mit diesen Menschen ermüdete Tristan auch heute. Natürlich hatte er wie die anderen auf das Wohl des Kaisers getrunken und während der Hymne Haltung angenommen, das war seine Pflicht gewesen. Und eigentlich waren ihm solche Gesellschaften auch von zu Hause vertraut, wo seine Eltern oft genug Feste und gesellige Nachmittage im Garten von Schloss Arnsberg gegeben hatten, begleitet von Schwätzchen, Handküssen und Operettenmelodien. Dort hatte er stets »mitgespielt«. Doch in die Südsee passten solche Rituale nicht, fand er. Die Deutschen waren hier Fremde, sie benahmen sich wie Fremde, und sie wollten auch nichts anderes sein. Sie hatten Samoa vor fünfzehn Jahren in Besitz genommen, weil ein Vertrag mit Großbritannien und den Vereinigten Staaten das so vorsah, und alles in allem verhielten sie sich hier anständig. Sie respektierten den samoanischen König, indem sie ihm den Titel beließen, eine Residenz und ein offenes Automobil zur Verfügung stellten, in welchem er sich knatternd über die Insel fahren ließ, und er revanchierte sich, indem er seinen schweren Körper von Zeit zu Zeit in eine weiße Uniform steckte und dem Kaiser ergebene Briefe voller Rechtschreibfehler zuschickte. Trotzdem, die Deutschen hatten diesem Inselreich im Grunde nichts zu geben. Samoa war ein Prestigeobjekt für sie, und hätten sie es gegen Hongkong, Bombay, Malta oder sonst etwas tauschen können, hätten sie es getan.
Tristan nicht. Seit er den Fuß zum ersten Mal auf samoanischen Boden gesetzt hatte, war etwas Seltsames mit ihm passiert. Hatte er während der mehrwöchigen Schiffspassage noch häufig an die saftigen, westfälischen Wiesen gedacht, an das Muhen der Kühe, den manchmal scharfen Westwind und den Frühnebel auf den Feldern, so löste sich diese Sehnsucht nach der Heimat in Samoa in nichts auf. Es war, als seien die Inseln und ihre Menschen für ihn geschaffen worden: die Ungezwungenheit, die er in Deutschland vermisste, die Heiterkeit, die einen nachdenklichen, manchmal melancholischen Menschen wie ihn aufmunterte, die Sorg- und Bedürfnislosigkeit, die Stille, die gerade so tief war, dass man sich erholen konnte, ohne sich einsam fühlen zu müssen.
Alle Eigenschaften Samoas vereinigten sich in ihr, in Tuila. Erst vor wenigen Stunden hatten sie beisammen gelegen, und schon vermisste er sie wieder.
»Nun, da ist ja der Herr Leutnant!«, rief Gertrude Schultz, die Gouverneursgattin, und schritt entschlossen auf ihn zu. Sie war eine voluminöse Erscheinung. Größer und breiter als andere Frauen, eingezwängt in Korsage und Rock und den Schirm bisweilen eher wie einen Säbel führend, war sie die ideale Anführerin der weiblichen Gesellschaft Samoas. Ihr Schritt war derart entschlossen, dass man stets hoffte, sie würde rechtzeitig stehen bleiben, wenn man sie auf sich zukommen sah. In ihrem Windschatten befand sich Clara Hanssen, die Tochter eines Kaufmanns, und sobald Tristan sie sah, wusste er, was ihm bevorstehen würde.
»Sie stehen ja schon wieder allein herum, Herr Leutnant«, konstatierte die Gouverneursgattin. »Man fragt bereits nach Ihnen. Sie sind ein Eigenbrötler, wie? Nun, dagegen lässt sich etwas tun. Darf ich Fräulein Hanssen Ihrer Obhut übergeben? Heute sind zu wenige junge Damen anwesend, und bei uns alten Schrapnellen langweilt sie sich doch bloß.«
Fräulein Hanssen wollte widersprechen, doch die Gouverneursgattin ließ das nicht zu. »Nein, mein Kind, sagen Sie nichts. Ich verstehe das nur zu gut. Schließlich war ich auch einmal jung. Nein, nein, sagen Sie nichts.«
Sie wandte sich wieder an Tristan. »Bei Ihnen ist sie in den besten Händen, das weiß ich doch. Sie beide werden ein wenig flanieren, dort an den Rosenbüschen entlang. Und danach müsste auch schon bald die Bowle fertig sein, und Sie trinken dann ein Gläschen.«
Nachdem Frau Schultz vorgegeben hatte, wie Tristan und Clara Hanssen sich in der nächsten halben Stunde zu amüsieren hätten, rauschte sie wieder davon.
Clara Hanssen leistete ihm nicht zum ersten Mal Gesellschaft. Seit seiner Ankunft war sie ihm auf beinahe jeder Festivität an die Seite gestellt worden. Man gab sie ihm an der Tafel stets als Tischdame, sorgte dafür, dass er sie zum Tanz aufforderte, und wenn sich beide zum Kaffee setzten, verschwanden die übrigen Gäste um sie herum binnen Minuten und ließen sie allein. Die Absicht dahinter war so klar wie der Januartag: Um Überraschungen vorzubeugen, betätigten sich die Damen am liebsten als Kupplerinnen, so behielten sie alles unter Kontrolle. Nach dem Willen der Gouverneursgattin sollte Tristan sich wohl nach angemessener Zeit mit Clara Hanssen verloben und nach wiederum angemessener Verlobungszeit heiraten. Natürlich hatte der Brautvater längst sein Einverständnis zu diesem Geheimplan gegeben, ebenso die übrige Frauenriege. Nur sie beide noch nicht.
In gewisser Hinsicht ähnelten sie einander. Beide hatten einige Sommersprossen auf der Nase und unter den Augen, beide hatten blondes Haar mit einer Spur ins Rötliche, ein schmales Gesicht, eine schlanke Figur und helle Augen. Damit endeten allerdings ihre Gemeinsamkeiten. Clara Hanssen sah die Welt noch immer so, wie man sie ihr als Kind erklärt hatte: dass durch die Straßen von New York Kuhherden getrieben würden, dass der Kaiser seine Würde von Gottes Gnaden besäße und dass es den Menschen in den Fabriken und Kohleminen im Grunde doch gut ginge. Dass die Arbeiter in Deutschland undankbar seien, wenn sie die Sozialisten wählten – wobei sie nichts über die Sozialisten wusste, denn sie las nie. Weder Bücher noch Musik noch Malerei begeisterten sie, und Sport war in ihren Augen ausschließlich etwas für Männer, selbst Reiten und Bogenschießen, das bei den Damen in Deutschland in Mode gekommen war. Das Frauenwahlrecht, das in Europa gerade heftig diskutiert wurde, jagte ihr sogar Angst ein. »Du liebe Güte, was würde ich damit anfangen?«, hatte sie zu diesem Thema einmal gesagt. »Ich würde wohl Papa fragen müssen.«
Clara Hanssens Lebensweg schien Tristan vorgezeichnet. Sie würde eines Tages mit einem begüterten Mann ein herrschaftliches Haus führen. Zweimal in der Woche würde sie sich mit den Gattinnen von Konsuln, Räten, Großkaufleuten oder Fabrikanten zum Kaffee treffen, über das Wetter und die neuesten Brokatmuster sprechen und den Klavier oder Flöte spielenden Kindern dieser Gesellschaft applaudieren. Jeden Sonntag ginge sie in die Kirche und spräche nach dem Gottesdienst noch ein paar Worte mit dem Probst über die schöne Predigt und vielleicht das Wetter. Sie würde wenigstens einhundert Mal am Tag irgendetwas »reizend« oder »nett« finden, ohne es wirklich wahrzunehmen, wie sie überhaupt an den meisten Dingen des Lebens gleichgültigen Blickes vorüberschreiten würde. Niemand würde sie je ernst nehmen, aber jede Menge Leute würden ihre Anmut loben und die Art, wie sie ihr Haar trug. Und bei alledem würde Clara sich eine glückliche Frau nennen.
Er seufzte fast unhörbar, hielt ihr den Arm hin und wollte sie zu einem kleinen Pavillon führen, doch sofort erhob sie Einspruch.
»Oh, bitte an den Rosenbüschen entlang, Herr Leutnant.«
»Gefallen sie Ihnen?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Die Frau Gouverneur hat uns diesen Weg empfohlen.«
»Deswegen können wir doch trotzdem zum Pavillon gehen.«
Hätte er zum Aufstand aufgerufen, hätte sie ihn nicht irritierter anblicken können.
