6
Samoa, November 2005
»Auf diese Weise hat sich Tupu in das Haus meiner Eltern eingeschlichen«, sagte Ili und trank den letzten Schluck Kokosmilch. Sie hatte bereits drei Becher geleert, genauso viele wie Evelyn, und der dicke Wirt hatte ihnen außerdem noch eine Schale mit Noni-Früchten gebracht. Auf dem kleinen Cafétisch war wegen den Gefäßen und dem klobigen Telefon kaum noch Platz.
»Er nahm sich die Hälfte von allem, ohne zu fragen«, fuhr Ili fort. »Tupu spekulierte auf Tuilas Liebe zu ihrer Familie und lag damit richtig, und Tristan war seinem Schwager wieder nicht gewachsen. Er war überrumpelt worden und verärgert, schluckte aber seinen Protest hinunter und arrangierte sich mit der Situation.« Etwas lauter, als man das gewöhnlich macht, stellte Ili den Becher auf den Tisch zurück. »Er konnte wirklich furchtbar nachgiebig sein.«
Evelyn bemerkte die Verbitterung Ilis. »Ein wenig verstehen kann ich Tristan schon«, beschwichtigte sie. »Er wagte nicht, seine Frau derart zu enttäuschen, wenn er Tupu und Ivana wieder vor die Tür gesetzt hätte. Sie war so glücklich, ihren Bruder, mit dem sie aufgewachsen ist, bei sich zu haben, und dabei fiel ihr überhaupt nicht auf, wie sie benutzt wurde. Wie hätte Tristan ihr das klar machen sollen, ohne einen heftigen Streit zu riskieren?«
Ili überlegte einen Moment, dann seufzte sie. »Vermutlich haben Sie Recht, Evelyn. Im Nachhinein ist man immer schlauer. Wenn Tristan auch nur im Entferntesten geahnt hätte, wohin das noch führen würde.«
»Bis jetzt ist alles, mit einigen Einschränkungen, eine schöne Liebesgeschichte.«
»Dabei bleibt es nicht, das muss ich Ihnen leider sagen.«
»Ich fürchtete es schon. Clara Hanssen machte ihre Drohungen bestimmt wahr.«
Ili nickte. »Clara Hanssen und das Gift, das sie verspritzte, ist das eine. Noch verheerender jedoch waren die drei Morde …«Ili hörte Evelyns leises Aufstöhnen und wiederholte: »Ja, drei Morde. Zunächst jedoch, für einige Wochen, wurde es ruhig. So schlimm war das Leben für Tristan erst einmal gar nicht: Tupu half ihm ein wenig bei der Anlage des Gartens und verhielt sich zurückhaltend. Schlau, wie Tupu war, begriff er, dass er den Bogen jetzt nicht mit weiteren Ansprüchen oder Auffälligkeiten überspannen durfte. Erst sollte sich aller Ärger Tristans über den ungebetenen Einzug legen. Dann aber, an einem Junitag …«
Ili unterbrach sich. »Oh, ich sehe gerade, dass es langsam zu dämmern beginnt. Wir sollten zum Hafen gehen. Die letzte Fähre fährt bald.«
»Ich – bleibe heute Nacht in Apia, mache einige überfällige Besichtigungen und gehe schön essen. Ich hoffe, Sie sind nicht böse, Ili.«
»Wie kommen Sie denn darauf? Recht haben Sie! Ich habe mich schon gefragt, meine Liebe, wann Sie die Schönheiten, die sich Ihnen hier bieten, erforschen würden.«
Evelyn erwachte mit den ersten Anzeichen des Tages. Die gelben Voiles an den Fenstern intensivierten das hereinflutende Licht, und die cremefarbenen Tapeten, die roten Teppiche und die makellos weiße Bettwäsche, das alles war warme, duftende Sauberkeit.
Sie warf einen leicht beunruhigten, aber auch zufriedenen Blick zu Ray. Er hatte die Bettdecke bis zu den Füßen heruntergeschoben und schlief nackt und braun neben ihr, unbeweglich wie ein Aktfoto. Er trug noch eine Socke, ein Zeichen dafür, wie schnell gestern Abend alles gegangen war.
Sie hatte sich vor dem Abendessen ein Leinenkostüm in einer Boutique gekauft und gleich dort angezogen. Im Aggie Grey’s, ahnte Evelyn, war Abendgarderobe erwünscht, aber Ray hatte sich darum nicht geschert. Mit einer schwarzen Jeans und einem engen T-Shirt trotzte er den leicht pikierten Blicken des Personals und der Gäste an den umstehenden Tischen. Spätestens von diesem Moment an verglich Evelyn die beiden Männer, Ray und Carsten, und alles, was Ray sagte oder tat, stellte sie dem gegenüber, was Carsten in den letzten Jahren gesagt oder getan hatte. Carsten wäre nie in einem solchen Aufzug in ein Restaurant gegangen. Er war gewohnt, den Menschen zu gefallen, und nicht, sie zu provozieren.
»Ich denke für mich selbst«, hatte Ray gesagt. »Ich möchte nicht dasselbe wie andere im Kopf haben. Schau dir nur mal die Leute hier an: Die sehen doch alle aus wie kolorierte Filmfiguren, sie spielen Rollen, leben das Leben von Drehbüchern und Romanheftchen und zappeln am Faden von Modemachern. So jemand bin ich nicht. Ich mache, was ich will.«
Ihr gefiel, was er zu sagen hatte. Er war ein völlig anderer Typ Mann, als sie bisher getroffen hatte, und er passte tatsächlich in keine Schablone. Einerseits war er robust und stark – auch charakterlich –, andererseits äußerte er Gedanken, die so intelligent waren, dass sie gut einem Ratgeber für Selbstbewusstsein entsprungen sein konnten. Ray war widersprüchlich und gerade deswegen aufregend.
Ziemlich schnell hatte er ihr Hoffnung gemacht, dass er nicht das komplette Land kaufen werde. Es hing noch von Architekten und Landschaftsgestaltern ab, welchen Teil und wie viel. »Die geben mir in ein paar Tagen Bescheid. Wir wollten im Hinterland Pfade und Aussichtspunkte anlegen, weißt du, da erwarten wir natürlich Entgegenkommen von den beiden Valaisis.«
Evelyn hatte sich Ilis glückliches Gesicht vorgestellt, und bei dem Gedanken, dass ihre Initiative zu diesem Erfolg führen würde, war ein Energiestoß durch ihren ganzen Körper gegangen.
Danach war eins zum anderen gekommen, wie bei einem vorhersehbaren Dominospiel. Die guten Gespräche, die Weine und Cocktails, seine Augen, seine hypnotisch tiefe Stimme, der ganze Erdball als Distanz zwischen ihr und allem, was zu Hause war – sie war berauscht gewesen und glücklich wie schon lange nicht mehr. Noch im Restaurant hatte er sie geküsst, vor allen anderen, und sie hatte es zu ihrer eigenen Überraschung genossen.
Jetzt streichelte sie seine behaarte Brust und sein stoppeliges Kinn und stand auf. Eines seiner Hemden, das über einem Stuhl hing, gefiel ihr und sie zog es über. Da sie Ray nicht wecken wollte, schlich sie aus dem Schlafzimmer in den eleganten Hauptraum. Dort öffnete sie ein Fenster, umarmte sich mit Rays viel zu langen Hemdsärmeln selbst und sog tief den Duft des Gartens ein, der sich hübsch und bunt wie eine Seidenmalerei unter ihr erstreckte.
Evelyn lauschte in sich hinein. Sie erwartete irgendeine Reaktion ihres Gewissens, Reue oder Bedauern, doch da war nichts. Im Gegenteil: Bis eben hatte sie sich keine Gedanken gemacht, wie es zwischen Carsten und ihr weitergehen solle. Ihre Flucht nach Samoa war ja nicht überlegt gewesen, weder leidenschaftlicher Streit noch eisiger Abscheu lagen dem zugrunde, und der Gedanke an eine Scheidung war ihr weder in den letzten vier Jahren noch in den vergangenen Tagen auch nur ein einziges Mal gekommen. Ständig hatte Evelyn irgendwie versucht, mit dem Schmerz über den Verlust ihrer Tochter zurechtzukommen, aber nie hatte sie ihre Ehe in Frage gestellt. Heute Morgen war ihr die Möglichkeit einer Trennung allerdings nicht länger fremd, ja, was letzte Nacht vorgefallen war, erschien ihr sogar so normal wie der Punkt am Ende eines langen Satzes. Was zwischen Carsten und ihr einmal so hell und hoffnungsvoll begonnen hatte, ging zu Ende. Nicht nur sich selbst, sondern auch Carsten hatte sie einen Gefallen getan. Mit was für einer Frau hatte er jahrelang leben müssen, wie viele ihrer Tränen hatte er ertragen, wie viel Spott seiner Eltern, wie viel Mitleid seiner Freunde, wie viele stumme Abende neben einer trostlosen Frau.
So furchtbar es klang: Schlimmer noch als der eigentliche Tod ihres Kindes war das, was er hinterlassen hatte.
In den Stunden, nachdem ihr der Arzt gesagt hatte: »Ihre Tochter ist tot …«, war sie wie gelähmt gewesen. Die Szene am Bett erschien ihr unwirklich, bizarr, wie ein Bild aus einem Albtraum. Natürlich wusste sie, dass es kein Albtraum war und dass ihre Tochter nach nur drei Stunden und vierzehn Minuten Leben diese Welt schon wieder verlassen hatte. Wie oft mochte die Kleine geatmet haben? Hatte sie die bedingungslose Liebe gespürt, die Evelyn für sie empfand? Alle diese Fragen gingen ihr durch den Kopf, während das Beruhigungsmittel zu wirken begann. Sie weinte nicht, sie brach nicht zusammen. Die Welt schien zu explodieren und in Millionen Scherben zu zerspringen, es wurde dunkel, und der Boden unter ihren Füßen drohte sie zu verschlingen – doch sie regte sich kaum, so als wäre sie ein Kind, das inmitten schwärzester Nacht aus seinem Bett auf die sich langsam öffnende Tür blickt, in der ein Schatten auftaucht. Sie hielt still. Gefasst sah sie dabei zu, wie die Krankenschwestern im anbrechenden Morgen das Frühstück servierten, wie drei weiße Arztkittel einige Minuten lang um sie herumschlichen, wie ein über das ganze Gesicht strahlender Mann hereinkam und sich entschuldigte: »Verzeihung, falsche Tür.« Sie nickte. Es war, als schaue sie sich selbst von außen zu, wie sie im Bett lag und alle Bemühungen unbeeindruckt über sich ergehen ließ.
Carsten kam vorbei und weinte eine ganze Stunde lang. Sie konnte nicht weinen.
Carsten ging, ihre Eltern kamen. Sie setzten sich neben sie und starrten Löcher in den Fußboden. Gelegentlich seufzten sie, tätschelten ihre Hand und sagten etwas wie: »Das arme Kind« oder »Mein armes Kind« oder »Wird schon wieder«. Nach einer Weile schien ihr Vater sich mehr für die Krähen im Krankenhausgarten zu interessieren, die um die kahlen Bäume kreisten, und ihre Mutter prüfte die Hautverträglichkeit der Krankenhausseife.
Sie gingen, andere kamen. Freundinnen, die Evelyn sagten, sie wüssten, wie sie sich fühle, und wenn sie reden möchte, dürfte sie jederzeit anrufen. Dann Verwandte, Kollegen, ein Psychiater vom Krankenhaus. Wer nicht kam, waren ihre Schwiegereltern.
Der Einzige, der ihr wirklich half, war Carsten. Nicht durch seine Anwesenheit, seine Tränen, seinen Trost, wie er glaubte, sondern durch einen Streit, den letzten Streit zwischen ihnen überhaupt.
»Ich möchte sie Julia nennen«, sagte sie am Tag nach dem Tod der Kleinen. »Der Name hat mir immer gefallen.«
Er zuckte mit den Schultern, schwieg.
»Hast du nichts dazu zu sagen?«
»Ich finde es nicht wichtig, wie sie heißt, jetzt wo …« Er zuckte ein weiteres Mal mit den Schultern. Er meinte es nicht so, wie es aussah, er war nur hilflos, doch gerade diese unbeholfene Geste machte Evelyn wütend.
Sie richtete sich in dem Krankenbett auf. »Nicht wichtig? Nicht wichtig, was für immer auf dem Grabstein deiner Tochter stehen wird? Was wäre dir denn lieber? Soll dort einfach ›Tochter‹ stehen? Tochter Braams? Oder Tochter von Evelyn und Carsten?«
»Kein Grund zur Aufregung. Bitte, dann nennen wir sie Julia.«
Sie fand die nachlässige Art, wie er über eine so wichtige Frage sprach, ungeheuerlich. »Wir geben hier nicht einer Katze einen Namen, sondern …«
»Ich weiß«, sagte er mit zitternden Lippen. »Du brauchst mir nicht zu sagen, über wen wir reden. Ich habe sie auf dem Arm gehalten, so wie du. Ich habe ihren Atem gespürt, genau hier.« Er deutete auf sein unrasiertes Kinn. »Also hör auf, mich zu behandeln, als sei mir ihr Tod gleichgültig. Im Moment habe ich eher das Gefühl, dass du es bist, die …« Er schluckte, lief aus dem Zimmer.
Zu früh. So seltsam es klang, unbewusst war sie Carsten sogar dankbar für seine ungeschickte Art gewesen. Sicher, sie regte sich furchtbar über ihn auf, aber genau das, dieser Streit, war das einzige Ventil, durch das sie einen Teil der Verzweiflung ablassen konnte, die sich in ihr staute. Viel zu wenig. Nachdem er gegangen war, setzten sich die aufgewühlten Gefühle wieder ab wie Asche, die alles bedeckte.
In der Leichenhalle des Krankenhauses besuchte sie den geliebten Körper. Leblos blau lag Julia vor ihr. Kein Mensch und kein Gott konnte sie wieder wecken. Evelyn konnte es nicht begreifen, zu unheimlich, zu unergründlich war das, was geschehen war. Ihre Gedanken standen still, während sie bei dem kleinen, kalten Körper saß und ihn berührte, streichelte.
Erst als am nächsten Tag der winzige Sarg in die Erde gelassen wurde, tat sich in Sekundenschnelle der Abgrund vor Evelyn auf. Ein gewaltiger, verzerrter, stummer Schrei stieg in ihr hoch. Sie fand sich in einer grauenhaften Wirklichkeit wieder und begriff, dass es anders als bei einem Albtraum niemals ein erlösendes Erwachen für sie geben würde, dass sie nicht entfliehen, nicht entkommen konnte. Ihr Leben war zertrümmert, und inmitten der Zertrümmerung gab es nur Sinnlosigkeit. Sie weinte. Sie weinte um Julia, die so vieles gern getan hätte, die die Sehnsucht nach der Fülle des Lebens in sich getragen hatte, Sehnsucht nach Farben und Freude und Geheimnissen. Sie weinte um das hoffnungsvolle Leben, das vor ihren Augen zugeschüttet wurde.