»Wir müssen schon tun, was die Frau Gouverneur sagt.«
Erneut seufzte er leise, doch er entsprach Clara Hanssens Wunsch. Alles andere wäre ungalant gewesen.
Er dachte wieder an Tuila, ihr Lächeln am Morgen. Er wünschte sich, ihre Haut zu riechen, die sie mit Blütenöl einrieb, ihre Stimme zu hören, wenn sie sang, mit ihr in den Ozean zu springen, Geschichten über ihr Volk erzählt zu bekommen … Immer war sie in Bewegung, körperlich und geistig. Dennoch hatte er in den drei Monaten, die er sie kannte, nie so etwas wie Eile an ihr bemerkt oder gar Langeweile. Sie war wie einer der hiesigen Gebirgsbäche, sie war lebendig und trotzdem beruhigend.
»Was meinen Sie dazu, Herr Leutnant?«, unterbrach Clara Hanssen seinen Gedankenflug.
»Wie bitte?«
»Ich sagte eben, ist diese Hitze nicht entsetzlich?«
»Diese samoanischen Weiber sind einfach pfundig!«, rief einer der Gäste in die Runde hinein, woraufhin die Übrigen kurz und abgehackt auflachten oder zumindest schmunzelten.
Man hatte sich zur so genannten »Herrenrunde« ins Haus zurückgezogen, noch ein Ritual, das Tristan bereits zur Genüge kannte und nur widerwillig über sich ergehen ließ. In der Herrenrunde ging es zwar lockerer zu, als wenn Damen dabei waren, jedoch nicht amüsanter. Die Luft war stickig von Tabak, Schnaps und Rum, und an die Stelle der vorherigen Gesprächsthemen traten nun die samoanischen Frauen, oder besser gesagt, die Brüste der samoanischen Frauen, die Lippen, Füße, Schamhaare, Hintern. Sie wurden gleichsam in ihre Einzelteile zerlegt und beurteilt wie auf einem Markt.
Tristan fiel es schwer, seine Abneigung darüber nicht allzu deutlich zu zeigen. Er beteiligte sich nicht am Gespräch und blickte häufig aus dem Fenster in den Garten, wo der saftig grüne Rasen noch immer gesprenkelt war von den weiß gekleideten Damen. Deutlicher konnte er sich nicht distanzieren, durfte es nicht. Außer dem Gouverneur, Dr. Schultz, war noch sein eigener Vorgesetzter Oberst Rassnitz anwesend, der militärische Kommandant Samoas, und vor allem Letzterer achtete stets genau auf das, was Tristan tat oder nicht tat. Rassnitz war ein Soldat von altem Schrot und Korn, der sich mühsam hochgedient hatte und nichts von adeligen jungen Leutnants mit Bildung hielt, was er zwar nicht aussprach, aber Tristan häufig genug spüren ließ. Glücklicherweise sah er ihn nicht oft. Rassnitz hatte seinen Sitz in Apia auf Upolu, während Tristan die Polizeitruppe auf Savaii kommandierte. Außer bei einem wöchentlichen Arbeitstreffen und festlichen Zusammenkünften so wie heute, konnten sie sich gegenseitig aus dem Weg gehen.
»Meine Herren, ich muss doch bitten!«, rief Dr. Schultz nach einem weiteren Ausbruch allgemeinen Gelächters. »Wir müssen uns heute etwas zurückhalten, haben wir doch einen jungen Verlobten unter uns, einen, der noch frisch verliebt ist. Herr Leutnant von Arnsberg.«
Tristan hörte seinen Namen und wandte sich wieder der Runde zu. Sein Gesicht war ausdruckslos, als er sagte: »Hier liegt ein Missverständnis vor, Exzellenz. Ich bin nicht verlobt.«
»Gewiss, gewiss«, sagte Dr. Schultz. »Aber doch so gut wie. Ihre Augen jedenfalls suchen unentwegt die Angebetete im Garten.«
»Ich habe die Rosen bewundert, Exzellenz.«
»Rosen!«, spie Rassnitz aus. »Leutnant von Arnsberg, finden Sie, dass ein Mann, ein Soldat noch dazu, Blumen bewundern sollte?«
»Da bin ich sicher nicht der erste Mann, Herr Oberst.«
»Da sind Sie vielleicht auch nicht der erste Mann, mit dem etwas nicht stimmt, Leutnant.«
Tristan erhob sich ruckartig, doch bevor er etwas sagen konnte, beschwichtigte ihn Dr. Schultz eilig.
»Mit unserem geschätzten Leutnant stimmt alles, Herr Oberst. Er hat eine samoanische Geliebte, drüben auf Savaii. Wussten Sie das nicht? Außerdem war das mit den Rosen doch nur eine höfliche Ausrede. Selbstverständlich gilt seine Bewunderung in erster Linie dem Fräulein Hanssen, nicht wahr, Leutnant?«
»Soweit es mir zukommt«, antwortete Tristan ausweichend, woraufhin sich, zu seiner Erleichterung, die Runde wieder dem ursprünglichen Thema zuwandte und ihn vergaß.
Als Dr. Schultz etwas später die Herrenrunde verabschiedete, bat er Tristan, noch einen Moment zu bleiben. Er hielt ihm eine Schachtel Zigarren hin, doch Tristan lehnte ab.
»Tausend Dank, Exzellenz. Ich rauche nicht.«
Der Gouverneur nickte. »Sie trinken auch nicht, das habe ich bemerkt.«
»Keinen Rum. In diesem Klima wirkt jedes Glas wie drei, Exzellenz. Aber zu Hause habe ich gern Wein und von unserem guten Bier getrunken.«
Dr. Schultz überlegte einen Moment, bot Tristan Platz an und ließ sich ächzend in einen Sessel fallen. Die Messingknöpfe an seiner weißen Anzugweste sahen aus, als ob sie jeden Moment abplatzen und quer durch den Raum schießen würden.
»Mein lieber Arnsberg«, begann er und knipste an einer Zigarre herum. »Wir sind hier nicht zu Hause. Wir sind eine deutsche Kolonie am Ende der Welt, und wir haben gewisse Regeln, die sich von denen in der Heimat unterscheiden. Darüber sollten Sie sich im Klaren sein.«
Tristan wusste noch nicht, worauf dieses Gespräch hinauslaufen sollte, und Dr. Schultz schien das zu bemerken. »Arnsberg, Sie passen sich nicht in die hiesige deutsche Gesellschaft ein, das ist der Punkt. Sie isolieren sich.«
»Verzeihung, Exzellenz, aber was ich in meiner freien Zeit mache, das …«
»Ach, kommen Sie mir doch nicht so«, unterbrach ihn Dr. Schultz und rückte energisch die Nickelbrille zurecht. »Die Kaufleute und Plantagenbesitzer auf Samoa trinken nun einmal gerne, rauchen und erzählen sich Witze. Wenn diese Leute das Gefühl bekommen, dass einer der beiden einzigen deutschen Offiziere in der Kolonie keiner von ihnen ist, beunruhigt sie das. Und was die Leute beunruhigt, muss auch mich beunruhigen, denn ich bin hier für alles verantwortlich. Wir haben hier eine gute Stimmung unter den Samoanern, weil wir alle uns hier sicher fühlen und ein schönes Leben haben. Wenn da einer aus der Reihe tanzt, sich absondert, hilft das keinem, am Ende auch nicht den Samoanern. Darum seien Sie ein bisschen geselliger, Arnsberg.«
Dr. Schultz sog kräftig an seiner Zigarre und sprach danach in milderem Ton. »Es ist ja nicht so, dass ich Sie nicht ein wenig verstehen könnte«, fuhr er, umwölkt von Rauch, fort. »Ich weiß, dass Sie aus gutem Hause kommen, altem westfälischem Adel. Ich kenne sogar Ihren Vater flüchtig, ein ehrenhafter, hochanständiger Mann, der sehr stolz darauf ist, dass Sie die Familientradition fortsetzen und Offizier geworden sind. Ursprünglich wollten Sie einen anderen Weg einschlagen, war es nicht so?«
Tristan erstarrte. »Ja, Exzellenz.«
»Sie wollten studieren.«
»Ich habe studiert.«
»Was war es noch?«
»Önologie. Weinanbau.«
Der Gouverneur nickte. »Ihre Familie besitzt Güter an der Mosel. Die wollten Sie auf Vordermann bringen, wie? Tja, doch dann gab es diesen Vorfall mit Ihrem …«
»Ja.« Tristan versteifte sich zusehends.
»Das hat Ihre Pläne über den Haufen geworfen. Gerne sind Sie daraufhin nicht zum Militär gegangen, nehme ich an.«
»Nun bin ich aber beim Militär, Exzellenz. Und ich erfülle meine Pflicht so gut wie jeder andere Offizier. Es gibt keinen Grund, an mir zu zweifeln.«
Dr. Schultz schien Tristans Erregung nicht zu entgehen.
»Gewiss, gewiss«, beruhigte er Tristan, während sich ein beinahe amüsiertes Lächeln über seine Lippen stahl. »Ihre Dienstpflicht erfüllen Sie einwandfrei, ja, ich gehe sogar so weit zu sagen, dass Sie sich besser in die Seele der Samoaner hineindenken können als Oberst Rassnitz, der zu lange in Deutsch-Afrika war und dort die harte Seite der Kolonialpolitik praktizieren durfte. Wir in Samoa handhaben die Dinge weicher, liberaler, und das scheint Ihnen zu liegen, Arnsberg. Dennoch: Die Aufgaben eines Kolonialoffiziers sind vielfältig, sie beziehen sich auch darauf, ein gesellschaftlicher Mittelpunkt zu sein, und dabei haben Sie Schwierigkeiten. Sie könnten einwenden, dass Sie für die derben Vergnügungen hierzulande weder erzogen noch ausgebildet wurden. Aber glauben Sie denn, ich? Ich bin ja eigentlich Akademiker, Jurist. Auch mir gehen die Herren manchmal etwas zu weit, nun denn, dann trinke ich eben etwas weniger als sie und halte mich mit dem Erzählen von Witzen zurück. Ein Schnaps hier und ein Lächeln dort, damit vergibt man sich doch nichts, oder, Arnsberg? Lassen Sie sich meine Worte durch den Kopf gehen.«
Dr. Schultz stand auf und signalisierte damit, dass er diesen Punkt für endgültig geklärt hielt. Er begleitete Tristan zur Tür und klopfte ihm zum Abschied zweimal auf die Schulter wie ein verständnisvoller Vater.
»Noch eins«, rief er ihn zurück, als Tristan schon im Gehen war. Er winkte ihn mit der Zigarre zu sich heran und gab die Distanz auf, die ein alter Gouverneur und ein junger Leutnant normalerweise wahrten. Beinahe flüsterte er: »Was diese Samoanerin angeht, die Sie intim kennen: Viele Deutsche in der Kolonie nehmen sich eine einheimische Geliebte, dagegen ist gar nichts zu sagen. Und Sie, Arnsberg, sind sogar Junggeselle, da ist es doppelt begreiflich, wenn Sie sich auf diese Weise vergnügen. Niemand von den Herren wird gegenüber Fräulein Hanssen oder einer anderen Dame je ein Wort darüber verlieren. Das ist ein Kodex unter Ehrenmännern. Jedoch – ich sage Ihnen das jetzt, weil Sie noch nicht lange hier sind und weil ich es gut mit Ihnen meine: Mehr als ein Vergnügen darf diese Samoanerin für Sie nicht sein. Niemals! Seien Sie intim mit ihr, meinetwegen schätzen Sie sie hoch, und wenn Sie unvernünftig sein wollen, dürfen Sie sie sogar lieben. Doch dann ist Schluss. Höher kann sie nicht steigen, darf es nicht. Ich rate Ihnen also, sich an Fräulein Hanssen zu halten, was eine reguläre Bindung angeht. Der alte Hanssen ist der reichste Deutsche in der Südsee, Import-Export, sieben Dampfschiffe, drei Niederlassungen auf den Marianen, in Kaiser-Wilhelm-Land und hier auf Samoa. Dazu Geschäfte in Afrika. Was ihm noch fehlt, ist ein Sohn – oder Schwiegersohn –, der später einmal seine Geschäfte weiterführt. Wenn es dann noch ein künftiger Graf ist, der an seine Tür klopft – er wäre begeistert. Nun ziehen Sie doch nicht so ein Gesicht, Arnsberg. Ich meinte ja nur, dass eine menage für Sie beide zum gegenseitigen Vorteil wäre. Natürlich ist Fräulein Hanssen auch ohne ihren Vater eine gute Partie. Sie ist anziehend, gut erzogen und gefällig, sie würde Ihrem Namen keine Schande machen. Sie sehen, Arnsberg, Sie haben die besten Möglichkeiten. Vertun Sie sie nicht.«
Dr. Schultz zwinkerte Tristan in einer Weise zu, die freundschaftlich wirkte, doch gleich darauf blitzten die kleinen Augen hinter der Nickelbrille warnend auf. »Sie haben mich verstanden? Dann möchte ich Sie jetzt nicht weiter aufhalten. Guten Tag, Leutnant von Arnsberg.«
Tristan verließ die Residenz, die am Stadtrand von Apia lag, und ging auf der Küstenstraße Richtung Hafen. Gelegentlich blieb er stehen und blickte auf das Meer hinaus, dessen blaue, ebene Fläche von der Stahlsilhouette der »Scharnhorst« unterbrochen wurde. Dann wieder beobachtete er ein paar Seevögel, die mit ausgebreiteten Schwingen in der Luft standen, oder vertiefte sich in die winzigen Wellen, die kaum ein Geräusch hervorbrachten. Er versuchte, an nichts zu denken. Er wünschte sich, das Gespräch mit dem Gouverneur hätte nicht stattgefunden, dieser ganze Tag würde verschluckt werden, einschließlich Clara Hanssen. Sie hatte ihm nichts getan, und doch kam sie ihm wie eine Bedrohung vor, wie eine Waffe in der Hand von anderen. Ihre ellenlangen Handschuhe, der Sonnenschirm, den sie unentwegt auf- oder zuklappte, und die Art, wie sie den blauen Himmel wie einen Feind ansah – das alles stieß ihn ab. Weder seine Vorgesetzten noch die versammelte Damenschaft von Samoa konnten ihn zwingen, näheren Umgang mit ihr zu haben, trotzdem war er mit ihr spazieren gegangen, weil man es von ihm verlangt hatte. Und er hatte nachgegeben, hatte sich einfangen lassen, weil die Etikette es so vorsah, weil er ein Deutscher war, ein von Arnsberg, und weil jede Faser an und in ihm im Laufe der achtundzwanzig Jahre seit seiner Geburt so erzogen worden war. Nicht Clara Hanssen musste er fürchten. Vor wem er in dieser Sache wirklich Angst hatte, das war er selbst.
Als zweiter und jüngster Sohn des Grafen hatten ihm zunächst mehr Wege offen gestanden als seinem Bruder, dem bestimmt gewesen war, eines Tages Schloss Arnsberg zu übernehmen samt siebzig Hektar Land, sechzehn Pachthöfen, einem Gestüt für Militärpferde und natürlich dem Grafentitel. Gemäß der Familientradition trat Siegfried, sein Bruder, in den Militärdienst ein, wo er als Offizier Karriere machen sollte, bis der Graf sterben würde. Siegfried ging als Leutnant zum Überseekorps, und nur drei Jahre später wurde er zum Hauptmann befördert. In Deutsch-Südwestafrika, wo er stationiert war, brach ein Aufstand des Volkes der Herero aus, bei dessen Bekämpfung sich Siegfried mehrmals hervortat. Mit gerade mal dreiunddreißig Jahren bekam er den zweithöchsten deutschen Orden für Tapferkeit verliehen, und der Name Arnsberg schimmerte einmal mehr im Glanz der Ehre.
Für das, was Tristan tat, hatte sein Vater von jeher wenig Beachtung gezeigt. Den jüngeren Söhnen der Arnsbergs war immer schon aufgegeben, den ältesten Bruder zu unterstützen. Gewöhnlich machten sie Karriere in der Kirche, der Diplomatie oder dem höheren Beamtentum, immer mit dem Auftrag, das Ansehen, den Reichtum und den Einfluss des gräflichen Familienoberhauptes zu fördern. Doch Tristan interessierte sich für keinen dieser Bereiche. Er las viele Romane, versuchte sich im Schreiben, und er hatte sich schon immer gern unter freiem Himmel aufgehalten, liebte den Wechsel der Jahreszeiten, liebte es, die Dinge wachsen zu sehen und ihre Früchte zu ernten. Ein Winzer oder Obstbauer galt ihm insgeheim mehr als ein Soldat, und das in einer Schule, die nach einem Feldmarschall benannt war, und in einer Klasse, in der neun von elf Schüler angaben, in die Kaiserliche Armee eintreten zu wollen, und die anderen zwei, zur See zu fahren. Also log er – oder entzog sich solchen Fragen. Den meisten fiel das überhaupt nicht auf. Sein Vater interessierte sich zu dieser Zeit ohnehin kaum für ihn, und seine Mutter, die Lehrer und Freunde glaubten, er sei eben einfach ein bisschen stiller. Siegfried stand ihm noch am nächsten, aber bei Arnsbergs sprach man nicht über Gefühle, nicht einmal unter Brüdern.