Und sie weinte um sich.
Carsten ließ es nie wieder zu einer Auseinandersetzung kommen, es war beinahe so, als rieche er mögliche Streitpunkte und schaffe sie von vorneherein aus dem Weg. Er erledigte die Kondolenzanrufe und beantragte den restlichen Jahresurlaub, um bei ihr zu sein. Nach seinem Fehlverhalten bei der Namensgebung verhielt er sich wie ein liebender, besorgter Ehemann.
An manchen Tagen fühlte sie sich schwach und zerbrechlich wie ein verletzter Vogel, an anderen wallte für Sekunden Wut in ihr hoch und brachte Kampfgeist mit. Dann provozierte sie Carsten, indem sie sagte: »Deine Eltern haben mich noch nicht ein einziges Mal besucht. Ich sage dir, sie geben mir die Schuld, deswegen meiden sie mich. Diese Idioten!«
Und er antwortete: »Sie benehmen sich wirklich unmöglich, das habe ich ihnen auch schon gesagt.«
Peng! Carsten schoss jede Provokation ab, bevor sie Luft gewinnen konnte. Nicht nur, dass er Evelyn zustimmte, dass seine Eltern Idioten waren, er sagte es ihnen auch noch. Wie hätte sie ihm da Vorwürfe machen können! Trotzdem drängte es sie ab und zu, einen Streit mit ihm vom Zaun zu brechen, doch jedesmal nahm er ihr – bewusst oder unbewusst – den Wind aus den Segeln, indem er in allem nachgab.
Schon bald schlossen sich Carstens Wunden, Evelyns dagegen brachen immer wieder auf. Daher wandte sie sich an ihre Freundinnen, die gelobt hatten, immer für sie da zu sein. Sie wollte über Julia sprechen, über die wenigen Augenblicke, die ihr mit dem kleinen Wesen vergönnt gewesen waren, über die Schwangerschaft und die Eindrücke, die sie davon behalten hatte. Und über das, was sie jetzt fühlte – und die Angst, eines Tages nichts mehr zu fühlen. Doch sie erlebte eine Enttäuschung nach der anderen. Die meisten Freundinnen konnten mit Evelyns Wunsch, über Julia zu sprechen, nicht umgehen. Sie wollten Evelyn ins Kino einladen, einen Urlaub mit ihr verbringen und solche Dinge. Vor einem toten Kind hatten sie regelrecht Angst, ganz so, als sei das etwas Ansteckendes und wäre ein böses Omen für ihren eigenen Kinderwunsch oder die jungen Söhne und Töchter zu Hause. Andere wiederum behandelten Evelyn wie einen Pflegefall, erteilten unentwegt Ratschläge und waren eingeschnappt, wenn Evelyn diese nicht beherzigte. Da manchmal schon ein kleiner Auslöser genügte, um Evelyns Schmerz zum Ausbruch zu bringen, überlegten die Freundinnen sehr genau, was sie sagen und wie sie sich verhalten sollten. Sie mieden immer mehr Themen, nicht nur einfach das Thema Julia, sondern generell das Thema Kind und alles, was damit zusammenhing oder zusammenhängen könnte, also auch Schule, Schulnoten, Kindergelderhöhung, Kinderstreiche, ja sogar Verhütung und Sex. Sie vermieden es, bestimmte Dinge aus ihrem Leben zu erzählen, um Evelyn nicht wehzutun, bis sie irgendwann beinahe nichts mehr zu erzählen hatten. So wurde Evelyn für sie zu einem komplizierten, ermüdenden Menschen, und wer hat schon gerne ermüdende Menschen um sich? Die Gespräche wurden gezwungener, die Einladungen seltener, bis sie schließlich vollständig ausblieben.
Allein mit sich selbst, stellte sie sich immer häufiger die Frage nach dem Warum. Warum musste Julia so früh gehen? Eine gläubige Tante meinte am Telefon zu ihr: »Gott irrt nicht«, und der Pfarrer ihrer Kirchengemeinde versuchte, sie zu trösten, indem er sagte: »Wer weiß, vielleicht hat Gott ihr einen Gefallen getan. Vielleicht wäre ihr Leben unglücklich geworden.« So gut gemeint diese Antworten waren, für Evelyn waren sie zu einfach, zu unvollständig auch angesichts der Unerbittlichkeit dieses Todes. Wieder und wieder rief sie sich jede Einzelheit der Tage vor der Geburt, die Geburt selbst und die Stunden danach in Erinnerung. Irgendwie dachte sie, sie könne damit etwas an dem, was geschehen war, ändern. Natürlich war das absurd. Trotzdem klammerte sie sich an die abstrakte Hoffnung, ein Detail zu finden, das ihr bisher entgangen war und das ein neues Licht auf die Geschehnisse werfen würde.
Sobald sie etwas gefunden hatte, ging sie damit zu Carsten. »Erinnerst du dich an das, was der Arzt kurz vor der Geburt zu uns sagte? Wegen des Geschlechts? Sie konnten es monatelang nicht feststellen, aber plötzlich dann doch.«
Carsten ließ den Löffel in die Suppe sinken. »Es hat sich gedreht.«
»Sie hat sich gedreht«, korrigierte Evelyn.
»Ja, sicher. Sie. Sie hat sich gedreht, dadurch konnten sie das Geschlecht eindeutig feststellen.«
»Die Frage ist, ob diese Drehung normal war. Ich meine …«
»Evelyn, bitte. Das Mädchen …«
»Julia.«
Er nickte. »Julia kam gesund zur Welt. Sie haben sie nach der Geburt untersucht und nichts Ungewöhnliches gefunden.«
»Von dieser Untersuchung wissen wir überhaupt nichts. Wenn nun …«
»Kindstod«, seufzte er und schloss die Augen. »Plötzlicher Kindstod, das war die Ursache. So hat man es festgestellt. Nichts, was du spekulierst, wird daran etwas ändern.«
»Aber …«
»Bitte, Evelyn«, sagte er und rieb sich die Schläfen. »Ich kann nicht mehr. Wir haben doch wirklich schon häufig genug darüber gesprochen.«
Mit der Zeit hörte sie auf, ihre Gedanken mit Carsten zu teilen, und sie gab sich auch Mühe, nicht mehr ganz sooft daran zu denken. Die Schicht, die alle Gefühle in ihr erstarren ließ, wurde Tag um Tag dicker, der Schleier der Gleichförmigkeit senkte sich über die Tage. Ein langweiliges Buch, eine amerikanische Fernsehserie oder ein paar Zeitschriften reichten ihr aus, um die Stunden totzuschlagen. Die meiste Zeit lauschte sie auf die Stille des Hauses, die auch bei offenen Fenstern nur schwach vom fernen Lärm der Mainmetropole beeinträchtigt wurde. Dann lehnte sie sich zurück und döste.
So verging mehr als ein halbes Jahr, bis ihre Partnerin Bianca sie in den Beruf zurückholte.
»Ich schaffe das nicht allein, Evelyn«, erklärte sie bei einem ihrer Besuche. »Die Unternehmensberatung, das bist du. Jedenfalls identifizieren unsere Kunden die Firma mit deinem Gesicht, mit deinem Kopf. Übernimm zwei Aufträge pro Monat, bitte, das ist wirklich nicht zu viel verlangt.«
Bianca war die Einzige, die Evelyn in den letzten Monaten näher gekommen war, statt sich von ihr zu entfernen. Evelyn hatte bis dahin privat nur wenig mit ihr zu tun gehabt, denn sie waren zu verschieden. Bianca hatte eine direkte und bisweilen geradezu schrotige Art, ein Überbleibsel ihrer Kindheit auf dem Dorf. Aber sie verstand ihr Geschäft, und darum hatte Evelyn sich damals vor der Geburt auch für sie als Partnerin entschieden. Jetzt übertrieb Bianca absichtlich die Lage, um Evelyn wieder ein Stück ins Leben zurückzuholen.
Evelyn tat das Nötige, mehr nicht, und sie achtete darauf, nur Aufträge im Rhein-Main-Gebiet zu übernehmen, so dass sie jeden Abend zu Hause sein konnte. Die Reiselust, die sie früher so lebendig gemacht hatte, die Lust, Neues zu entdecken, war das Erste, das ihr abhanden kam. Anderes folgte: Sie verlor die Lust, essen zu gehen, die Lust an gutem Essen überhaupt, sie las keine Zeitungen mehr, interessierte sich kaum für neue Bücher und hörte auf, die alten Platten aufzulegen. Kleinigkeiten, die ihr Leben reich und bunt gemacht hatten, versickerten nach und nach: das Blättern in Fotoalben, das Interesse für Fremdsprachen, Kerzenlicht an Winterabenden, Gartenarbeit im Frühling, Diskussionen über Politik … Für nichts davon konnte sie sich noch begeistern, und obwohl sie wusste, dass sie sich hätte begeistern müssen, um nicht unterzugehen, vermochte sie es nicht. Sie fand sich damit ab, dass sie fortan einsam in einer trostlosen Welt leben würde.
Und Carsten arbeitete und schwieg.
Von da bis zum Alkohol war es für sie nur noch ein kleiner Schritt. Sie entdeckte, dass Rotwein am Abend wieder ein wenig Farbe in das Grau brachte, und als eine halbe Flasche nicht mehr genügte, trank sie eine ganze, und dann nicht nur abends, sondern über den Tag verteilt. Härtere Sachen wie Gin, Rum und Wodka kamen hinzu, wobei sie darauf achtete, sie nur in Form von Cocktails zu trinken, weil sie ihr sonst nicht schmeckten. Merkwürdig, dass sie bei Alkohol immer noch ein Gefühl von Genuss verspüren wollte. Andere Leute nahmen Baldrian oder rauchten oder stürzten sich in die Arbeit, und sie trank eben Alkohol, um sich zu beruhigen oder aufzumuntern.
Immer mehr davon.
Und Carsten schwieg weiter.
Die Freudlosigkeit, die Sprachlosigkeit, der Alkohol und die Ohnmacht, das alles war wie ein Schwelbrand, der nach und nach und fast unmerklich die ganze Konstruktion ihres Lebens zerfraß, bis nur noch eine einzige Erschütterung fehlte, die alles zum Einsturz bringen würde.
Die Erschütterung war nicht ausgeblieben.
Vor genau vier Tagen war Carsten nicht da gewesen. Er war eigentlich fast nie da. Seine Bank, die United Trade and Commerce Bank, die auf die Finanzierung von Unternehmensprojekten in aller Welt spezialisiert war, hatte ihn befördert. Mittlerweile war er verantwortlich für die Vergabe von Großkrediten auf dem gesamten afrikanischen Kontinent. Er war die Feuerwehr: Wenn irgendwo etwas aus dem Ruder lief, kam er und versuchte, das Problem zu lösen. Manchmal musste er ganz plötzlich fort. Es kam vor, dass sie den Telefonhörer abnahm, und eine gebrochen englisch sprechende Stimme sagte: »Hilton Hotel, Ouagadougou, guten Tag. Ich verbinde.« Dann knackte es in der Leitung, und Carsten sagte: »Hallo, Schatz, ich musste ganz schnell nach Ouagadougou.« Anfangs machte sie sich noch die Mühe, im Atlas nachzuschauen, wo Ouagadougou lag. Oder Nuakschott. Oder Harare. Oder Ndjamena. Als könne sie Carsten dadurch näher sein, dass ihr Finger auf einem roten Punkt auf der Landkarte ruhte! Doch das hatte sie irgendwann aufgegeben, nicht weil sie begriffen hätte, was für eine Idiotin sie war, sondern weil sie die Geografie Afrikas mittlerweile in- und auswendig kannte und keinen Atlas mehr benötigte, um zu wissen, wo Lubumbashi lag. Dort war Carsten gewesen, als er sie an jenem Abend um siebzehn Uhr angerufen hatte. »Hallo, Schatz. Ich musste nach Lubumbashi fliegen. Leider kann ich nicht lange reden, zwei Direktoren stehen schon hinter mir und warten, dass ich mit ihnen verhandle. Ist alles in Ordnung? Gut. Morgen bin ich wieder zurück. Bis dann. Tschüs.«
Sie glaubte zuerst, er mache einen Scherz. Früher, am Anfang ihrer Ehe, hatte er manchmal angerufen und behauptet, irgendwo anders zu sein, aber eine Minute später klingelte es dann an der Tür, und er stand mit einem Blumenstrauß vor ihr oder einer Schüssel selbst gemachter Mousse au chocolat oder etwas anderem, das ihr Freude bereitete. Das war lange her, ja, aber im ersten Moment fiel ihr keine andere Möglichkeit ein. Er konnte nicht weggeflogen sein. Nicht heute! Nicht an diesem Tag!
Also schob sie die Gardinen beiseite und lugte zum Fenster hinaus. Doch sie sah nur die blattlosen, vom Novembersturm gepeitschten Zweige der Vorgartensträucher und die sorgfältig aufgereihten Mülltonnen vor dem Haus. Das war unmöglich. Er würde doch niemals diesen besonderen Tag vergessen, diesen wichtigsten Tag von allen, an dem sie stets gemeinsam auf den Friedhof gingen und Hand in Hand vor Julias Grab standen. Nur an diesem Tag waren sie noch Mann und Frau, nur dort, im Angesicht der Katastrophe trennte ihr Schweigen sie nicht wie sonst, sondern vereinte sie. Diesen Tag zu verlieren, das war für Evelyn so, als würde sie alles verlieren.
»Nein!«, schrie sie mit aller Kraft. Der Schmerz stieg in ihr hoch wie Übelkeit, und dann geschah alles wie von selbst. Sie wankte ins Badezimmer, stolperte an der Schwelle. An diesem Tag hatte sie nichts getrunken, denn es wäre ihr wie eine Entweihung vorgekommen, den Geburts- und Todestag Julias mit Alkohol zu vernebeln. Aber die Tränen machten sie fast blind, sie sah alles verzerrt, entstellt, die ganze Welt war wie von Tränen umspült. Sie stand wieder auf und griff sich ein Küchenmesser. Ihre Hände zitterten. Sie blickte in den Spiegel und dachte an ihre Tochter, dieses kleine, hilflose Wesen, das vor genau vier Jahren gestorben war, drei Stunden alt. Von diesem Moment an war sie allein gewesen, jeden einzelnen Augenblick, allein mit diesem Schmerz, der alles durchdrang, den keine Wand und keine Waffe aufhalten konnte, der sich in ihren Alltag drängte, in ihr Herz, in ihre Träume, der sie auf Schritt und Tritt begleitete und sich nicht abschütteln ließ, so als wäre er ein bösartiger Dämon, der sie quälte bis zum Tod.