Mit der Zeit fühlte und dachte Tristan nur noch für sich allein, und so kam es, dass er seine Umwelt mit dem, was er tat – oder nicht tat –, immer wieder überraschte. Mit dreizehn begann er, den Pächtern bei der Apfelernte oder dem Heuen zu helfen, doch wenn er dann mit schmutzigem Hemd und Stroh im Haar ins Schloss zurückkam, schüttelte sein Vater nur den Kopf.
»Wie ein Bauer«, sagte der Graf und wandte sich ab.
Mit sechzehn weigerte Tristan sich, an den Jagdgesellschaften auf Arnsberg teilzunehmen, die die westfälischen Wälder mit Schrotkugeln durchsiebten und die Leiber von Hirschen, Rehen und Wildschweinen zerfetzten. Sein Vater ließ das nicht gelten: »Das wäre ja noch schöner, du willst unsere Familie wohl zum Gespött machen!« Der Graf zerrte ihn mit auf die Jagd, und als Tristan vor einem Dutzend erlegter Feldhasen stand, übergab er sich.
»Gut, dass du nicht mein Ältester bist«, sagte der Graf.
Mit neunzehn beschloss Tristan, Önologie zu studieren, um dem gräflichen Besitz einmal ein Weingut hinzuzufügen. Als er seine Entscheidung bekannt gab, rief sein Vater verächtlich: »Bauer willst du werden? Unseren Namen gewöhnlich machen? Das kommt nicht in Frage.«
Dass es doch so kam, war Siegfried zu verdanken, der noch vor seiner Abreise nach Deutsch-Südwestafrika ein gutes Wort für Tristan einlegte und ihm so das gewünschte Studium in Mainz ermöglichte.
»Gut, dass du nicht der Älteste bist«, waren die Abschiedsworte, die Tristan von seinem Vater gesagt bekam, bevor er nach Mainz ging. Dass sein Vater ihn wie einen Schandfleck ansah, verletzte Tristan tief, und je mehr Ruhm Siegfried dem Namen der Arnsbergs anheftete, desto banaler erschien das, was Tristan erreichte. Sein erfolgreiches Studium, der Aufbau eines kleinen Weingutes – das alles wog nichts im Vergleich zu Siegfrieds Karriere. Er begann, eifersüchtig auf seinen Bruder zu werden, doch bevor sich dieses Gefühl voll entwickeln konnte, passierte etwas Schreckliches.
Das Telegramm, das ihrer aller Leben veränderte, schlug wie ein Blitz ein: Siegfried war im Kampf gegen die Hereros in der Schlacht von Waterberg gefallen. Sein Leichnam war irgendwo in den Weiten des kargen Landes beerdigt worden.
Wochenlang sprach Tristans Vater fast nichts, seine Mutter schluchzte unentwegt. Ein Mantel aus Verzweiflung und Verbitterung legte sich über Schloss Arnsberg, und Tristan war hin und her gerissen, zu gehen oder zu bleiben. Er spürte, dass etwas in der Luft lag, und wusste, dass er diesem Etwas nicht ausweichen konnte, egal, was er tat. Eines Tages war es so weit: Der Graf eröffnete ihm, kurz und präzise und mit der Haltung einer Marmorstatue, dass er, Tristan, als nunmehr Ältester alle Rechte und Pflichten zu übernehmen habe.
»Du wirst auf die Militärschule gehen. Du wirst Offizier werden, im Überseekorps. Dein Bruder hat so viel Wertschätzung erworben, dass dir niemand diesen Anspruch aberkennen wird. Du wirst werden wie er. Du wirst uns Ehre machen.« Dann schränkte er mit gesenktem Blick ein: »Zumindest wirst du dich nach Kräften bemühen.«
Tristan sträubte sich nach außen hin überhaupt nicht und innerlich nur kurz. Siegfried hatte ihm das Studium möglich gemacht, er war ihm etwas schuldig. Weit schwerer noch wogen die Jahrhunderte der Tradition auf Tristans Schultern, auf ihm, dem plötzlich Ältesten, und sich den Hoffnungen und Erwartungen seiner Eltern zu entziehen, das wagte er nicht. Er warf, ohne lange nachzudenken, alles hin, was ihm in den letzten Jahren etwas bedeutet hatte – das Weingut, die Arbeit mit Pflanzen, die Bücher, die Liebe zum ungezwungenen Leben –, und trat in die Fußstapfen Siegfrieds. Er biss sich durch wie man sich durch einen Dschungel aus Sumpf und Moder kämpft, mit zusammengebissenen Zähnen und einer Menge Abscheu. Überraschend gut überstand er die Militärschule, sogar derart eindrucksvoll, dass der Graf das Zeugnis mit zitternden Händen las und mehrmals schlucken musste, bevor er Tristan lobte. Es wäre eine Lüge zu behaupten, er habe keinen Stolz über die Worte seines Vaters verspürt, doch auf eine seltsame Weise, die er sich bis heute nicht erklären konnte, war er insgeheim zugleich wütend auf den Alten – und auf sich selbst. Das gleiche Gefühlsgemisch überraschte Tristan noch einmal beim Abschied. Seine Eltern hatten ihn bis Wilhelmshaven gebracht, wo er sich auf einen Kreuzer nach Samoa einschiffte, und dem Grafen bebte das Gesicht, als er die Hand auf Tristans Schulter klatschte und sagte: »Du bist meine ganze Hoffnung, und ich weiß, du wirst mich nicht enttäuschen.«
Tristan wollte auch jetzt noch auf Samoa dem gerecht werden, was man seit seines Bruders Tod als seine Pflicht ansah, aber gleichzeitig hasste er es.
Als er in die Nähe des Hafens von Apia kam, hörte er die Trommeln, die so typisch waren für Samoa. Vier, fünf verschiedene Klanghöhen wirbelten umeinander, helle, dunkle, dumpfe, jagende Töne, bei denen die Herzen schneller schlugen. Selbst den Weißen ging das stets so, den papalagi, wie sie hier hießen. Es war, als würde das Dröhnen der Trommeln ihre alten, wilden, längst verloren geglaubten Instinkte hervorlocken. Niemand konnte sich diesem Rhythmus entziehen. Die Samoaner lebten ihre Gefühle in den verschiedenen Tänzen und Ritualen aus, die sie sich erhalten hatten, aber für die Deutschen und anderen Weißen gab es diese Möglichkeit nicht. Den Damen wurde heiß, wenn sie diese Musik hörten, und den Männern trieb sie einen seltsamen Glanz in die Augen. Tristan war sich sicher, dass die meisten von ihnen in solchen Momenten eifersüchtig auf die Samoaner waren – er selbst war es. Aber nicht nur in solchen Momenten. Die Fröhlichkeit der Insulaner, ihre zahlreichen Spiele, Fahrten und Vergnügungen, die heiteren Tänze und Gesänge und Gastmahle unter freiem Himmel machten sie für ihn zu beneidenswerten Menschen. Er konnte sich kein lebendigeres Volk vorstellen.
Einen Grund zu feiern fanden Samoaner immer, und sei es der Vollmond. Fiafia, hieß das Wort, das die Samoaner für jedes Fest, gleich welches, benutzten, und es setzte sofort ungeahnte Menschenmengen in Bewegung. Als Tristan näher zum Hafen kam, erkannte er, dass es heute eine Jungmannzeremonie war, die so viele Leute zum Hafen getrieben hatte. Jemand wurde in den Kreis der Männer aufgenommen, für einen Jungen der wichtigste Tag in seinem Leben.
Tristan stellte sich zu den Zuschauern, die die Trommler und Beteiligten umgaben, aber vor lauter Köpfen konnte er kaum etwas sehen. Offenbar tanzte noch niemand zur Musik, was bedeutete, dass der Jungmann sich noch der schmerzhaften Prozedur des Tätowierens seiner Beine unterzog.