Alles war besser, als nur noch für den Schmerz zu existieren.
Sie wollte nichts mehr davon. Sie wollte das Nichts. Sie setzte das Messer an der Pulsader an. Erneut blickte sie in den Spiegel, schloss die Augen.
In diesem Moment klingelte das Telefon.
Ihre Hände krallten sich um Rays Hemd. Sie schloss die Augen und lehnte sich gegen den Fensterrahmen. Eine Weile stand sie nur so da, starr, und wartete, dass der Schmerz verging. Tausendmal hatte sie dieses Gefühl schon erlebt und gewöhnte sich doch nie daran. Leiden war etwas, an das sich niemand gewöhnte.
Als sie wieder in den Garten des Aggie Grey’s blickte, war alles vorbei. Der Wind fächelte kühle Luft in den Raum, irgendwo draußen schepperten ein paar Teller, und ein kleines Sportflugzeug zog summend eine Linie über den Horizont. Sie setzte sich auf den nächstbesten Stuhl und spürte, wie sie sich entspannte. Kurz warf sie einen Blick zur Zimmerbar, wandte ihn aber sofort wieder ab wie von einer hässlichen Fratze.
Ziellos lief sie im Raum umher. Jetzt zu Ray zu gehen traute sie sich nicht. Er sollte nach ihrer ersten gemeinsamen Nacht keine Frau mit ängstlichen Augen neben sich haben.
Der Zimmerservice fiel ihr ein. Sie könnte ein Frühstück bestellen, mit dem sie Ray überraschen würde. Sie wünschte sich, irgendetwas gemeinsam mit ihm zu tun, und auf keinen Fall hatte sie vor, ihn in den nächsten zwei Stunden zu verlassen.
»Zimmerservice? Ich hätte gerne ein Frühstück bestellt für zwei Personen. Wie bitte? Oh, ich nehme einen Obstsalat, ein Croissant mit Marmelade und ein Ei.«
Sie überlegte schnell, was ein typischer Amerikaner wohl gerne hätte, und sagte: »Rühreier mit Speck und Würstchen, bitte, und ein Blaubeerpfannkuchen mit Sirup. In einer Viertelstunde? Danke.«
Sie legte auf und lächelte das Telefon an. Ein Frühstück im Bett – auch das war schon eine Ewigkeit her.
Unwillkürlich fiel ihr Blick auf einen Zettel neben dem Telefon, auf dem ihr der Name »Valaisi« ins Auge stach. Es handelte sich um eine Art Kostenaufstellung: Geld für Valaisis, zwei Millionen. Provision für Ane, einhunderttausend. Löhne im ersten Monat, sechzigtausend. Verladekosten pro tausend Stämme, Schiffsfracht pro tausend Stämme, Zölle für Holz …
Evelyn runzelte die Stirn.
Sie hörte ein Geräusch, und im nächsten Moment kam Ray aus dem Schlafzimmer.
»Hallo, Darling«, sagte er. »Was machst du da?«
»Ich …«
»Ich habe Stimmen gehört. Hast du Selbstgespräche geführt oder meine Telefonrechnung mit einem Ferngespräch nach Deutschland belastet?«
Nackt und stark wie Herakles stand er vor ihr und küsste sie, wobei er ihren Kopf gegen sich presste. »Na, wie hat dir das gefallen?«
»Ich – ich habe Frühstück bestellt. Es ist in einer Viertelstunde da.«
»Gut«, sagte er und strahlte sie mit seinen pfefferkorngroßen Pupillen an. »Dann geh ich noch schnell duschen. Willst du mitkommen?«
»Äh, nein. Ich wollte sagen, ich komme gleich nach. Mir fehlt ein Ring. Ich muss ihn hier irgendwo verloren haben.«
»Wie du willst. Aber dir entgeht etwas.«
Als sie die Dusche rauschen hörte, überflog sie noch einmal die Aufstellung. Obwohl sie keine Expertin für Hotelbau war, fiel ihr dennoch auf, dass keinerlei Baukosten aufgeführt waren. Stattdessen drehte sich alles um Rodungsarbeiten und Weiterverarbeitung von Stämmen.
Sie öffnete eine Schublade des Schreibtischs, in der nur Bürokram herumlag, dann eine zweite, eine dritte, und dort schließlich stieß sie auf eine Mappe.
Sie öffnete sie. Darin enthalten war eine Expertise, in der die Qualität der Tropenhölzer auf Samoa beurteilt wurde sowie die Möglichkeiten der Weiterverarbeitung. Das Angebot eines Möbelherstellers lag bei, die genannten Summen waren beachtlich. Auf einem Briefbogen fand sie den Namen von Rays Firma: Kettner’s Wood.
Holz. Alles drehte sich um Holz.
Sie suchte weiter, in Schubladen, auf dem Schreibtisch, in einer Aktentasche. Sie ging durchs Zimmer und hielt nach Skizzen oder Plänen Ausschau. Doch was auch immer sie fand, es hatte nichts mit einem geplanten Hotel zu tun.
Sie hörte Schritte auf dem flanellweichen Boden, drehte sich um – und er stand vor ihr.
Wieso nur glaubt alle Welt, Samoa ist das Paradies, fragte sich Ane, als sie über die Beach Road lief und die Auslagen in den Schaufenstern betrachtete. Hier konnte man doch noch nicht einmal schöne Dinge einkaufen! Sie konnte die Gipsbüsten von Robert Louis Stevenson und die falschen Perlenketten, die wie Kinderspielzeug aussahen, einfach nicht mehr sehen. Diese Armseligkeit machte sie fast krank.
Wohin sie auch blickte, entdeckte sie Verfall. Die Kolonialfassaden mochten ja einst recht hübsch gewesen sein – Ili betete diese Litanei jedenfalls andauernd herunter –, aber heutzutage waren sie angegraut, windschief und eingezwängt zwischen modernen Regierungsgebäuden, und die Spuren der Orkane von 1990 und 1991 waren auch noch immer zu sehen. Entlang der Promenade, an den Ständern der Souvenirshops, zappelten die immer gleichen Kleider im Wind, so bunt und dünn, dass sie anderswo nur als Putzlappen gedient hätten. Boutiquen, in denen man richtige feine Kleider einkaufen konnte, gab es fast gar nicht, von einem Einkaufszentrum wie in Sydney ganz zu schweigen. Einkaufszentrum auf samoanisch! Was hätte man dort schon bekommen können, außer Bananen und Gipsbüsten!
Bei diesem Gedanken musste sie verächtlich lächeln. Sie gehörte nicht hierher, das war ganz offensichtlich, und es war gemein und egoistisch von ihrer Großmutter, dass sie sie all die Jahre hierbehalten hatte und ihr außer einem mageren wöchentlichen Taschengeld, das ihr wie Hundefutter in einer Holzschale überreicht worden war, nichts gegeben hatte. Noch mit fünfzehn Jahren hatte sie eineinhalb Dollar pro Woche bekommen, gerade so viel, dass sie sich davon eine Kinokarte und eine Dose Cola hätte leisten können. Doch sie ging nicht ins Kino, denn das hätte bedeutet, mit den samoanischen Jungen verkehren zu müssen, und das wollte sie auf keinen Fall. Lieber blieb sie allein, lieber einsam sein, als sich mit künftigen Bauern abzugeben, mit einem von ihnen in einem Anfall von Lust zu schlafen, sein Kind auszutragen, und von da an jeden Tag einen trägen Nichtsnutz um sich zu haben, der sich zweimal in der Woche dazu aufraffte, in die Haine seiner Familie zu schlurfen, und den Rest der Zeit döste oder palaverte. Denn das war die männlich-samoanische Realität, war es immer gewesen. Die Lustlosigkeit lag ihnen im Blut! Schon bei der Vorstellung von einem solchen Mann bekam sie Bläschen auf den Lippen.
Mit sechzehn kaufte sie sich daher ein Schminkset und ein halbwegs schickes Kleid. Sie musste ihr ganzes gespartes Geld dafür ausgeben, aber die Investition lohnte sich, denn von da an bekam sie Zutritt zu den Touristenbars von Apia. Keinen einzigen der Drinks dort konnte sie selbst bezahlen, doch das musste sie auch nicht, denn die meisten Australier und Amerikaner waren spendabel – vor allem die Japaner. So spielte sie denn viele Abende lang die Geisha, wobei sie Acht gab, nie zu weit zu gehen, aber noch mehr darauf achtete, dass irgendetwas Schönes für sie abfiel: Geld, Schmuck, Sandalen, manchmal auch nur das Gefühl von Champagner auf der Zunge. Und immer spielte sie mit der Hoffnung, eines Tages entdeckt zu werden, von einem Geschäftsmann, einem Model-Scout oder einfach von einem wohlhabenden Mann auf der Suche nach einer schönen Ehefrau.
Fünf Jahre lang hatte sie vergebens auf ihren Retter gewartet. Nun war es endlich so weit.
Sie holte das Bündel Geld hervor, das Raymond ihr gestern überraschenderweise in die Hand gedrückt hatte, damit sie sich ein paar schöne Sachen kaufen könne. Zweitausend Dollar, man stelle sich das vor! So viel Geld hatte er ihr noch nie gegeben.
Sie betrat eine der Boutiquen und sah sich um. Es drängte sie danach, irgendetwas zu kaufen, das ihr im wahrsten Sinn des Wortes »begreiflich« machen würde, dass von nun an jeder Tag ein schöner Tag wäre.
Mit gespielter Gleichgültigkeit betrachtete sie die Blusen und Stoffe. Sie hatte den typischen Gesichtsausdruck wohlhabender Kundinnen schon damals in Sydney bemerkt und häufig vor dem Spiegel geübt. Einige Stoffe befühlte sie nur, um sie gleich danach wieder zu ignorieren, andere unterzog sie einer skeptischen Prüfung, bevor sie die Lippen spitzte, die Augenbrauen hochzog und der Verkäuferin bedeutete, den Artikel nehme sie in die engere Wahl. Preisschilder ignorierte sie geflissentlich. Als sie nach einer Weile fand, sie habe genug gestöbert, betrachtete sie den kleinen Kleiderberg, der sich mittlerweile für die engere Wahl angehäuft hatte, und sagte: »Ach, ich nehme das alles.«
Eine Minute lang wurde sie von einem unsagbaren Glücksgefühl durchströmt. Fast ihr ganzes Leben lang hatte sie darauf gewartet, diesen Satz aussprechen und beobachten zu können, wie eine Verkäuferin die Artikel nacheinander faltete wie kostbares Pergament und in die Tüten sortierte. Mindestens tausendmal war dies ihr letztes Bild gewesen, bevor sie einschlief, und nun passierte es wirklich.
Sie war am Ziel.
Plötzlich jedoch durchzuckte sie ein Schreck: Was, wenn sie soeben für mehr als zweitausend Dollar eingekauft hatte? Sie hatte sich nicht nach den Preisen erkundigt. Wie blamabel, falls sie die Verkäuferin bitten müsste, einzelne Teile wieder aus den Tüten herauszunehmen. Raymond hätte ihr ruhig seine Kreditkarte überlassen können, dieser Geizhals. Schließlich verdankte er ihr das lukrative Geschäft mit Moana und den schönsten Flecken auf ganz Savaii.
»Eintausendachthundertsiebzig Dollar«, sagte die Verkäuferin.
Ane fiel ein Stein vom Herzen, aber selbstverständlich ließ sie sich das nicht anmerken. »Oh, das habe ich zufällig in bar«, flötete sie und blätterte neunzehn Hundert-Dollar-Noten auf den Kassentisch. So wie sie es immer gewollt hatte, mit einem halben Dutzend Tüten in den Händen, verließ sie die Boutique und schlenderte weiter über die Promenade. Eigentlich hätte sie jetzt vergnügt sein müssen, doch so war es nicht. Der kleine Schreck in der Boutique hatte ihr die Laune verdorben. Es spielte keine Rolle, dass die Sache glimpflich ausgegangen war; entscheidend war, dass sie auch hätte nicht glimpflich ausgehen können. Was besaß sie denn jetzt schon noch? Einhundertdreißig Dollar, mehr nicht. Welche von den Versprechen, die Raymond ihr seit Wochen gab, hatte er bisher eingelöst? Weder die Greencard für Amerika war eingetroffen, von der er immer faselte, noch war das Telefonat mit einem Modedesigner zustande gekommen, den Raymond angeblich kannte und der auf der Suche nach Südseeschönheiten für die neue Kollektion war. Immer hieß es morgen oder übermorgen oder – noch schwammiger – wird schon noch, kommt schon noch. Langsam verlangte sie Fakten, die über ein Bündel zerknitterter Geldscheine hinausgingen, und da trösteten sie auch die Stunden mit ihm im Bett nur wenig.
Ausgerechnet die Auslage eines heruntergekommenen Zeitschriftenladens schaffte es, ihre Kellerlaune wieder zu heben. Das Titelblatt der Vanity Fair war ausgefüllt von Naomi Campbells braunem, schimmerndem Körper, der in einem Hauch pinkfarbenen Nichts steckte und Ane von Fotos ihres eigenen Körpers träumen ließ.
Sie kaufte die Vanity Fair, und weil es ihr schon wieder ein wenig besser ging, suchte sie nach einer Zeitschrift, die sie Ili mitbringen würde. Die Arme hatte es verdient, ein wenig aufgepäppelt zu werden. Der Gedanke, ihr wehzutun, behagte Ane gar nicht und war der einzige Wermutstropfen bei dem Geschäft mit Raymond. Und natürlich hatte Ane ihrer Großtante auch längst den vorgestrigen Auftritt verziehen, wo manches böse Wort gefallen war. Es war ja verständlich, dass Ili ein wenig aus der Fassung geriet. Das nahm Ane nicht allzu ernst, und sie hoffte, dass der Wirbel sich bald legen und sie sich wieder versöhnen würden.
Sie griff nach einer beliebigen Reisezeitschrift – Schwerpunktthema Baltikum, wo immer das lag – und packte noch einen Roman drauf, der in Samoa spielte. Dann machte sie sich auf den Rückweg zum Wagen.
»Du hast mich angelogen«, sagte Evelyn. »Das Hotel, die Pfade und Aussichtspunkte, gelogen. Dass du dir überlegst, nur einen Teil des Landes zu kaufen, dass du mit deinen Architekten und Landschaftsgestaltern reden willst, alles von vorn bis hinten erfunden. Du hast überhaupt keine Architekten und Landschaftsgestalter, du hast nur Holzfäller und Raupenfahrer.«
Die Arme vor der Brust verschränkt, sagte er: »Bist du fertig?«
»Ja«, antwortete sie. »Ja, ich bin fertig – mit dir!«
Sie suchte ihre verstreuten Sachen zusammen und zog sie völlig unkoordiniert an, während er redete.