Plötzlich sah er Tuila in der Menge, und sofort glitt ein Lächeln über sein Gesicht. Er schob sich bis zu ihr vor und berührte sie zaghaft an den Schultern. Sie drehte sich um und strahlte.
»Tristan!«, rief sie freudig und fiel ihm um den Hals. Sie drückte ihre Gefühle immer sofort und direkt aus.
»Du kannst ja plötzlich meinen Namen richtig aussprechen«, fiel ihm auf. Bisher hatte sie ihn entweder »Tistan« oder »Tlistan« genannt, da die Samoaner kein »r« kannten.
»Ich habe den ganzen Morgen geübt.« Sie nahm sein Gesicht in beide Hände und berührte seine Nase mit ihrer. Dabei blickte sie ihm tief in die Augen, so als könne sie darin lesen. »Fa’apefea mai oe?«, fragte sie.
»Lelei. Gut.«
»Gar nicht gut«, widersprach sie ihm. »Du hattest keinen schönen Tag, das kann ich sehen. Müde bist du. Dabei ist heute doch der Geburtstag deines Königs.«
»Kaisers«, korrigierte er sanft und seufzte. »Du hast Recht, es war kein guter Tag. Aber ab jetzt ist er es wieder. Ich bin froh, dass du da bist, Tuila.«
Sie kicherte wie meistens, wenn er auf seine europäische, umständliche Weise versuchte, Liebe mit Worten auszudrücken. Er kam sich dann ziemlich dumm vor, trotzdem fiel es ihm weiterhin schwer, damit aufzuhören. Sobald er allein mit Tuila war, fühlte er sich beinahe schon wie ein Samoaner, weil er alle anerzogene Zurückhaltung und komplizierte Höflichkeit zusammen mit seiner Uniform ablegte und sich gab, wie er wollte. Doch kaum kam ein Dritter hinzu oder wie hier eine ganze Menschenmenge, war er sofort wieder Deutscher, und er musste sich überwinden, um Tuila auch weiterhin mit Gesten und Berührungen die Nähe und Liebe zu zeigen, die er empfand. Dann verhielt er sich, wie er meinte, so, wie ein Offizier, ein Arnsberg, sich verhalten musste.
»Bist du wegen Tupu gekommen?«, fragte Tuila.
Jetzt erst bemerkte Tristan, dass der Jungmann in der Mitte des Kreises, der die letzten Stiche der Tätowierung abwartete, Tupu war, Tuilas Bruder.
»Nein. Ich wollte mit dem Polizeiboot nach Savaii übersetzen und bin nur zufällig hier. Er sieht respektabel aus, dein Bruder.«
Tupu war tatsächlich ein prächtiger Anblick. Er war gut gewachsen, und sein mit Kokosöl gesalbter Körper schimmerte im Sonnenlicht wie polierte Bronze. Stolz stand er auf und zeigte den Versammelten seine Tätowierungen, die sich in langen, gewundenen Strichen von den Fußknöcheln bis zu den Oberschenkeln hinaufzogen. Sie waren noch nicht ganz getrocknet, doch Tupu ließ sich davon nicht stören und führte einen rasanten Tanz auf. Die Menge klatschte. Tristan klatschte mit. Er lachte. Mehr noch als die ausgelassene fiafia freute ihn, dass Tuila bedingungslos glücklich war, als sie sah, wie er sich von der Stimmung mitreißen ließ. Sie klatschten im gleichen Takt, lächelten sich zu, und er genoss es, ihren Kopf im Profil zu betrachten, das pechschwarze Haar, das weit über die Schultern flutete, die ebenmäßigen Gesichtszüge und den mit Blumengirlanden und Muschelketten geschmückten, schlanken Hals. Sie hatte über der Brust ein azurnes Tuch verknotet, das an den Knien endete und die knappen, quirligen Bewegungen ihrer Beine und kleinen Füße erkennen ließ, die Tupus Tanz nachahmten.
Sie ist wunderschön, dachte Tristan in diesem Augenblick. Nicht nur äußerlich. Sie ist ausgefüllt mit Schönheit, sosehr, dass etwas von ihr langsam auch auf mich übergeht.
Er nahm sie in die Arme und tat, was er noch nie in der Öffentlichkeit getan hatte: Er küsste sie. Umgeben von feiernden Menschen, die ihr Glück stets im Augenblick fanden, fiel es ihm leicht, ebenfalls glücklich zu sein, ja, in diesem Moment hatte er das Gefühl, zum ersten Mal überhaupt glücklich zu sein.
Ein Pistolenschuss peitschte durch die Luft, und die Menge um Tristan und Tuila zuckte zusammen und drängte zurück.
Oberst Rassnitz blickte von seinem Pferd aus auf die Leute hinunter. Mit seinem gewachsten Oberlippenbart, der Pickelhaube und dem überlegenen Gesichtsausdruck sah er aus wie eine der Fotografien Kaiser Wilhelms II., die in jeder Amtsstube hingen.
»Was ist hier los?«, schrie er.
Da keiner der Samoaner vortrat, um dem Oberst zu antworten, übernahm Tristan diese Aufgabe. Er nahm Haltung an und berichtete: »Herr Oberst, ich melde: Eine fiafia ist im Gange.«
»Hören Sie auf, dieses unverständliche samoanische Kauderwelsch zu reden, Leutnant.«
»Eine Jungmannzeremonie, Herr Oberst. Ein Junge wird dabei durch bestimmte …«
»Ich bin an Ritualen, die noch aus heidnischer Zeit stammen, nicht interessiert, Leutnant. Diese öffentliche Festivität ist nicht beantragt und daher auch nicht genehmigt worden. Sie ist illegal.«
Oberst von Rassnitz’ Eigenart, verneinende und negativ besetzte Wörter zu betonen, kam voll zur Geltung. Tristan wusste, je deutlicher die Betonungen ausfielen, desto aufgeregter und gefährlicher war sein Vorgesetzter.
»Ich bitte um Nachsicht, Herr Oberst. Es ist doch nur ein spontaner Ausdruck von Freude gewesen, der zu dieser Versammlung geführt hat. Es war doch stets unsere Politik in Samoa, großzügig mit …«
»Großzügig! Spontan! Nachsicht!«, schrie Rassnitz. »Ich bin erstaunt, dass ein Offizier des deutschen Überseekorps solche Worte überhaupt in den Mund nimmt. Aber bei Ihnen sollte mich gar nichts mehr überraschen.«
Er saß ab, ging an Tristan vorbei und stellte sich vor Tupu auf, der der erkennbare Mittelpunkt der Feier war.
»Du«, sagte Rassnitz und tippte Tupu mit dem Finger auf die Brust. »Du wirst mir jetzt sofort erklären, was du dir dabei gedacht hast«, sagte er.
Tupus Miene verfinsterte sich. Tristan kannte ihn als umgänglichen Burschen, der gerne in Wettbewerben mit Gleichaltrigen seine Fähigkeiten maß, ein großzügiger Gewinner und ein guter Verlierer, der nichts zu ernst nahm. Doch heute war der wichtigste Tag seines Lebens. Nach der Art, wie er die Jungmannzeremonie hinter sich gebracht hatte, würde er noch in zehn und zwanzig Jahren beurteilt werden. Sein gesellschaftlicher Aufstieg, seine Würde, seine Chance, eines Tages Dorferster zu werden, hing davon ab, ob er an diesem Tag die Tätowierungen klaglos überstand, ob er seinen Tanz gut absolvierte und – ob er sich unvorhergesehenen Situationen und Herausforderungen stellte. Nachgiebigkeit und Demut konnte er sich heute nicht leisten.
Tristan versuchte, die Wogen zu glätten. »Herr Oberst, ich werde dafür sorgen, dass die Zeremonie an einem anderen Ort …«
Rassnitz wandte seinen hochroten Kopf Tristan zu. Sein Gesicht glich einem Vulkan kurz vor dem Ausbruch, als er bemüht leise sagte: »Sie werden ab jetzt nichts mehr sagen, Leutnant von Arnsberg. Wenn Sie auch nur noch einen Ton von sich geben, und sei es ein Husten, sind Sie erledigt .«
Tristan schluckte. Er schwieg.
Rassnitz wandte sich wieder an Tupu. »Also?«
»Ich muss das nicht erklären«, sagte Tupu. »Diese Zeremonie ist Brauch seit vielen Sommern und Wintern, lange bevor die papalagi hierher gekommen sind. Ihr solltet euch lieber freuen, dass ich am Geburtstag eures Königs feiere.«
»Er ist Kaiser, du hirnloser Wilder. Und sein Geburtstag ist heilig. Du entweihst den Ehrentag Seiner Majestät, wenn du obszöne Tänze aufführst. Du wirst daher deine lächerliche Zeremonie auf morgen verschieben, und du wirst sie nicht am Hafen abhalten, wo wir sie sehen können, sondern irgendwo im Busch, wo ihr sowieso hingehört. Ist das klar?«
Tupu verzog keine Miene. »Ich werde die Zeremonie zu Ende bringen. Hier und jetzt.«
Rassnitz’ Schlag kam so plötzlich wie ein Pistolenschuss aus der Hüfte. Tupu fiel zu Boden, doch Rassnitz setzte nach, zog seinen Degen, ritzte Tupus Haut am Oberarm ein und drückte ihm seinen Stiefel ins Gesicht. Tristan wollte eingreifen, aber was hätte er tun können? Rassnitz, seinen Vorgesetzten, anfassen? Das konnte Kriegsgericht bedeuten. Tupu auf die Beine helfen? Das hätte dieser ihm verübelt. Jede Hilfe, die Tupu jetzt bekäme, würde ihm in seinem Ansehen nur schaden. Tristan blickte zu Tuila. Sie schüttelte leicht mit dem Kopf, zum Zeichen, dass er tatsächlich nichts tun durfte.
Rassnitz trat Tupu, der noch am Boden lag, in den Unterleib. Tupu krümmte sich, doch kein Laut kam über seine Lippen. Diese eine Blöße wenigstens wollte er sich nicht geben.
Endlich schien der Oberst mit seinem Werk zufrieden.
»Leutnant«, sagte er in einem Ton, als sei nichts geschehen. »Sie lösen jetzt die Versammlung auf. Und dann fahren Sie nach Savaii. Wir sehen uns in ein paar Tagen zur Wochenbesprechung, wie immer.«
Er grüßte nachlässig und bemerkte nicht, dass Tristan den Gruß nur halbherzig erwiderte. Wenige Augenblicke später war er fort, und nun strömten auch die Samoaner stumm in alle Richtungen davon, bis nur noch Tristan, Tuila und Tupu übrig blieben.
Tristan bückte sich zu Tupu hinunter und reichte ihm die Hand. Er wollte ein Zeichen setzen, dass er sein Freund war und verabscheute, was Rassnitz getan hatte.
»Auch ein Mann«, sagte er, »darf sich helfen lassen.«
Tristan war erleichtert, dass Tupu die Hand nahm. Aber er bemerkte auch den veränderten Ausdruck in Tupus Gesicht. Es war, als habe Tupu mit dem heutigen Tag nicht nur seine Kindheit hinter sich gelassen, sondern auch die Leichtigkeit, die dazugehörte. Etwas Neues war in sein Leben getreten, eine Eigenschaft, die bisher noch niemand an ihm gesehen hatte und die vielleicht nie ausgebrochen wäre, wäre die letzte Viertelstunde anders verlaufen: der Zorn.
Sie fuhren mit der tuckernden Barkasse Richtung Savaii. Tupu brütete stumm vor sich hin, während Tuila sich an seine Schulter lehnte und ein Lied summte, das Tristan bekannt vorkam. Im Gegensatz zu ihrem Bruder sah sie nicht wütend aus, auch nicht bekümmert. Sie hatte den Vorfall vermutlich schon vergessen. Es war nicht ihre Art, den Dingen nachzuhängen, zu grübeln, sich Fragen zur Vergangenheit zu stellen und die Schatten eines Lebens zu suchen, und Ehrgeiz und Konkurrenz gehörten ebenso wenig zu ihrer Begriffswelt. Leicht und geschwind wie ein Schmetterling fand sie das Schöne und bezog daraus ihre Kraft. Während des Tages erfreute sie sich an tausend kleinen Dingen, ganz still für sich, nur an einem kurzen Lächeln oder einem zufriedenen Blinzeln zu bemerken. Ganz selten wies sie andere darauf hin, was ihnen alles entging, etwa wenn sie mit Tristan kurz nach Sonnenuntergang spazieren ging, ihn bei irgendetwas unterbrach und sagte: »Hörst du den Nachtvogel? Nicht den Gesang, seine Schwingen. Hörst du sie?« Und keine drei Sekunden später rauschte über ihnen ein einzelner Vogel mit schwerem Flügelschlag durch die blaue, tropische Nacht.
An solchen Abenden liebte Tristan sie noch ein wenig mehr.
Tuila schmiegte sich jetzt noch enger an Tupu, so als wolle sie seine negativen Gefühle aufsaugen und in ihrem eigenen Körper neutralisieren. Er ließ sich darauf ein und legte ihr die Arme um den Bauch, stützte seinen Kopf auf ihren und pustete eine Strähne, die ihn an der Nase kitzelte, sacht weg. So wie sie da beieinander saßen, hätten sie auch ein Liebespaar sein können, ja, Tristan war etwas eifersüchtig auf die innige Beziehung, die sie zueinander hatten. Sie waren die einzigen Kinder ihrer Eltern, nur ein Jahr trennte sie voneinander, und Tuila, die Ältere, hatte ihren Bruder schon früh ins Herz geschlossen. Sie hatte bei ihm gewacht, wenn die Eltern Besorgungen machten, hatte ihm bei Feuerschein die ersten Lieder beigebracht, später das Schwimmen in der Lagune, das Fischen, die Zubereitung von Speisen, fast alles, was woanders die Väter und Mütter lehrten. Er revanchierte sich, indem er sie auf Erkundungen ins teilweise unwegsame Inselinnere mitnahm und ihr die schönsten Stellen zeigte, wo man eine besondere Sicht hatte oder einen ganzen Tag lang nur für sich sein konnte. Natürlich war inzwischen die Kinderzeit vorbei, und sie unternahmen viele Dinge auch ohne den anderen, aber trotzdem kam Tristan sich manchmal wie ein Eindringling vor, wenn er sie zusammen sah. Er hatte Tuila das erst kürzlich gestanden, woraufhin sie ihn wieder mit jenem Blick bedacht hatte, der ausdrückte, wie unnötig schwer er sich alles mache.
Er trat hinter dem Geländer hervor, das ihn bisher verborgen hatte, und ging auf die beiden zu. Tupus Wunde am Oberarm sah schon viel besser aus. Das Blut war bereits geronnen, und die Naturmedizin der Einheimischen würde die Heilung beschleunigen. Es gab also keinen Grund mehr zur Eile. Trotzdem hatte er dem Steuermann, einem seiner samoanischen Polizisten, befohlen, mit voller Kraft zu fahren, und der Heizer, ein weiterer Polizist, kam kaum mit dem Schippen der Kohlen hinterher. Die Barkasse, ein altersschwacher Kahn, machte so laute Geräusche, dass eine normale Unterhaltung so gut wie unmöglich war.
»Wir sind gleich da!«, rief er.
Tuila richtete sich auf und löste sich aus Tupus sanfter Umklammerung. Ihr Haar flatterte wie ein schwarzer Wimpel im Fahrtwind, als sie mit Tristan zum Bug des Schiffes ging, und dort wandte sie ihr Gesicht in Richtung der Küste von Savaii und der waldbedeckten Berge.
»Ich bin in diesem Moment sehr glücklich«, sagte sie.
Er lächelte. »Wieso?«
Tuila sah ihn an, als stelle ein Kind eine Frage, auf die man selbst nie gekommen wäre.