»Hör zu! Es ist nicht so, wie du denkst. Na ja, nicht alles, jedenfalls. Gut, ich baue kein Hotel. Gut, ich will ein paar Bäume fällen. Und ja, ich habe dich angelogen. Aber ich hätte dir schon noch rechtzeitig die Wahrheit gesagt, und wenn du nicht vorher meine ganzen Sachen durchwühlt hättest, bevor ich die Gelegenheit dazu hatte …«
»Das wird ja immer besser. Jetzt bin ich also an deinen Lügen schuld. Und zieh dir endlich irgendetwas an. Es irritiert mich plötzlich, mit einem nackten Miesling wie dir in einem Raum zu sein.«
»Jetzt wirst du wieder hysterisch. Habe ich dich nicht glücklich gemacht? Du wolltest mich, du hast mich bekommen, und in der Zeit, die wir zusammen waren, ging es dir doch blendend.«
»Wenn man dich hört, könnte man glauben, wir wären seit Jahren zusammen. Es sind genau zwölf Stunden gewesen !«
»In denen du aufgeblüht bist.«
»Mir wird gleich schlecht. Du hast mich benutzt, Ray. Du hättest mich und damit Ili solange in Sicherheit gewiegt, bis die Verträge unterschrieben gewesen wären. Danach …«
»Nein, Evelyn, ehrlich. Du bist eine tolle Frau. Ich fand dich sofort attraktiv.«
»Als ich zuckend und spuckend in der Lounge saß, ja?«
»Na ja, ich dachte, die Frau hat was drauf, wenn man sie nur ein bisschen aufmöbelt.«
Sie starrte ihn fassungslos an. »Jetzt ist mir wirklich schlecht.«
»Komm schon«, sagte er und legte seine kräftigen Arme um sie. Sie war mittlerweile angezogen, bis auf einen Schuh, den sie nirgendwo sah. »Komm schon, mach keine große Sache daraus. Wir bleiben zusammen, ja? Hm? Komm schon, Evelyn. Wir bauen eine Beziehung auf.«
Sie befreite sich aus seiner Umarmung. »Du kannst nichts aufbauen, Ray. Du kannst nur niederreißen.«
Sie suchte den fehlenden Schuh nicht mehr, sondern ging. Als sie die Tür zu seinem Zimmer hinter sich geschlossen hatte und barfuß über den Korridor lief, war sie kurz davor, in Tränen auszubrechen wie so oft. Doch seltsamerweise konnte sie sie diesmal zurückhalten.
Gerade als Ane die Einkäufe im Jeep verstaute, sah sie Evelyn in Richtung Hafen laufen. Sie wirkte irgendwie zerzaust, trug einen Schuh in der Hand und machte alles in allem den Eindruck, als habe sie die Nacht in Gesellschaft einer Schnapsflasche verbracht.
Wirklich, dachte Ane, manche Menschen haben einfach keine Würde.
Sie überlegte einen Moment, ob sie sich lieber verstecken oder zu erkennen geben sollte, doch bevor sie sich entscheiden konnte, hatte Evelyn sie bereits gesehen. Evelyn war etwas außer Atem, was Ane bei einer Alkoholikerin allerdings auch nicht verwunderte.
»Wollen Sie zur Fähre?«, fragte Ane. »Die legt in zehn Minuten ab.«
Evelyn ging nicht darauf ein. »Ich habe eben erfahren, dass Ray Kettner in Wahrheit kein Hotel bauen, sondern den Wald roden will.«
Ane war völlig perplex. »Wald roden?«
Evelyn schnitt eine Grimasse. »Ihre Provision ist mir ebenfalls bekannt, Ane, Sie können das Spielchen also sein lassen. Beinahe nehme ich Ihnen Ihr Verhalten nicht einmal übel. Ray hat das Talent, die Menschen genau dort zu packen, wo sie ihre Schwächen haben, und dann trägt er sie mit sich herum.«
Ane verstand überhaupt nichts. »Ich weiß nicht, was …«
»Wie dem auch sei«, unterbrach Evelyn sie. »Etwas Gutes hat diese schlimme Sache wenigstens, denn nun kann Ili Ihre Großmutter überzeugen, das Land nicht zu verkaufen. Und wenn Sie auch nur eine Spur Anstand besitzen, Ane, helfen Sie ihr dabei.«
Die Fähre schickte ihr Signal über den Hafen, bereit zur Abfahrt.
»Ich muss gehen!«, rief Evelyn und rannte den Kai hinunter.
Ane verdrehte die Augen. »Du liebe Güte«, sagte sie halblaut vor sich hin, »das wird ja immer schlimmer mit der.«
Sie versuchte, den Gedanken an diese ebenso wirre wie unangenehme Begegnung abzuschütteln, und warf einen Blick in den Himmel, wo sich graue Wolken über Apia zusammenzogen. Es würde bald regnen. Sie musste sich beeilen, wenn sie im offenen Jeep noch trocken zum Hotel zurückkommen wollte, aber sie war plötzlich nicht mehr in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen oder schnell zu reagieren. Beinahe abwesend ordnete sie die Einkäufe auf dem Rücksitz, setzte sich ans Steuer und steckte den Zündschlüssel in den Anlasser. Sie war nicht fähig, ihn zu drehen. Für einen kurzen Moment kamen ihr wieder die Bilder in Erinnerung von dem Tag, an dem ihr Vater gestorben war, dem Tag des Brandes. Die halbe Plantage war abgebrannt, eine weite Ebene mit nichts als verkohlten Baumstümpfen und dem Schlick der verschmorten Früchte, und dazwischen eine einzelne schwarze Gestalt, kaum noch als Mensch zu erkennen.
Ane lehnte sich zurück und japste nach Luft. Warum kamen gerade jetzt diese Horrorbilder wieder zum Vorschein. Bilder, die nicht in diese Zeit gehörten. Die ihr Angst machten. Die störten.
Es musste an dem liegen, was Evelyn ihr gesagt hatte. Rodung. Verwüstete Flächen. Als Kind hatte ihr Vater Atonio ihr einen Papayabaum geschenkt, den sie selbst betreuen und abernten durfte, und der war nach dem Brand ebenso zerstört worden wie nach einer Rodung die Riesenfeigen und Schirmakazien zerstört wären, auf die sie als Kind so gerne geklettert war. Bei diesem Gedanken wurde ihr übel. So etwas konnte nicht sein, durfte nicht sein.
»Springt er nicht an?«, fragte jemand. Ein junger Mann war über die Straße gekommen und neben ihrem Wagen stehen geblieben. Er trug einen weißen lavalava, die traditionelle, bequeme Kleidung Samoas, und sein Oberkörper war wie bei den meisten samoanischen Männern nackt.
»Nein, ich … Ich meine doch.«
Er lachte, und Ane rang sich immerhin ein Lächeln ab, mehr als sie sonst für ihre gleichaltrigen männlichen Landsleute übrig hatte.
»Du kannst ja doch freundlich schauen«, sagte der junge Mann. »Meine Freunde da drüben haben mich gewarnt, dich anzusprechen. Die haben behauptet, du würdest den Charme eines Kaktus haben. Ich finde das nicht.«
»Oh, wie nett«, sagte sie spitz.
»Also, was ist nun mit dem Wagen? Du sitzt schon fünf Minuten da drin, ohne loszufahren.«
»Mit dem Wagen ist alles in Ordnung.«
»Aber mit dir nicht.«
»Wie bitte?«
»Du siehst nicht gut aus, ganz bleich. Besser, du fährst nicht.«
Die ersten dicken Regentropfen klatschten behäbig auf die Sitzpolster.
»Aber ich muss fahren«, sagte sie. »Sonst wird alles nass.«
»Ich helfe dir, das Verdeck aufzuziehen.«
»Ich habe es nicht dabei.«
»Nicht dabei?« Er schmunzelte. »Wenn ich nicht genau wüsste, dass du Samoanerin bist, würde ich dich für eine Touristin halten. Im November ohne Verdeck unterwegs, wo gibt’s denn so was!«
Sie verdrehte die Augen. »Ja, gut, es war dumm von mir. Bist du nun zufrieden? So, und jetzt muss ich fahren.«
»Warte«, rief er und öffnete die Fahrertür. »Ich fahre dich.«
»Bist du verrückt? Ich kenne dich doch überhaupt nicht.«
Er verdrängte sie von ihrem Fahrersitz und setzte sich selbst ans Steuer. »Ich heiße Joacino«, sagte er. »Jetzt kennst du mich.«
Ane nannte ihm das Aggie Grey’s als Ziel und ließ es geschehen, dass er sie durch Apia fuhr. Unter normalen Umständen hätte sie diesen Joacino zum Teufel geschickt, wie alle die anderen armen samoanischen Schlucker, die mit ihr anzubandeln versuchten. Aber für den Moment war sie dankbar, dass sie nicht selbst am Steuer sitzen musste. So hatte sie Zeit, sich wieder zu sammeln und Evelyns Worte sorgfältig abzuwägen.
Bestimmt lag ein Missverständnis vor, oder sogar eine absichtliche Verdrehung von Tatsachen, ein verzweifelter Versuch Ilis, den Verkauf des Landes zu verhindern. Vielleicht war Evelyn auch einfach betrunken gewesen und hatte wirres Zeug geredet – immerhin hatte sie gekeucht wie ein Marathonläufer. Was auch immer, dachte Ane, von einer großflächigen Abholzung konnte keine Rede sein. Immerhin hatte sie selbst mit Raymond über das Hotel gesprochen, über Lounges und Pools und Gärten und einen passenden Namen. Sie hatte ihm vorgeschlagen, die kühle Veranda zu belassen und überall Bananenstauden und duftende Kränze aufzuhängen; sie hatte ihm die Adresse von Feuertanzgruppen gegeben, die die Gäste unterhalten sollten, und ihm eine Liste von passenden Bezeichnungen für Cocktails geschrieben, zum Beispiel eine Marlonita, in Erinnerung an Marlon Brando, der in Samoa zu Gast gewesen war. Detailliert hatte sie ihm beschrieben, wie sie sich das Restaurant vorstellte und dass man die Gäste mit Trommeln zum Dinner rufen könnte. Und Raymond hatte zu allem genickt, sich sogar Notizen gemacht. Rodung, so ein Unsinn. Natürlich mussten ein paar Bäume fallen, um Platz für die Anlage zu schaffen, und die Papayaplantage würde, bar jeden Nutzens, nicht zu retten sein.
Die Plantage, fiel Ane ein, die Plantage war an dem Missverständnis schuld! Die Papayas würden gerodet werden, selbstverständlich, mehr nicht. Die hysterische Evelyn hatte das falsch verstanden. So viel Wirbel wegen gar nichts.
Als sie beim Aggie Grey’s vorfuhren, hatte Ane sich wieder beruhigt. Joacino parkte den Jeep in der Garage und trug ihre Einkäufe bis zum Hoteleingang, wo Ane sie ihm abnahm. Sie setzte ihre Sonnenbrille auf, obwohl kein Sonnenstrahl die Erde berührte und sie ohnehin vorhatte, in die Halle zu gehen.
»Danke«, sagte sie. »Ab hier komme ich selbst zurecht.«
Er blickte sie fest an. »Sicher?«
»Ganz sicher«, entgegnete sie. »Mein – Verlobter wartet schon auf mich. Er ist Amerikaner und wohnt vorübergehend hier.«
Joacino biss sich auf die Lippe. »Tja, dann … Vielleicht sehen wir uns ja mal wieder – ich meine, zufällig. Ich habe übrigens eine kleine Perlenzucht, drüben in der Lagune vor Fagali’i.«
Perlenzüchter also, dachte sie. Die schwarzen Südseeperlen waren weltweit heiß begehrt, kein Wunder, sie schimmerten dunkel und mystisch wie eine Mondfinsternis. Aber bei den Züchtern blieb dabei kaum Geld hängen. Allenfalls fünfzig Dollar pro Perle, und so ein Ding brauchte Jahre, um in der Auster heranzureifen – wenn es denn überhaupt reifte. Austern waren launisch. Harte Arbeit für wenig Geld. Mehr als sechs- bis siebentausend im Jahr verdiente Joacino nicht.
»Schön«, kommentierte sie seinen Beruf so aufrichtig wie möglich und kramte einen der übrig gebliebenen Scheine aus ihrer Börse hervor. »Das ist für deine Hilfe, und damit du dir ein Taxi zurücknehmen kannst.«
Mit einer Geste lehnte er ab. »Tofa«, rief er. »Auf Wiedersehen.« Dann ging er fort.
Zuerst war sie noch ein wenig nachdenklich, weil sie nicht wusste, wie sie sich sonst für Joacinos Hilfe hätte bedanken können, aber als sie mit ihren Einkaufstaschen die vornehme Hotelhalle betrat, wichen alle trüben Gedanken von ihr, auch die an Evelyn und die so genannte Rodung.
Als Ane Raymonds Suite betrat, hatte sie das Gefühl, ihn bei einem Telefonat zu stören. Er sprach plötzlich sehr leise in den Hörer und wandte ihr den Rücken zu.
Seine Geschäfte kümmerten Ane nicht. Sie stellte ihre Tüten im Schlafzimmer ab, packte die bunten Blusen und Miniröcke aus und posierte damit vor dem Spiegel. Nach und nach probierte sie die Kleider an, doch nach zehn Minuten war der Reiz des Neuen verflogen. Ray telefonierte immer noch, und so kramte sie die Vanity Fair hervor und bewunderte ein weiteres Mal Naomis Körper, oder besser gesagt, das, was sie damit erreicht hatte. Sie verglich ihre Beine mit denen des Models, danach die Brüste, und sie war der Meinung, in puncto Figur und exotischer Ausstrahlung durchaus mithalten zu können. Anders sah es mit der Nase aus. Diese verfluchten, platten, polynesischen Nasen! Wieso konnte sie nicht einen Briten oder Deutschen zum Vorfahr haben, so wie Ili, dann hätte sie dieses Problem nicht und könnte sich das Geld für eine Schönheitsoperation sparen.
Die Vanity Fair verdarb ihr plötzlich die Laune. Ane legte sie zur Seite, und sie fiel zu Boden. Als sie sie aufheben wollte, entdeckte sie einen Schuh, der ihr bekannt vorkam – Evelyns Schuh. Natürlich musste sie nicht lange überlegen, wie ein Frauenschuh unter Rays Bett kam, und sie war auch nur ein kleines bisschen verärgert.
Sie liebte Ray nicht. Zwischen ihnen war nichts, keine Gefühle wenigstens. Er half ihr, und sie half ihm. Um an die Greencard zu kommen, hätte sie ihn vielleicht sogar geheiratet, aber nicht, um das ganze Leben mit ihm zu verbringen. Du liebe Güte, der Mann war ein Cowboy! Aufregend, erotisch, männlich, stark, ja, aber ihm fehlte jede Eleganz. Wenn er mit einer anderen Frau schlafen wollte – bitte.
Musste es jedoch ausgerechnet Evelyn sein! Eine Trinkerin! Eine Frau, die etwa fünfzehn Jahre älter war als sie!
So langsam verstand Ane, was vorhin am Hafen vorgefallen war. Ray hatte Evelyn rausgeschmissen, und sie rächte sich nun mit absurden Geschichten. Typisch verletzte Frau. Ihr würde so etwas nicht passieren.
Sie beschloss, kein Aufhebens um den Schuh zu machen. Nichts hassten Männer mehr, als wenn man ihnen Vorhaltungen machte.
Als er endlich zu ihr kam, rief sie: »Hallo, Raymond.«
Irgendetwas hatte seine Laune wohl getrübt. »Wie oft soll ich dir noch sagen«, murrte er, »dass du mich Ray nennen sollst. Amerikaner hassen es, mit ihrem vollen Namen angesprochen zu werden. Nur Mütter und Schwule tun das.«
Sie winkte fröhlich mit dem Schuh. »Ich glaube, ich kenne die Laus, die dir über die Leber gelaufen ist. Sie wohnt im gleichen Haus wie ich.«
»Shit«, sagte er. »Auch das noch!«
»Nur keine Sorge. Von mir wirst du keine Predigt zu hören bekommen. War es wenigstens nett?«
Er nahm ihr den Schuh aus der Hand und warf ihn in den Papierkorb. »Überhaupt nicht. Sie hat sich mir förmlich aufgedrängt. Kam gestern her und wollte feilschen wegen des Landes. Na ja, irgendwie ist es dann passiert.«
Das amüsierte Ane. »Dass sie auf dich steht, wundert mich nicht. Aber was hast du dir davon versprochen? Das sieht doch jeder, dass die Frau fertig ist.«
»Ist sie tatsächlich. So eine hysterische Kuh. Die hat sich hier aufgeführt, kann ich dir sagen … Mit der konnte man überhaupt nicht reden.«
»Zum Reden hattest du sie ja wohl auch nicht eingeladen.«
»Lass uns von was anderem sprechen.«
Ane zog ihn an seinem Gürtel auf das Bett, knöpfte sein Hemd auf und massierte ihm die verspannten Schultern. Sie hatte schon mehrmals festgestellt, dass ihn das in eine entspannte Stimmung versetzte.
»Weißt du, was sie mir vorhin erzählt hat«, kicherte sie.
»Wer?«
»Evelyn.«
»Wollten wir das Thema nicht fallen lassen?«
Ane knetete seine Schultern wie einen Teig. »Sie hatte vorhin einen hysterischen Anfall. Hat behauptet, du würdest gar kein Hotel bauen wollen, sondern Wälder roden. Sie war völlig außer Atem und …«
Sie merkte, wie sich seine Muskeln anspannten. Er drehte sich halb zu ihr um und sagte: »Da gibt es etwas, das ich dir erklären muss.«
Ane forschte in Raymonds Gesicht, und innerhalb einer Sekunde erkannte sie die Wahrheit. Vor Schreck brachte sie keinen Ton heraus.
»Nun guck nicht wie ein Huhn, wenn’s donnert«, schimpfte er mit dem Ärger des Ertappten. »Ja, ich will den Wald abholzen, na und? Bäume wachsen nach, das ist das einzig Gute an ihnen. Und sie bringen Geld, kein Hotel bringt so viel Geld. Hast du ernsthaft geglaubt, ich würde deiner Sippe mehrere Millionen zahlen für ein Stück Land, auf dem sich nur Tarzan wohlfühlen würde? Lianen! Mücken! Flughunde! Wer braucht die denn! Bäume sind ein Geschäft. Alles ist heute ein Geschäft. Fische sind ein Geschäft, Schweine, Tomaten, menschliche Organe, Musik, Fernsehen, Haarwuchs, Fruchtbarkeit, neuerdings sogar Freiheit. Und Schönheit auch, oder warum willst du wohl sonst unbedingt Model werden! Bei mir sind es Bäume. Ich mache, was ich will. So einfach ist das.«
So einfach war das also! Ane hörte ihm staunend zu und wusste nicht, was sie davon halten sollte. Er hatte sie angelogen, von Anfang an, weil er ahnte, dass es schwieriger sein würde, sie von einer Abholzung zu überzeugen als von einem Hotel. Nach nur zehn Minuten in einer Bar und einer gemeinsam verbrachten Nacht hatte er sie besser gekannt als sie sich selbst. Natürlich hatte sie ihm erzählt, dass sie wegwollte aus Samoa, dass sie das alles nicht mehr ertragen könne, die Genügsamkeit, die Kleinheit, die Provinzialität, und, ja, auch die Bäume. Aber es war eine Sache, einer Art des Lebens überdrüssig zu sein, und eine andere, etwas zu zerstören. Diese Erkenntnis hatte Ane bis eben fast vergessen, während er, der Geschäftsmann, schon damals irgendwie gespürt hatte, dass sie mehr Skrupel hatte, als ihr lieb war. Und er spürte es jetzt wieder, denn warum sonst setzte er sich zu ihr, küsste sie auf den Hals und redete – jetzt wieder mit seiner dunklen, erotischen Stimme – auf sie ein.
»Sieh mal, ich verstehe ja, dass dir nicht ganz wohl dabei ist. Mir war auch nicht ganz wohl zumute, als ich den Wald meiner Kinderjahre habe abholzen müssen.«
»Das hast du fertig gebracht?«
»Und ob! Solche Gefühle sind bloß sentimentaler Quatsch, dafür kann man sich nichts kaufen. Heute steht dort ein riesiges Zwischenlager für Baumleichen – so nennen wir in der Branche die gefällten Stämme –, und die Firma, für die ich damals gearbeitet habe, verdient sich mit diesem Lager jedes Jahr eine goldene Nase. Was würde man wohl mit einem unberührten, intakten Wald anfangen können, hm? Gar nichts! Siehst du, ein Wald ist eben nur ein Wald, erst Menschen wie ich lassen daraus Arbeitsplätze entstehen und Sozialbeiträge und Konsum und so weiter. Und jetzt sag mal selbst, bin ich nicht ein Zauberer?«
Sie lächelte schwach. »Aber Ray, du verstehst das nicht«, wandte sie mit der Stimme eines besorgten Kindes ein. »Die Samoaner nutzen den Wald.«
»Wie nutzen sie ihn? Sag mir das mal? Sie jagen dort Tauben und Schweine, mehr nicht. Und glotzen auf Spaziergängen die blöden Bäume an. Von dem Geld ihrer Arbeit können sie sich doppelt so viele Tauben kaufen, und wenn sie erst einmal beschäftigt sind, haben sie ohnehin keine Zeit mehr zum Glotzen.«
»Die Kinder spielen im Wald«, wandte sie verzagt ein.
»Dann wird deine Regierung ihnen Spielplätze bauen, das machen wir in Amerika auch. Samoa verdient mehrere Millionen an mir, da werden sie euch ja wohl ein bisschen was spendieren. Und wenn nicht, trete ich ihnen in den Hintern.«
Wieder lächelte sie schwach, dann wiegte sie skeptisch den Kopf. »Ach, ich weiß nicht, Ray.«
Sie wusste es wirklich nicht. Sie dachte daran, dass sich bald schon riesige Ungetüme aus Stahl Meile auf Meile durch den Wald fräsen und nichts als braune, von Spänen übersäte Ödnis hinterlassen würden. Konnte sie an so einer ungeheuerlichen Sache mitwirken? Sie dachte jedoch auch daran, dass im anderen Fall, falls der Verkauf nicht zustande käme, ihre Provision ausbliebe und sie so weiterleben müsste wie bisher: mit Bauern links und rechts, mit brünstigen Touristen, mit einer breiten Nase.
Noch während sie grübelte, öffnete Raymond eine Schublade des Schreibtisches, zog ein Blatt Papier heraus und kam damit zum Bett zurück.
»Eigentlich wollte ich es dir erst heute Abend zum Dinner geben«, sagte er, »aber ich meine, du solltest es jetzt schon bekommen.«
Sie überflog den Text, und mit jeder Zeile richtete sie sich etwas mehr im Bett auf, und ihr Mund öffnete sich.
»Ich – verstehe das nicht. Ist das etwa …?«
»Ein Modelvertrag.«
»Nein!«
»Doch!« Er lachte.
»Aber wie – woher – die kennen mich doch überhaupt nicht.«
»Du hast mir neulich doch ein paar Bilder von dir gezeigt. Die habe ich denen zugeschickt, dann mit dem Direktor telefoniert. Die Agentur sitzt in Los Angeles und hat einen prima Ruf, habe ich mir sagen lassen. Flash Fury heißt sie.«
Ane wiederholte den Namen, als handele es sich dabei um eine Sagengestalt: »Flash Fury. Mein Gott, das klingt super.«
»Ist super. Die hatten schon die Crawford unter Vertrag und die Evangelista. Da hast du eine echte Chance, Darling. Steht da alles drin. Natürlich müssen die erst noch Probeaufnahmen mit dir machen.«
»Ich fliege nach L. A.?«, rief sie.
»Na, was denkst du denn.«
»Mit Hotel?«
»Mit Hotel. Vier Tage. Vier Nächte. Blitzlicht, Setcard, Maske, Garderobe, Besprechung mit dem Agenten, gemeinsames Dinner. Alles, was dazugehört.«
»Oh, mein Gott.« Jetzt erst begriff sie, was das bedeutete. Das war der Durchbruch auf dem Weg nach oben, das war das Leben, das sie sich immer vorgestellt hatte. Diese Chance würde sie sich nicht entgehen lassen, Probeaufnahme hin oder her. Sie würde alles geben, jeden Ratschlag beherzigen, immer konzentriert sein. Kein Alkohol, keine langen Nächte.
Diesmal hatte Raymond Wort gehalten, dort stand es schwarz auf weiß. Keine Tricks, kein Hinhalten. Die Unterschrift des Agenten war bereits auf dem Vertrag, Ane musste nur noch ihren Namen danebensetzen, und sie wartete damit keine Sekunde länger.
»Jetzt wäre ein wenig Dankbarkeit angebracht«, sagte er. »Du weißt schon, das Land, der Wald …«
Ane fasste sich an die Stirn. Was für ein Tag, an dem so schöne und so schlimme Neuigkeiten miteinander im Streit lagen. Ihr war klar, dass Raymond, wenn er einmal mit dem Direktor von Flash Fury gesprochen hatte, es auch ein zweites Mal tun konnte, und dann wäre alles dahin, der Traum geplatzt. Ein Teil von ihr würde es nicht ertragen können, nach der Abholzung in die Augen der Dorfbewohner auf Savaii zu blicken, doch der andere Teil rief: Das musst du auch nicht, denn du wirst in L. A. leben und eine Menge Geld verdienen.
»Zunächst einmal«, fuhr er fort, ohne ihre Antwort abzuwarten, »wie wird deine Großmutter auf die Neuigkeit reagieren, die Evelyn ihr zweifellos berichten wird?«
Ane schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Das mit dem Hotel war kein Problem, sie wollte Ili eins auswischen und war bereit, den Papaya-Palast und das Land dafür herzugeben, aber eine Rodung … Ehrlich, ich weiß es nicht.«
»Dann möchte ich, dass du auf der Stelle zu ihr gehst und auf sie einredest. Mache ihr den Verkauf schmackhaft. Sage ihr, dass die Bäume wieder nachwachsen, dass Arbeitsplätze entstehen, dass die Samoaner ihr dankbar sein werden, dass der König ihr einen Orden geben wird – irgendetwas. Gegen diese hysterische deutsche Schnapsdrossel wirst du ja wohl ankommen. Es hängt auch für dich eine Menge dran, das muss ich dir nicht klar machen.«
»Ja, Ray.«
»Also dann: Was sitzt du hier noch rum, willst du ein Ei legen? Abmarsch!« Er gab ihr einen Klaps auf den Hintern.
Sie packte ihre Sachen und verließ die Suite. Es war verrückt, aber sie zwang sich auf dem ganzen Weg zum Hafen, nur daran zu denken, dass sie von jetzt an langsam fahren musste. Ein Unfall, eine kleine Wunde im Gesicht könnte ihr ganzes Leben zerstören.
Nachdem Ane sein Zimmer verlassen hatte, stellte Ray sich ans Fenster und blickte ostwärts über die Dächer hinweg auf die bewaldeten Ebenen und Hügel, die Apia säumten. Wenn er einen Tropenbaum sah, musste er sofort an Gartenmöbel denken. An die geschwungenen Tische, Stühle und Bänke, die die Terrassen von Amerikanern und Europäern zierten. An die Bilanz seiner Firma Kettner’s Wood. Und an den Kampf, den er seit fast zehn Jahren führte.
Damals wurde er seines Jobs als Chefeinkäufer, zu dem er avanciert war, überdrüssig. Den ganzen Tag wälzte er Papiere, führte Telefonate und nahm an Sitzungen teil. Zu sehr vermisste er den direkten Kontakt zu den Waldbesitzern und Sägemühlen, vermisste den Geruch verschimmelnder Sägespäne, das krachende, stöhnende Geräusch stürzender Bäume und den Anblick von Flächen, die mit Baumstümpfen wie Pockennarben übersät waren. Jeden Sonntag fuhr er mit einer seiner Freundinnen raus zu gerodeten Waldflächen und betrachtete sie wie Gemälde. Die Frauen mochten diese Ausflüge nicht, fanden die Landschaft reizlos, bis Ray sie dort eine nach der anderen nahm. Doch das reichte ihm nicht. Er hatte einfach nicht mehr das Gefühl, Teil dieses Werkes zu sein. Und so kündigte er eines Tages seinen Job und gründete einen eigenen Holzgroßhandel.
Der amerikanische Holzmarkt war größtenteils vergeben, aufgeteilt in Interessengebiete der Konzerne, da war kein Durchkommen. Deshalb konzentrierte Ray sich von Anfang an auf exotische Länder, weil er glaubte, sich dort ein saftiges Stück von der Torte sichern zu können. Teakholz war im Kommen. Man stellte Fensterrahmen aus Teak her, Parkette, Täfelungen für Konferenzräume, Esstische, Lampensockel, Küchenverkleidungen und Schnitzfiguren, aber vor allem Gartenmöbel. Ray verstand, was die Leute an diesem Holz fanden, dem Holz mehrerer hundert Jahre alter Bäume. Als seine Arbeiter den ersten Urwaldriesen fällten, in Guatemala, war er vor Ort und legte selbst Hand mit an, und als dann der mächtige Baum würdevoll wie in Zeitlupe zu Boden fiel, kamen ihm fast die Tränen vor Glück. Einen solchen Baum niederzuzwingen hatte etwas Erhebendes, so als ginge die Kraft des besiegten Riesen auf einen selbst über. Jedesmal, wenn ein solcher Baum fiel, hatte Ray das Gefühl, dass auch Chuck, sein Vater, fiel.