»Die beiden Männer, die ich am meisten liebe, sind nah bei mir.«
Sie blinzelte ihm sanft zu. In ihren Augen stand der Wunsch nach seinem Körper, und er erwiderte ihren Blick auf die gleiche Weise. Nur seine Uniform hielt ihn davor zurück, dieser verdammte Schneiderrock, das Symbol seiner Autorität. Der Steuermann sah von seinem Führerhaus aus zu, und Tristan fand, dass er ein schäbiges Vorbild abgeben würde, wenn er von seinen Leuten Disziplin im Dienst erwartete, selbst jedoch mit Frauen auf dem Vordeck eines kaiserlichen Polizeidampfers schmuste. Das verstand auch Tuila. Daher fragte sie: »Gehen wir nachher spazieren?«
Er nickte lächelnd. »Am Abend. Zum Mafane hoch, zu unserem Platz am Bach.«
»Mein Lieblingsplatz.«
»Irgendwann«, sagte er, »werden wir jeden Abend dort hinaufgehen, immer wenn die Sonne untergeht. Jeder einzelne Tag wird vollständig uns gehören, Tuila. Ich baue uns ein Haus, ein großes Haus. Und wir pflanzen Bäume, an denen große Früchte wachsen. Unsere Kinder werden sie für uns pflücken, wenn wir zu alt sind hochzuklettern.«
Ein Strahlen ging über ihr Gesicht. »Du bist ein seltsamer Mensch«, sagte sie. »Wie zwei in einem. Einer ist angefüllt mit Pflicht, der andere mit Liebe.«
Angespornt durch diese exakte Beschreibung, bekräftigte er mit einem trotzigen Stirnrunzeln: »Du wirst sehen. Es wird so kommen, wie ich sage. Ich verspreche es.«
»Du darfst nicht länger mit ihm zusammenbleiben, hörst du?«
Tupus Augen hatten einen Ausdruck, der Tuila fremd war. Etwas Herausforderndes lag in ihnen, etwas Gewalttätiges. Es war, als halte er ihre beiden Handgelenke umschlossen und versuche, sie auf die Knie zu drücken. Er wollte, dass sie tat, was er befahl.
Die Geschwister befanden sich auf dem Weg nach Palauli, ihrem Dorf, wo sie beide noch im Haus der Eltern lebten. Tristans Boot hatte in Salelologa angelegt, an der Polizeistation, und dort hatten ihre Wege sich getrennt. Tuila würde ihn vermissen. Ihre Abende hatte sie ganz auf ihn ausgerichtet. Meistens kam er zur Zeit des Sonnenuntergangs. Dann klopfte er höflich an einen der Pfosten, die das offene fale umgaben, bat um Einlass, zog sich die Schuhe aus und setzte sich für einige Minuten zu ihren Eltern auf den Boden, anstandshalber. Sie sprachen nicht viel miteinander, weil es nichts zu sprechen gab. Was hatte ein betagter samoanischer Kokosbauer einem jungen deutschen Offizier schon mitzuteilen, vor allem, wenn er dessen Sprache nicht verstand? Tuila fungierte für die wenigen Förmlichkeiten, die sie austauschten, als Übersetzerin – sie hatte Tristans Sprache schon vor einem Jahr von einer Freundin gelernt, die lange mit einem Deutschen zusammen war, als dessen Geliebte. Ihr Vater kümmerte sich nebenher um das Abendessen, ihre Mutter flocht Matten. Irgendwann nickte Tuila Tristan leicht zu, dann wusste er, dass es Zeit war, sich zu verabschieden. Sie begleitete ihn hinaus, und von da an gehörte der Abend ihnen. Niemand aus dem Haus fragte danach, wann sie zurückkam, ob sie zurückkam, was sie mit Tristan in den gemeinsamen Stunden machte. Und niemand hatte sie je aufgefordert, Tristan zu verlassen. Bis eben.
»Das hast du nicht zu bestimmen«, antwortete sie ihrem Bruder leicht verärgert. »Die Eltern haben nichts dagegen, dass wir zusammen sind.«
»Er ist schlecht für dich.«
»Schlecht für mich ist, was mich unglücklich macht. Und momentan machst du mich unglücklich. Warum fängst du gerade heute mit so etwas an?«
»Seit heute bin ich ein Mann.«
»Und das Erste, was du als Mann tust, ist, einen anderen Mann für etwas verantwortlich zu machen, wofür er nichts kann. Kein guter Anfang. Willst du nicht sein Freund werden?«
»Er ist Deutscher.«
»Bis gestern hat dich das nicht gestört.«
»Du hast selbst gesehen, wie er dabeistand, als der Mann mit der Pickelhaube auf mich losgegangen ist.«
»Er hat versucht zu helfen.«
»Nicht aus vollem Herzen.«
»Nein«, erwiderte sie. »Aber mit mehr Herz, als du dir selbst geholfen hast, du Mann, der du sein willst.«
Tuila erschrak über den schmerzhaften Hieb, den sie Tupu gegeben hatte. Sie blieb stehen und blickte sich um, ob jemand sie gehört haben könnte. Doch sie waren allein. Der Weg, eine erdige Piste, auf der drei Leute nebeneinander gehen konnten, verlief auf dieser Strecke beinahe schnurgerade, beidseitig abgegrenzt von dichtem Wald. Nichts war zu hören als das Gewirr der Vogelstimmen, das hier zur Stille gehörte, und gelegentlich fuhr wie eine verebbende Welle ein Windstoß durch das Blattwerk der Bäume. Tuila bereute, was sie gesagt hatte, denn nun, wo die Worte ausgesprochen waren, bevölkerten sie, Kreaturen oder Geistern gleich, die Insel. Man konnte sie nicht umbringen oder vergessen. Tupu würde Tuilas Worten, der Anklage, im Laufe seines Lebens immer wieder begegnen, ein endloses Echo auf ein einziges Versagen.
Ja, sie bereute es, denn sie liebte Tupu zu sehr, um Gefallen daran zu finden, dass er litt, aber falsch war die Anklage dennoch nicht. Tupu fehlte es nicht an körperlicher Stärke, er hatte die schlanke und muskulöse Gestalt der meisten Männer seines Alters. Und er konnte auch mutig sein, waghalsige Pläne durchführen, Abenteuer bestehen, Verbotenes tun. Doch ihm fehlte die letzte Konsequenz: Er stand nicht zu seinen Überzeugungen und Taten. Wenn er als Kind zusammen mit Spielgefährten irgendeinen Streich gespielt hatte, leugnete er selbst dann noch seine Teilnahme, als alle anderen längst gestanden hatten. Und später kündigte er Vorhaben niemals an, sondern berichtete erst, nachdem er Erfolg beziehungsweise falls er Erfolg gehabt hatte. Es lag etwas Schwaches und Kleinherziges darin, sogar Hinterhältiges, denn Menschen, die zu ihren Misserfolgen standen, kamen bei Tupu meist schlecht weg. Tuila hatte ihn nie deswegen kritisiert, im Grunde hatte sie ihn überhaupt nie kritisiert, denn ihrer beider Alltag war derart voll von Vergnügung und Nähe gewesen, dass kein Platz war für Vorwürfe.
Heute nun war er vielleicht zum ersten Mal bei einer Niederlage ertappt worden, und nicht nur das, Dutzende andere Männer hatten dabei zugesehen. Tuila konnte seine Wut darüber verstehen, weil ihm diese Niederlage von nun an wie ein Brandzeichen aufgedrückt und nur schwer zu tilgen war. Dass er wenig gegen die Attacke dieses deutschen Obersten hätte tun können, dass er selbst bei einem körperlichen Sieg am Ende verloren hätte, weil man ihn danach zweifellos verhaftet und für Jahre ins Gefängnis gesteckt hätte, und dass keiner der Anwesenden anders als er gehandelt hätte, nämlich eher passiv, spielte in den Augen der Insulaner keine Rolle. Man hatte ihn am Boden gesehen, den Fuß eines anderen Mannes im Gesicht. Eine schlimmere Erniedrigung gab es nicht für einen Samoaner, gleichgültig ob Mann oder Frau, und viele würden künftig diese Schmach mit Tupus Gesicht verknüpfen. So weit war Tuila ganz auf der Seite ihres Bruders. Sie würde ihn in dieser Sache stets den anderen gegenüber verteidigen. Doch dass er jetzt Tristan dafür verantwortlich machte – und es noch nicht einmal Auge in Auge tat, sondern nur ihr sagte – nahm sie ihm übel.
»Malie lou loto«, entschuldigte sie sich. »So habe ich es nicht gemeint. Ich finde nur, du solltest ihm selbst sagen, was du auszusetzen hast.«
Er fletschte die Zähne. »Eines lass dir sagen: Dein Tristan ist nur auf den ersten Blick netter als die anderen Deutschen. Er ist ein Besatzer, er hält uns gefangen. Er kommandiert Leute mit Gewehren.«
»Unsere eigenen Leute«, erwiderte sie. »Die Polizei, die Fita-Fita, besteht nur aus Samoanern.«
»Verräter, allesamt. Wir werden unterdrückt und sehen tatenlos dabei zu.«
»Was ist denn plötzlich los? Du hörst dich schon an wie die Mau«, erwiderte Tuila. Die Mau waren eine sehr kleine Gruppe von Widerständlern, die ab und an Sabotageakte verübte oder das, was sie darunter verstand. Sie drangen in deutsche Ställe ein und ließen die Pferde laufen, verwüsteten die Ränder einiger Plantagen, klauten Lieferungen und Ähnliches. Einmal hatten sie das Gouverneursautomobil demoliert. Dass die Deutschen diese – wie sie es nannten – Dummebubenstreiche nicht sonderlich ernst nahmen, war daran zu sehen, dass sie bisher nie ernsthaft gegen die Mau vorgegangen waren. Doch so harmlos sich die Taten der Rebellen ausnahmen, so energisch war ihre Wortwahl, wenn es um die Weißen ging.