Doch er erlebte Rückschläge. Die großen etablierten Konkurrenten waren immer vor ihm dort, wo ein lukratives Holzgeschäft abzuschließen war, im Amazonasbecken, auf Madagaskar, in den Tropenwäldern Indonesiens und Malaysias. Und selbst wenn er einmal schneller war, machten dennoch die anderen das Geschäft, denn sie konnten die zuständigen Regierungsbeamten mit weitaus höheren Summen bestechen, als seine Geldmittel das zuließen. Die Wälder der Südseeinseln, für die er sich jetzt interessierte, waren zwar global gesehen nur kleine Fische – weshalb die Großen sie bisher außer Acht ließen –, doch zugleich seine erste reelle Chance, Erfolg in diesem harten Geschäft zu haben.
Auf Ane allein konnte er sich nicht mehr verlassen. Sie hatte kein Format, keine Intelligenz, keine wirkliche Kraft. Fraß ihm seit Wochen aus der Hand. Spazierte hyperventilierend vor Aufregung mit einem Modelvertrag herum, den sie ebenso gut in den Müllschlucker werfen könnte. Er hatte einkalkuliert, dass Ane ihm eventuell Probleme machen würde, und sich darauf vorbereitet. Es gab keine Agentur namens Flash Fury, oder besser, er hatte sie vor zwei Wochen gegründet, mit einem Freund als Geschäftsführer, dem er dafür ein Steak im besten Steakhaus Wyomings spendieren würde. Dieser Vertrag verpflichtete ihn zu nichts. Sowohl Zeitpunkt der Probeaufnahmen als auch der Ort waren nicht festgelegt, und in ein paar Monaten würde die Agentur bereits im Register der aufgelösten Firmen stehen.
Er grinste. Flash Fury war wirklich ein blöder Name.
Ray suchte im Telefonspeicher seines Handys nach einer Nummer und wählte sie. Für den Fall, dass Anes Großmutter sich plötzlich gegen den Verkauf entscheiden würde, musste er verschiedene Vorsichtsmaßnahmen treffen. Die erste hatte er vorhin klargemacht, als Ane gekommen war. Da hatte er gerade mit einem Typen verhandelt, der gewisse Aufträge übernahm, die nicht im Branchenbuch standen.
Jetzt kam die nächste Vorsichtsmaßnahme dran.
Die süßliche Oboenstimme der Telefonistin in einem Glaspalast mitten in Philadelphia, USA, war eine Wohltat.
»Guten Tag, hier United Trade and Commerce Bank, wen möchten Sie sprechen?«
»Es gibt kein Hotel, Ili, nicht mal als Plan, und es wird auch keines geben. Ray Kettner hat nur ein Ziel: Er will Ihren Wald kahl schlagen. So viel, wie er in die Finger kriegt.«
Ili schlug erschreckt die Hände vor den Mund, ihre Augen glänzten. »Woher wissen Sie das?«
Während der gesamten Überfahrt hatte Evelyn über die Stunden seit gestern Mittag nachgedacht, als sie im Pundt gewesen war und beschlossen hatte, zu Ray ins Aggie Grey’s zu fahren. Was war es gewesen, das sie zu ihm getrieben hatte: die Kraft, die von ihm ausging; die Beachtung, die er ihr entgegengebracht hatte; sein aufmunterndes, ehrliches Lächeln? Ehrlich! Sie war eine Närrin gewesen, eine hungrige Närrin. Und er hatte das bereits bei ihrer ersten Begegnung gemerkt. Jetzt, nachdem sie ihm nahe gewesen war und mehr als nur eine Facette seiner Persönlichkeit kannte, spürte sie, was für ein armseliger Charakter er war. Ray suchte und nahm sich Frauen, die schwach waren, die sich nach etwas sehnten, nach einem starken Willen oder nach Liebe, nach Träumen oder einfach einem warmen Körper. Ray versprach jedem alles. Man musste sich nur ansehen, welche Frauen er sich hier ausgesucht hatte: eine geld- und geltungssüchtige Traumtänzerin und eine überspannte Neurasthenikerin auf der Flucht. Dass beide ihm auch in geschäftlicher Hinsicht dienen konnten, musste ihn köstlich amüsiert haben.
»Ich weiß es von Ray Kettner selbst«, antwortete sie, ohne auf die näheren Umstände einzugehen.
»Warum?«, wollte Ili wissen. »Was hat er davon?«
»Geld natürlich. Das Holz verkauft er teuer weiter, daraus werden dann allerlei Möbel gefertigt. Die Nachfrage ist groß.«
»Ja, aber – wieso?«
»Aus dem gleichen Grund, aus dem man Papayas kauft: Sie sind exotisch, und man braucht nur in den Laden zu gehen, um sie zu kriegen.«
Evelyn biss sich auf die Lippe. Das Peinliche war, dass sie nicht mal wusste, ob in ihrem Haus in Frankfurt nicht irgendetwas aus Tropenholz gefertigt war, und sei es nur ein blödes Schnitzfigürchen, ein Staubfänger, den sie womöglich im Vorbeigehen erstanden hatte. Akazienholz, Mahagoni, Mango, Teak – das waren für sie stets nur verführerische Begriffe auf Reklameschildern in Möbelläden gewesen, welche Geschichte aber dahinter stand, damit hatte sie sich nie beschäftigt – bis heute.
Eine Minute schwiegen sie. Evelyn fragte sich, was in Ili jetzt vorging, und sie gestand sich ein, das nicht mal annähernd nachvollziehen zu können. Nicht nur, dass man ihr den Mittelpunkt eines einundneunzigjährigen Lebens wegnehmen wollte – man wollte ihn auch bis zur Unkenntlichkeit zerstören. Man vernichtete alles. Man vernichtete eine ganze Insel.
»Moana weiß ganz sicher nichts davon«, sagte Ili. »Sie hatte immer schon ein anderes Verhältnis zu dem Land als ich, aber sie würde nicht zulassen, dass es verwüstet wird. Ich spreche mit ihr, und dann beenden wir diesen Spuk.«
»Sie sollten die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass Moana Ihnen nicht glauben wird«, wandte Evelyn ein. »Nach allem, was ich zwischen Ihnen beiden beobachtet habe, wird sie Ihnen eine Lüge unterstellen, ein Manöver, mit dem Sie in letzter Sekunde den Verkauf verhindern wollen.«
»Daran habe ich gar nicht gedacht. Seltsam, oder? Für einen Moment hatte ich wirklich vergessen, wie es zwischen mir und Moana steht. Ich habe sie auch als Opfer eines hinterhältigen Tricks, als Betrogene gesehen. Doch Sie haben leider Recht, Evelyn. Moana wird mir kein Wort glauben – wenn sie überhaupt zuhört. Tja, Ane kann ich nicht darum bitten. Sie steckt bis zum Hals mit dem Amerikaner unter einer Decke – in mehr als einer Hinsicht, wie ich vermute.«
Bei dem Gedanken, dass auch sie mit ihm für eine Nacht unter einer Decke gesteckt hatte und beinahe ein Werkzeug in Ray Kettners Händen geworden wäre, wurde Evelyn wütend.
»Ich habe Ane in Apia getroffen und sie mit den Fakten konfrontiert. Sie hat sehr überrascht getan, als ich ihr die Neuigkeiten berichtete, aber, um ehrlich zu sein, ich glaube ihr kein Wort.«
Ili nickte. »Sie enttäuscht mich, und wenn ich nicht meine Gründe hätte, sie nicht ganz aufzugeben, dann …« Ili seufzte. »Wen könnte ich noch bitten, mit Moana zu sprechen?«
»Wie wäre es mit dem alten Ben?«, schlug Evelyn vor.
»Im Grunde keine schlechte Idee. Er ist außer Ane der Einzige, mit dem Moana noch näheren Kontakt hat. Doch er müsste erst einmal selbst überzeugt werden, und abgesehen davon wird Moana vermuten, er habe nur irgendwelche Gerüchte aufgeschnappt. Er ist ein lieber Mensch, aber sie wird ihn nicht ernst nehmen, dafür ist er einfach zu schwatzhaft.«
Ein weiterer Moment verstrich, dann sagte Evelyn: »Wie wäre es, wenn ich mit ihr spreche?«
Sie, die sich gestern noch äußerst widerwillig in die Familienaffären der Valaisis hatte hineinziehen lassen, hielt dies alles jetzt für eine Herausforderung. Es ging ihr nicht nur darum, Ray Kettner etwas heimzuzahlen. Mehr und mehr identifizierte sie sich mit Ili und war entschlossen, ihr zu helfen, denn allein konnte Ili sich gegen einen windigen Geschäftsmann und den Verrat in der eigenen Familie nicht behaupten. Evelyn dagegen standen Mittel und Kenntnisse zur Verfügung, die Ili nicht hatte, nicht haben konnte. Ray durfte nicht gewinnen, das war ihre feste Überzeugung. Sie war mittendrin in einem Kampf – und dort fühlte sie sich so wohl wie lange nicht.
»Sind Sie sicher, dass Sie das tun wollen?«, fragte Ili mit einem besorgten Unterton. »Das letzte Mal, als Sie sich mit den Angelegenheiten von uns Valaisis beschäftigt haben …«
Evelyn unterbrach sie: »Sagen Sie selbst: Wenn jemand Moana überzeugen kann, dann doch wohl am ehesten eine Außenstehende.«
Evelyn näherte sich behutsam der hageren Gestalt. Moana saß auf einer Matte der Veranda, an die Hauswand gelehnt, und spielte mit einem verschlossenen Glas, in dem sich Dutzende roter Käfer tummelten. Diesem auffälligen Insekt begegnete man ständig auf den Inseln, und Evelyn erinnerte sich, wie Ili in den letzten Tagen mehrere Exemplare verjagt oder mit dem Finger weggeschnippt hatte. Moana schien ein innigeres Verhältnis zu den Tierchen zu haben, jedenfalls sprach sie auf Samoanisch mit ihnen, kicherte zwischendurch und lächelte wie bei einer gerne gehörten Antwort.
Dieser Teil der Veranda war umrahmt von hohen Hecken, die wie die Mauern von Jericho aufragten und keine Sicht auf den Garten oder die Bucht zuließen, sondern immerwährendes Grün zeigten; ein Bollwerk, das die Welt mitsamt dem Wind und den Wellen und Wolken aussperrte, und zugleich eine sichtbare Manifestation von Moanas Abscheu gegen ihre Verwandte und Nachbarin war, und gegen alles, was diese liebte.
Als Evelyn darum bat, sich setzen zu dürfen, sah Moana aus, als wolle sie ihr im nächsten Moment an die Gurgel springen. Aber wenigstens jagte sie sie nicht fort.
»Nehmen Sie einen Käfer«, befahl Moana und reichte ihr das Glas.
»Nehmen?«, fragte Evelyn. »Soll ich etwa einen essen?«
»Wenn Sie das tun, bringe ich Sie um!« Sie sah nicht aus, als würde sie scherzen. »Freilassen sollen Sie ihn. Aber nur einen. Und vorsichtig. Wenn er zu Schaden kommt, dann …«
Evelyn gab sich die größte Mühe, diesem seltsamen Brauch Rechnung zu tragen, und nach einigen vergeblichen Versuchen gelang es ihr schließlich, einen der roten Käfer auf ihre Fingerspitze zu lotsen und fliegen zu lassen.
Moana murmelte etwas, das sich wie ein Gebet anhörte, und sagte dann: »Gut. Geben Sie mir das Glas zurück. Und jetzt dürfen Sie sich setzen.«
Evelyn achtete genau darauf, der Gastgeberin nicht die Füße entgegenzustrecken, was in Samoa als Beleidigung aufgefasst wurde.
»Hat Ili Sie geschickt? Sie ist zu feige, war immer schon feige und hinterhältig. Hat gelogen und intrigiert. Hat andere gegen mich aufgehetzt, schon damals in der Schule. Hat mir immer weggenommen, was sie nicht haben konnte. Neidisch ist sie gewesen. Ich hatte einen Mann und was für einen schönen Mann! Den hat sie vertrieben. Hinter meinem Rücken natürlich. Feige ist sie. Feige. Kommt nicht selbst, schickt Sie vor.«
»Da Sie nicht mit ihr sprechen, hätte es wenig Sinn, wenn sie kommt, oder?«
Auf diesen Einwand ging Moana nicht ein. »Sagen Sie ihr, ich mag Hotels. Ja, ich finde Hotels gut. Dass dieses Haus zum Hotel wird, finde ich gut. Hoffentlich gibt es einen Himmel und eine Hölle, dann wird Tristan zusehen und sich schwarz ärgern.«
»Ein Hotel wird es nicht geben.«
»Oh, doch!«
Ohne Ili auch nur mit einem Wort zu erwähnen, erzählte Evelyn von den Plänen Ray Kettners. Die Greisin erwiderte den Blickkontakt und hörte aufmerksam zu. Nachdem Evelyn fertig war, mussten Moana die Folgen eines Verkaufs eindrucksvoll klar geworden sein, anstatt jedoch Fragen zu stellen oder einen Kommentar abzugeben, blickte sie Evelyn beinahe feindselig an.
Sie hat die Augen einer Klapperschlange, dachte Evelyn, und im nächsten Moment sprang Moana mit verblüffender Energie von ihrer Matte auf.
»Diese elenden Ausländer«, fluchte sie mit rauer Stimme. »Haben früher unser Land einfach mit Soldaten besetzt, heute plündern sie uns aus. Ich und meine Eltern, wir haben sie immer schon gehasst, diese Ausländer. Damals waren es die Amerikaner und die Briten, dann die Deutschen« – dabei sah sie Evelyn wieder feindselig an –, »dann die Neuseeländer, und heute sind es alle zusammen, die uns kaputtmachen. Ohnmächtig müssen wir zusehen, wie wir gedemütigt werden.«
Evelyn erhob sich ebenfalls. »Nicht in diesem Fall«, korrigierte sie. »Wenn Sie nicht verkaufen, geht Kettner leer aus.«
»Verdient hätte er es. Und Ane auch. Geht in Bars. Raucht und trinkt. Lässt sich für ein Glas Gin betatschen und ins Bett ziehen. Gibt bei mir das brave Mädchen, aber ich durchschaue sie. Sie ist ein Ausländerflittchen, durch und durch verdorben. Davon hatten wir in unserer Familie immer welche.«
Evelyn verstand die Anspielung auf Tuila.