Tuila hielt dagegen und zählte an den Fingern auf: »Die Deutschen haben für uns ein sauberes Krankenhaus gebaut. Sie verhindern durch Quarantäne, dass westliche Krankheiten auf uns übergreifen – was nicht selbstverständlich ist, wie wir von jenen polynesischen Inseln wissen, wo Briten und Franzosen herrschen. Weiter: Sie kaufen unsere Ernten zu anständigen Preisen, sie behandeln unseren König gut, sie respektieren unsere Sitten und Bräuche …«
»O ja, das habe ich heute gesehen.«
Tuila seufzte. Sie versuchte, die Schärfe aus dem Gespräch zu nehmen, denn ihr lagen Streitereien nicht; sie konnte danach nächtelang nicht schlafen.
»Zugegeben«, sagte sie, »dieser Oberst ist eine Ausnahme. Tristan mag ihn auch nicht, das hat er mir erst vor ein paar Tagen gesagt. Doch er kann nichts gegen ihn tun. Bei den Weißen nehmen Vorgesetzte etwa denselben Platz ein wie bei uns Familienoberhäupter. Sich gegen ihn aufzulehnen hieße, die ganze Ordnung seiner Heimat in Frage zu stellen.«
»Und genau deswegen wird Tristan sich eines Tages gegen uns wenden, wie dieser Oberst. Tristan wird alles tun, was die Weißen ihm befehlen, denn er ist ein Weißer, und keine noch so große Illusion von dir kann daran etwas ändern. Wenn sie ihm sagen: schieß, dann schießt er. Wenn sie ihm sagen: heirate eine Deutsche und verstoße deine Geliebte, dann wird er es tun. Er wird dich verlassen.«
Tuila ohrfeigte ihren Bruder derart heftig, dass Vögel von Ästen aufflogen.
Tupu berührte seine Wange und brauchte einige Momente, um zu begreifen, was geschehen war. Sie hatte ihn zum ersten Mal geschlagen. Viel schlimmer konnte der Tag nicht mehr werden, für keinen von ihnen.
»Es wird Zeit«, flüsterte er, »etwas gegen sie zu unternehmen, die papalagi.«
Er wandte sich abrupt ab und verließ mit schnellen Schritten den Weg. Das Dickicht hatte ihn bereits verschlungen, als Tuila hinter ihm herrief: »Tupu, wohin willst du? Komm zurück, bitte. Versprich mir, dass du Tristan nichts antun wirst. Tupu!«
Sie erhielt keine Antwort, der Wald blieb stumm. Alle Stimmen, die sie hörte, kamen aus ihrem Innern und redeten durcheinander. Wie bei den Vogelstimmen war auch bei diesen Stimmen eine einzelne nur mit Mühe von den anderen zu trennen.
Tuila bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen. Der Streit mit Tupu verwirrte sie, und sie begann zu zweifeln, woran sie bisher nie gezweifelt hatte. War nicht auch Wahres in Tupus Worten? Kannte sie Tristan denn so gut, dass sie sich seiner sicher sein konnte? Er sagte, dass er sie liebe, und er bewies es ihr in vielen zärtlichen Momenten: wenn sie sich gegenseitig mit Kokosöl einrieben, wenn sie bei Neumond gemeinsam in der Bucht schwammen mit nichts anderem über ihnen als dem Sternenkreuz des Südens, wenn sein blasser, von feinen blonden Haaren bedeckter Körper sich in einer schwarzen stillen Obstpflanzung ganz langsam über ihren schob und er sie dabei ansah, wenn sie danach einfach nur beieinander lagen und den Duft reifer Mangos einatmeten, wenn sie beim Abschied in seinen Augen trotz der Dunkelheit die Tränen glitzern sah. Er musste sie lieben, aufrichtig, niemand konnte sich derart verstellen. Niemand konnte von einem gemeinsamen Leben träumen und es nicht ernst meinen.
Oder doch?
Tristans Welt funktionierte anders. Die papalagi, die Weißen, waren voller Winkel, Kanten und Löcher und oft schwer zu verstehen. Tuila hatte gehört, dass sie Tiere in Gehege sperrten und zur Schau stellten, aber im Grunde waren es doch sie selbst, die gefangen waren in einem Netz aus Zeit, Geld und Pflicht. Dort, wo sie herkamen, lebten sie wie Seemuscheln in einem festen Gehäuse, oft eng aneinander gedrängt. Ihre Häuser glichen riesigen steinernen Truhen, zwischen denen sie von früh bis spät umherliefen. Ihre diversen Rituale fraßen die Stunden des Tages und das Geld aus dem Beutel. Doch ohne Geld wiederum konnten sie nicht existieren. Für alles mussten sie zahlen, für die Plätze, auf denen ihre Häuser standen, nach jedem Mondumlauf für die Häuser selbst, für das Wasser und das Licht und die Wärme, ja sogar für die Aufbewahrung des Geldes selbst mussten sie Geld geben. So opferten sie also Zeit, um Geld zu bekommen. Viele von ihnen arbeiteten ohne zu sprechen, denn die Maschinen ließen ihnen dafür keine Gelegenheit. Diese Menschen bekamen eher einen geringen Lohn. Andere wiederum redeten unentwegt und taten ansonsten nicht viel, erhielten dafür jedoch einen hohen Lohn. Zu singen und zu summen galt in jedem Fall als unmöglich, und wer es dennoch tat, wurde für nicht normal erklärt. Das Schlimmste jedoch war, dass sie Dinge sagten, die sie nicht meinten, ja, bei denen sie sogar insgeheim das Gegenteil dachten. So machten die Frauen sich gegenseitig Komplimente über die Kleidung, und kaum sprachen sie mit einer anderen, änderten sie ihre Meinung plötzlich. Und die Männer redeten sich mit »Geehrt« und »Geschätzt« an, nur um sich im nächsten Augenblick anzufeinden.
Tuila konnte diese komplizierte Welt nicht begreifen, von der Tristan ihr erzählt und Bilder gezeigt hatte. War es dann nicht auch möglich, dass er sie liebte und dennoch verstieß? Sie hatte ihn schon manches Mal aus der Ferne beobachtet, wenn er weißen Frauen die Hand küsste, auch jungen, und sie am Arm spazieren führte. Waren das nicht bereits Rituale, die zu einer Vermählung führen konnten?
Einer Freundin von ihr aus einem benachbarten Dorf, diejenige, von der sie Deutsch gelernt hatte, war es so ergangen. Sie lebte mit einem Deutschen zusammen, einem Mann, der Bücher schrieb. Jeden Tag beteuerte er ihr, wie sehr er sie liebe. Sie badeten im Meer, besuchten Feste, er baute ein kleines fale für sie, sie bekam ein Kind von ihm, und sie lebten zwei volle Jahre glücklich miteinander. Dann kam für ihn ein Brief von weit her, und eines Morgens wachte sie auf, und er war fort. Ohne ein Wort. Ohne einen letzten Gruß. Ohne auch nur einen Gegenstand als Erinnerung zurückzulassen. Und wäre nicht das Kind gewesen, hätte sie glauben können, sie habe alles nur geträumt.
Tuilas Freundin lebte nicht mehr. Sie hatte sich und das Kind ertränkt.
Das alles wirbelte in ihrem Kopf durcheinander.
Er wird dich verlassen, hallte Tupus Stimme in ihr nach. Er wird eine andere heiraten.
Tuila wollte es nicht glauben. Trotzdem stieg Angst in ihr hoch, und mit der Angst kamen die Tränen.
Ihre kleine, schmale Hand umklammerte einen Hibiskus, dessen rote Blüten überall entlang des Weges zwischen dem Grün aufleuchteten. Sie nahm eine davon und steckte sie hinter das linke Ohr, ein traditionelles Zeichen, dass ihr Herz vergeben sei, eine kleine, fast ohnmächtige Geste angesichts der Widrigkeiten, die Tristan und sie umgaben.