»Ili hat Ihnen von ihr erzählt, nicht wahr?«, sagte Moana. »Von Tuila? Ane machte so eine Andeutung. Sie sehen mir ganz wie der Typ von Frau aus, der von solchen rührseligen Geschichten beeindruckt wird. Ili hat ein Gespür dafür, die Menschen trickreich auf ihre Seite zu ziehen. Das hat sie immer schon verstanden. Mich stellt sie als Ungeheuer hin, weil ich meine Gedanken auf der Zunge trage, aber sie – sie ist tausendmal schlimmer als ich. Habe Ihnen ja schon erzählt, dass sie meinen Sohn ermordet hat. Man traut es ihr nicht zu, doch so war es. Sie leugnet es ja noch nicht einmal.«
»Sie hat es zugegeben?«, fragte Evelyn mit einem Stirnrunzeln.
Moana verzog den Mund zu einem Grinsen. »Nicht direkt, dafür ist sie zu klug, denn man könnte sie sonst ja verhaften und verurteilen. Aber ich weiß, was ich erlebt und gesehen habe. Sie hat ihn gehasst, Atonio, meinen Sohn. Nicht von Anfang an, zugegeben. Als er aber anfing, sich in die Geschäfte der Plantage einzumischen, wurde er zu ihrem Gegner. Ständig stritten sie miteinander. Es war Atonios Recht, die Plantage gemeinsam mit Ili zu bewirtschaften, doch das wollte sie nicht einsehen. Jede Entscheidung, die er traf, unterwanderte sie. Er konnte einfach nicht vernünftig mit ihr arbeiten. Sie schrien sich immer lauter an.«
Moana unterbrach ihre Erzählung kurz, um sich langsam wie eine welkende Blume auf die Matte niederzulassen. Sie wirkte verletzlich.
»Und dann kam der Tod. An einem windigen Sonntag, an dem man sein eigenes Wort kaum verstand, ging Atonio in die Papayas und kam nicht wieder zurück. Man hatte ihn mit einem stumpfen Gegenstand bewusstlos geschlagen und danach die Plantage angezündet. Steht so im Polizeibericht. Atonio verbrannte. Und ich, ich hatte Ili kurz zuvor beobachtet, wie sie ihm in die Plantage gefolgt war – mit einem schweren Werkzeug in der Hand.«
Erneut machte Moana eine Pause.
»Man fand nur seine … völlig unkenntlich. Habe gesehen, was von ihm geblieben war. Erzählte der Polizei, dass ich Ili beobachtet hatte, doch man fand nicht genügend Beweise für ihre Schuld. Es wurde keine Anklage erhoben. Verjagt habe ich sie vom Friedhof und blieb die ganze Nacht an Atonios Grab. Waren die härtesten Stunden meines Lebens.«
Evelyn blickte Moana traurig an und berührte sie sacht an der Schulter. »Es tut mir Leid um Ihren Sohn. Ich kann Ihnen nachfühlen, denn auch ich habe ….«
Moana erwachte wie aus einer Trance, und ihre Stimme gewann wieder die gewohnte Bitterkeit zurück. »Sie verstehen gar nichts. Dieses Weib hat mir mein ganzes Leben lang nur Leid zugefügt – hat sie Ihnen davon erzählt? Nein, natürlich nicht. Alles, was mein Leben froh gemacht hätte, hat sie mir genommen. Wie ein Raubtier hat sie in meinem Leben gewütet, kein Mitleid gekannt. Nun soll ich Mitleid mit ihr haben? Soll sie doch alles verlieren, woran sie hängt. Soll sie endlich den Schmerz fühlen, den ich schon mein ganzes Leben lang ertrage. Soll sie leiden!«
Moana spie das Wort geradezu aus, die Spannkraft der Klapperschlange kehrte wieder zurück.
»Als Ane diesen Amerikaner anschleppte, begriff ich, dass das die Gelegenheit war, Ilis Herz in Stücke zu schneiden und ihr endlich alles heimzuzahlen, was sie mir angetan hat. Nichts von dem, was Sie mir erzählt haben, wird daran etwas ändern.«
Evelyn atmete die feuchtwarme tropische Luft tief ein. »Aber das wunderbare Land Ihrer Eltern, die Bäume …«
Moanas Kopf zitterte vor Erbitterung. »Es geht hier nicht um Bäume, begreifen Sie das nicht?«
»Worum geht es denn sonst? Ich möchte es verstehen.« »Ili und ich: Eine von uns wird die andere erledigen. Darum geht es. Ili zu begraben ist das einzige Ziel, das ich noch habe, und wenn dafür das Land dahingeht und Ane und irgendein Ausländer davon einen Gewinn haben, so muss ich das eben hinnehmen. Ich werde es hinnehmen.«
Sie schoss wieder hoch, schob Evelyn zur Seite, verließ den Schutz der Hecken und schrie in Richtung von Ilis Veranda: »Dieses Haus soll zu Schutt zerfallen, und du sollst daran zugrunde gehen! Verrecken, hörst du? Ver-re-cken!«
Und dann presste sie es wieder aus sich heraus, dieses beängstigende, raue, rachsüchtige Lachen.
Zwei uniformierte Männer trugen Ili aus dem Haus, als es schon Nacht war. Die Vögel in den Baumkronen schreckten auf und flatterten in alle Richtungen davon. Dann kamen Maschinen, wie Ili sie noch nie gesehen hatte, und droschen wie mächtige Golems auf den Papaya-Palast ein. Sie versuchte zwar, das Haus zu retten, doch die Polizisten ließen sie nicht los, und als sie sich umdrehen wollte, um wenigstens nicht dabei zuzusehen, hinderten die Männer sie daran. Die Veranda ging als Erstes zu Bruch. Hinter Ili riss ein Schaufelbagger die Erde des Gartens auf und fällte eine krumme Kokospalme, und hinter einer Hecke kam Moana hervor und lachte.
Ili erwachte jäh, als eine frische Bö die Vorhänge bauschte und über die leeren Fußböden wehte. Der Wind war durch die Papayas gefegt und roch nach Regen und jungem Laub, dem samoanischen Duft des Novembers. So plötzlich, wie die Brise gekommen war, verschwand sie auch wieder und hinterließ eine beklommene Stille.
Ili sah von ihrem Sessel aus in die blaue Nacht, die eingepasst war in das Viereck des Fensters, und jetzt erst begriff sie, dass sie noch in ihrem Haus war und nur geträumt hatte. Sie erinnerte sich, wie sie sich im matten, schwefligen Licht der untergehenden Sonne auf den Sessel gesetzt hatte, müde und den Kopf voller Ängste, nach dem, was am Nachmittag geschehen war. Evelyn hatte vergeblich versucht, sie zu beruhigen, und ihr eine Tasse Tee gemacht. Und dann musste sie irgendwann eingeschlafen sein – die Teetasse lag noch auf ihrem Schoß.
Der vergangene Tag hat mich wohl mehr mitgenommen, als ich mir das eingestehen wollte, dachte sie, als sie nur schwer aus dem Sessel hochkam. Moana war anscheinend robuster, sie konnte schreien und fluchen und markerschütternd lachen und fühlte sich dabei mit ihren zweiundneunzig Jahren offenbar so wohl wie ein Fisch im Wasser. Vielleicht motivierten Rache und Feindschaft besser, vielleicht machte innere Kälte die Menschen widerstandsfähiger gegen die Folgen des Alters, zumindest eine gewisse Zeit lang. Denn Moana war kalt, kalt bis ins Herz, anders konnte Ili sich diese irrsinnige Zerstörungswut gegen alles, was ihnen und ihren Eltern heilig gewesen war, nicht erklären.
Sie ging hinaus in den Garten, wo schwache Lichtflecken das Blattwerk der Palmen sprenkelten. Der seidenfeine, laue Regen war wenig erfrischend, und die nächtliche Luft war auch zu dieser Stunde noch wie ein warmes Bad, in das unaufhörlich noch wärmeres Wasser nachtröpfelte. Ili streifte herum. Sie hätte ohnehin nicht schlafen können, dafür ging ihr zu viel durch den Kopf.
Krisen hatte es in ihrem Leben immer gegeben und was für Krisen! Als die Behörden ihrer Mutter und ihr, da war sie noch ein Mädchen, die Hälfte des Landes abgenommen hatten, zum Beispiel, oder als im Pazifikraum der Zweite Weltkrieg ausbrach und Ili, verheiratet mit einem Japaner, das Misstrauen ihrer Landsleute entgegenschlug. Als Senji auf so grausame Weise starb und sie zum ersten Mal in ihrem Leben ganz allein war. Als Moanas Sohn ihr das Leben fast zur Hölle machte. Als die Preise für Tropenfrüchte fielen und die Existenz der Plantage bedrohten. Nein, sie konnte die Krisen, die sie wegen des Landes und für das Land durchgestanden hatte, gar nicht zählen. Manchmal war sie wie ein Krieger gegen die Gefahren angegangen, manchmal hatte sie mit instinktiver Vorsicht und Passivität einfach alles ausgestanden, bis es vorüber war. Aber immer war es irgendwie weitergegangen wie ein Wasserrad, das sich unter dem Gewicht eines fließenden Baches dreht. Von ihrer Mutter hatte sie die Verantwortung und die Liebe für den Papaya-Palast geerbt, und sie war es Tuila und sich selbst schuldig, dass sie das Erbe bis zu ihrem eigenen Tod erhielt. Für das, was danach passierte, konnte sie nicht garantieren, kein Mensch konnte das. Doch nun drohte das Erbe noch vor ihrem Tod zerstört zu werden von Maschinen und elektrischen Sägen, und sie musste eingestehen, dass sie kein Mittel mehr wusste, dies zu verhindern.
Hör auf damit, verbot sie sich. Du wirst einen Ausweg finden. Du hast immer einen Ausweg gefunden.
Sie wandte sich um und ging hinunter zur Palauli Bay. Der schmale Pfad, der zum Strand führte, war zu beiden Seiten von Palmen flankiert, deren Blätter sich hoch oben zu einer tropischen Kathedrale der Natur vereinten. Langsam, als schreite sie zum Altar, ging sie den Weg entlang und betrachtete lächelnd die Schatten und Silhouetten der Nacht. Der Sand war warm und feucht, wie meistens im November, und Ili blieb an der Kante zum Wasser stehen und genoss das vertraute Gefühl unter ihren Füßen. Draußen auf dem Meer lag unendliche Dunkelheit, eingerahmt von den weißen Schaumkronen der Wellen und den phantomhaften Felsen am Strand. Sonst war nichts zu sehen. Für manche Menschen war ein Meer bei Nacht unheimlich – nicht für Ili. Bis zu den Knien stand sie im Wasser, schloss die Augen und atmete tief ein, als könne sie den Zauber von zehntausend Nächten einatmen.
Als sie nach einer Weile auf den Strand zurückkehren wollte, sah sie im Schatten der Felsen die Konturen eines Menschen.
»Wie lange sitzen Sie dort schon?«, fragte sie.
»Ein paar Stunden«, antwortete Evelyn. Sie deutete auf ihre aufgekrempelten Hosen. »Ich stand auch schon im Wasser und habe mir die Finsternis angesehen, auf Geräusche geachtet …«
Es entstand eine kleine Pause, in der sich die Frauen einfach nur ansahen.
Ili musste zugeben, Evelyn bisher zu wenig beachtet zu haben. Natürlich, sie hatte der jüngeren Frau viel aus der Vergangenheit erzählt, und sie schätzte es, dass ihr jemand zuhörte, noch dazu eine Deutsche, aber wirklich beschäftigt hatte sie sich mit ihrer Zuhörerin nicht. Was in den letzten Tagen an Schwierigkeiten, ja, Katastrophen, auf Ili eingestürzt war, hatte sie vollständig in Anspruch genommen. Es war, als sauge der Papaya-Palast ihre gesamte Konzentration auf.
Wie sie aber nun Evelyn im Sand vor den mächtigen Felsen sitzen sah, erinnerte sie sich an die vielen Male, als sie selbst noch eine junge Frau war und am gleichen Platz saß, die Nacht genoss oder Probleme wälzte. Senji war immer an ihrer Seite gewesen, mit ihm konnte sie alles besprechen oder einfach nur schweigen. Und sie erinnerte sich an die Einsamkeit, als er nicht mehr bei ihr war, an das Gefühl, als hätte man ihr einen Teil ihrer selbst entrissen. Etwas sagte Ili, dass diese junge Frau sich jetzt ebenso fühlte.
»Wie wäre es«, fragte Ili, »wenn ich mich zu Ihnen setze? Wenn wir schon beide gerne die Finsternis betrachten, können wir es ebenso gut zusammen tun.«
»Ich fürchte, ich bin heute Abend kein guter Gesellschafter«, seufzte Evelyn. »Besser, wenn ich allein bleibe.«
Ili überlegte einen Moment, dann verwarf sie kurzerhand den Einwand. »Sie waren lange genug allein. Kommen Sie, rücken Sie ein Stück.«
Auf Evelyns Platz lagen eine Matte und ein Tuch. Von hier aus konnte man bei Helligkeit die ganze Bucht nach Westen hin überblicken, und man saß geschützt gegen den Wind und, durch einen wilden Tuberosenstrauch, auch ein wenig gegen den Sprühregen. Die Steine hinter ihnen dienten als Lehne und gaben außerdem die gespeicherte Wärme des Tages an sie ab.
Ili blickte die jüngere Frau aus den Augenwinkeln an, die noch immer das Kinn auf die angewinkelten Beine stützte und melancholisch die kurzlebigen Lichtpunkte auf dem Meer betrachtete.
Nachdem sie eine Weile still auf ein Wort Evelyns gewartet hatte, fragte sie: »Warum sind Sie nach Samoa gekommen, Evelyn? Ich meine, Sie sind doch keine Touristin der üblichen Art, gehen nicht schwimmen, fahren wenig durch die Gegend und wandern nicht. Sie denken sehr viel nach, und ich würde Sie gerne fragen, worüber. Bitte, nicht dass Sie glauben, ich dränge mich auf, nur machen wir gemeinsam so viel durch, dass ich dachte …«
»Ich wollte mir das Leben nehmen«, sagte Evelyn mit fast unbeteiligter Stimme.
Es entstand eine Pause, in der Ili tief durchatmete. »Wann?«
»Vor einigen Tagen. Aber eigentlich wollte ich schon vor vier Jahren sterben, kurz nach dem Tod meiner wenige Stunden alten Tochter.«
»Aber Sie konnten es nicht tun, nicht wahr? Im letzten Moment sind Sie davor zurückgeschreckt.«
»Nein, ein Anruf hat mich gerettet, in buchstäblich letzter Sekunde.«
»Erzählen Sie mir davon. Bitte, Evelyn.«
Evelyn konnte sich nicht mehr erinnern, warum sie an jenem Abend vor vier Tagen ans Telefon gegangen war. Sie hatte mit zitternden Händen vor dem Waschbecken im Bad gestanden, das kalte Metall des Messers an die warme, fiebrige Haut über der Pulsader gepresst, und hörte es zwei-, dreimal klingeln. Anfangs wollte sie nur, dass es aufhörte, denn es irritierte sie. Es war wie ein Weckruf, der einen aus dem morgendlichen Halbschlaf reißt. Jedes Klingeln holte sie ein Stück mehr ins Bewusstsein zurück und senkte das Nervenfieber, das sie überfallen und gepackt und dazu gebracht hatte, das Messer zu ergreifen. Noch immer war alles düster und unerträglich, doch an die Stelle der hitzigen Gefühle, die wie eine Eruption über sie hereingebrochen waren, war wieder die übliche kalte Hoffnungslosigkeit getreten, die sie seit Jahren umfing. Sie wusste nicht, was sie letztendlich zum Telefon trieb – war es die Aussicht, dass Carsten doch nicht nach Afrika geflogen war, war es der Wunsch, mit jemandem zu sprechen –, was auch immer, es rettete sie.
Bianca meldete sich. »Du, ich wollte gerade auflegen. Das hat ja ewig gedauert. Störe ich? Eigentlich wollte ich ganz kurz die Termine für nächsten Monat mit dir durchgehen. Passt dir das jetzt?«
»Ich kann nicht mehr«, murmelte Evelyn in die Sprechmuschel, und es war Biancas Verdienst, dass sie auf der Stelle begriff, was damit gemeint war. Irgendetwas in Evelyns Stimme ließ keinen Zweifel daran.
»Heute ist Julias Todestag, nicht?«, fragte Bianca, obwohl sie es wusste. Sie hatte nur deswegen angerufen, um sie zu trösten, ihr eine Freundin zu sein.
»Jeder Tag«, antwortete Evelyn leise, »ist wie Julias Todestag. Und ich weiß nicht, wie lange ich das noch ertrage.«
Drei Sekunden war es totenstill in der Leitung. Dann sagte Bianca fest: »Ich komme sofort vorbei. Rühr dich nicht vom Fleck. Oder nein, geh raus.«
»Bitte?«
»Geh vor die Tür und warte dort auf mich.«
»Warum denn vor die Tür?«
»Tu, was ich sage. Versprich es.«
»Ich verspreche es.«
Es knackte in der Leitung, und Evelyn legte wie benommen den Hörer auf die Gabel zurück. Sie tat mechanisch, was ihr gesagt worden war, und ging in den Vorgarten, ohne zu wissen, wozu das gut sein sollte. Draußen tobte ein trockener Novembersturm, dessen Böen die Sträucher zu Boden drückten und die letzten Blätter von den Bäumen rissen. Der Wind riss an Evelyns schulterlangem Haar und zerrte an ihrem Kleid. Die Hände um den Oberkörper geschlungen wartete sie und wurde mit jeder Minute wacher und wacher, so als fege der Sturm den letzten Rest von Benommenheit mit sich fort. Hier draußen erschien das, was sie eben noch dort drinnen tun wollte, fern und fremd.
Zum Glück wohnte Bianca nicht weit entfernt. Nach zehn Minuten stand sie vor dem Haus und hupte. Evelyn öffnete die Beifahrertür.
»Gehen wir nicht zu mir rein?«
Bianca schüttelte nur den Kopf. »Steig ein. Wir fahren zu mir.«
»Ich möchte lieber in eine Bar.«
»Kommt nicht in Frage. Das wäre jetzt ganz falsch. Wir wollen doch reden.«
»Ich brauche Stimmengewirr und einen handfesten Drink!«, schrie Evelyn gegen den Sturm an. »Sonst kann ich nicht reden. Nicht heute.«
»Evelyn …«
»Nein, nein, nein. Jahrelang haben mir Menschen eingeredet, ich dürfe nicht darüber reden, so dass ich angefangen habe, selbst daran zu glauben. Jetzt soll ich reden und kann es nicht. Nicht ohne einen Drink.«
»Evelyn! Ich kann doch so nicht in eine Bar.« Bianca wies auf ihre Jogginghose mit dem Shetlandpulli darüber. Sie war offenbar ohne Zeit zu verlieren aus dem Haus gerannt, so wie sie gerade angezogen war. »Na ja, was soll’s«, seufzte sie einen Augenblick später. »Dass ich nicht wie ein Model von Chanel aussehe, ist im Moment sicher das geringste Problem, oder? Also schön, machen wir einen drauf.«
Evelyn stieg ein, und nachdem sie den Sturm ausgesperrt hatte, kehrte einen Augenblick Stille ein, die nur vom Ticken des Blinkers unterbrochen wurde. Bianca sah sie an, dann lächelte sie, und gleich danach legte sie knarrend den ersten Gang ihres Kleinwagens ein.
Während der Fahrt sprachen sie fast nichts, aber beide Frauen waren in Gedanken bei der Sache, und jede wusste von der anderen, dass sie es auch war. Einmal nur wechselten sie ein paar Worte, als ein kleiner Zweig auf die Windschutzscheibe prallte.
»Ich wollte, dass du bei diesem Wetter vor die Tür gehst, weil ich dachte, der Wind brächte dich auf andere Gedanken.«
»Ich weiß«, sagte Evelyn und blickte zum Seitenfenster hinaus. »Das hat er auch.«
Dann schwiegen sie für den Rest der Fahrt durch die Mainmetropole.
Die kleine Bar nahe des Zentrums bot alles, was man gemeinhin erwartete: schummerige Beleuchtung, leise Musik, tiefe Sessel, den Duft von Rum und tropischen Früchten in der Luft, das sanfte Rotationsgeräusch eines Deckenventilators … Alles perfekt. In Berlin wäre eine solche Bar mit allen möglichen Typen gefüllt gewesen, Presseleute, Fahrradprofis, arbeitslose Akademiker, Nachwuchsautoren … In Frankfurt dagegen sahen alle aus wie Banker und Börsianer, die Männer mit Anzügen, Nickelbrillen, perfektem Scheitel und smartem Ausdruck, die Frauen im Kostüm und mit Powerfrau-Attitüde. In diesem Ambiente wirkten Evelyn und Bianca wie zwei Landstreicher auf einer Party des Hochadels.
»Ich komme hier gewöhnlich nur her, wenn ich eingeladen werde«, rechtfertigte Bianca sich und ignorierte die verwunderten Blicke der Leute. Sie war niemand, der sich lange in einer Situation unwohl fühlte, arrangierte sich mit jeder Notlage und machte das Beste daraus.
Sie wäre nie in meine Lage gekommen, dachte Evelyn.
Bianca zündete sich eine Zigarette an und warf mit entschlossenen Bewegungen ihre gewaltige, rotbraune Lockenmähne zurück.
»Also, was ist los?«, fragte sie direkt.
»Ich brauche etwas zu trinken.«
»Die Bedienung kommt bestimmt gleich.«
»Solange will ich nicht warten.« Ungeniert rief sie durch den ganzen Raum nach der Kellnerin.
Bianca runzelte die Stirn. »So kenne ich dich überhaupt nicht.«
Das stimmte. Bianca war mittlerweile eine gute Freundin geworden, aber auch ihr war Evelyn in den letzten Jahren privat weitgehend aus dem Weg gegangen. Der Einzige, der hinter Evelyns Fassade hatte blicken können, war Carsten gewesen, doch der hatte so getan, als ob er nichts bemerkte.
»So bin ich aber«, sagte sie. Evelyn verspürte seltsamerweise keine Hemmungen mehr, über ihre Gefühle und das, was vor nicht ganz einer Stunde geschehen war, zu sprechen. Der Schreck über ihren ungeplanten Selbstmordversuch, der Sturm und die Kälte … Sie war hellwach, und als sie zu sprechen begann, war es, als würde sie über eine andere Frau berichten.
»Ich habe vorhin versucht, mir die Pulsadern aufzuschneiden.«
»O Gott.« Bianca bog den Kopf in den Nacken und blies mit spitzen Lippen den Rauch in die Luft.
»Es ist einfach so passiert«, erklärte Evelyn. »In mir drin war so viel Angst und Zorn und Abscheu und ich weiß nicht, was noch alles. Es stieg hoch und immer höher, wie eine Übelkeit. Ich konnte nichts dagegen machen. Mein Körper tat Dinge, die ich nicht verstand. Kein Denken mehr, alles war nur noch Gefühl, nackte reine Panik.«
»Panik wovor?«
»Vor allem. Vor dem Leben, vor dem nächsten Tag, vor dem, was mit Carsten und mir passiert, vor dem Vergessen, vor dem Verlust. Was mir Geborgenheit gegeben hat, ist zerschlagen. So als wäre ein Gefäß zerbrochen, und ich bin der Inhalt und stehe nun ohne Halt da. Ich weiß nicht, was ich hier noch soll, Bianca, warum es mich noch gibt.«
Die Kellnerin kam und störte. Bianca bestellte eine doppelte Bloody Mary, Evelyn stand dagegen der Sinn nach etwas Süßem mit Gin, Kokos und Früchten, und sie überließ es der Bedienung, das Richtige auszusuchen.
»Ich weiß nicht, wofür ich morgens noch aufstehe«, fuhr Evelyn fort. »Das Haus ist mir unerträglich, und die Welt außerhalb des Hauses ist mir ebenso unerträglich. Ich dachte, irgendwann würde der Zustand sich ändern, aber er nimmt kein Ende. Es ist, als ob ein einziger Gedanke die Wände und den ganzen Himmel beherrscht, als ob ich mit jedem Atemzug diesen Gedanken an Julia und an den Tag vor vier Jahren einatme.«
»Du solltest mehr arbeiten. Dann kommst du ganz von selbst auf andere Gedanken.«
»Die Arbeit, das ist auch so eine Sache. Wie kann ich anderen Menschen Ratschläge erteilen, wenn mein eigenes Leben ein Desaster ist? Das wäre, als würde jemand Architektur lehren, dessen Häuser regelmäßig zusammenfallen.«
»Du bist zu streng mit dir.«
»Um ehrlich zu sein: Die Arbeit als Beraterin ist mir mittlerweile egal. Ich bin schon genervt, wenn ich zu den Unternehmen reise, und wenn ich dann vor den Leuten stehe, verspüre ich nicht die geringste Lust, ihnen irgendetwas beizubringen. Wenn es mal so weit ist, sollte man die Finger von dem Beruf lassen.«
Stundenlang redeten sie über alles, über die Arbeit, über Julia, Carsten, die Eltern und Schwiegereltern, die Taubheit und die Sprachlosigkeit und das Unvermögen, daran etwas zu ändern. Und über die Geschehnisse des Abends, die sich jederzeit wiederholen konnten.
Die Kerze auf dem niedrigen Bartisch war nur noch ein zuckender Stummel, als Evelyn in ihren vierten weißgelben Cocktail blickte und sagte: »Ich werde abhauen. Das ist das Einzige, was mir einfällt.«
»Abhauen?«, fragte Bianca. »Du meinst, für eine Weile verreisen. Das ist gar keine schlechte Idee. Verbinde das doch mit einer Therapie. Ich habe von einem Selbsthilfezentrum im Rheingau gehört, wo Mütter …«
»Nein, ich meinte abhauen. Weg von hier, einfach so. Koffer packen und ab. Und bestimmt nicht in den Rheingau.«
»Evelyn, das bringt doch nichts.«
»Ich muss weg, Bianca. Ich muss.« Sie weinte. »Ich gehe kaputt und sehe mir dabei zu. Das tut weh, Bianca, verdammt weh. Wenn ich bleibe, zerstöre ich mein Leben und auch das von Carsten. Er lebt mit einer Heulsuse zusammen. Bin ich erst einmal weg, kann er einen Neuanfang machen.«
»Quatsch«, schimpfte Bianca. »Man kann bestimmt vieles über Carsten sagen, aber er liebt dich, Evelyn. Nur zeigt er es dir nicht mehr, weiß Gott, warum. Er ist ein Idiot, so wie alle anderen Männer auf diesem Planeten, aber weil er dich nicht verlieren will, ist er immerhin ein liebenswerter Idiot.«
»Woher willst du wissen, dass er mich noch liebt?«
»Die Art, wie er dich ansieht …«
»Ja, wie einen Hund, der nicht mehr stubenrein ist.«
»Du redest dummes Zeug.« Sie korrigierte sich. »Was ich meine, ist, dass du betrunken bist. Und durcheinander. In deinem Zustand abzuhauen, das ist doch Selbstmord.«
»Wenn ich bleibe, das ist Selbstmord. Der letzte Abend ist der beste Beweis. Ein blöder Anruf aus Lubumbashi hätte mich beinahe das Leben gekostet. Was wird es beim nächsten Mal sein, Bianca? Ein falsches Wort meiner Schwiegermutter? Schlimme Erinnerungen nach zwei Flaschen Wein?«
»Du brauchst dringend Hilfe. Ich wundere mich, dass du nicht schon längst in eine Therapie gegangen bist, du, eine Unternehmensberaterin, die weiß, wie wichtig in schwierigen Situationen professionelle Hilfe ist. Vorwürfe mache ich deswegen allerdings nur Carsten – und mir selbst. Ich dachte nicht, dass … dass es so schlimm um dich steht.«
Evelyn schnäuzte sich ins Taschentuch. »Eine normale Therapie hilft mir nicht mehr. Ich habe so ein Gefühl, Bianca, ich kann es nicht erklären, ein Gefühl, als ob mein Leben ab jetzt grundlegend anders verlaufen müsste.«
»Anders als seit Julias Tod, da stimme ich dir zu.«
»Nein, auch anders als vor Julias Tod. So als müsste ich mein ganzes bisheriges Leben radikal hinter mir lassen.«
»Hinter dir lassen! So einfach geht das doch nicht! Wohin, zum Kuckuck, willst du denn gehen?«
»So weit weg wie möglich. Auf den Mond, wenn’s geht. Und wenn nicht, ans andere Ende der Welt.«
Es blieb dabei. Bianca konnte sie nicht umstimmen und fuhr sie nach einem letzten Cocktail nach Hause. Sie bestand nicht darauf, dass Evelyn bei ihr übernachtete, und zum Abschied verlor sie auch nicht viele Worte. Vielleicht dachte ihre Freundin, dass Evelyn zu betrunken sei, um die Ankündigung wahr zu machen und sich am nächsten Morgen nach dem ausgeschlafenen Rausch noch daran zu erinnern. Doch Evelyn legte sich erst gar nicht schlafen. Noch in der Nacht packte sie hastig und mit tränenverschmierten Augen einen Koffer und suchte sich im Internet einen Flug nach Australien. Ein paarmal versuchte sie, Carsten eine Nachricht zu schreiben, aber alles, was ihr einfiel, klang wirr und dumm, und so beließ sie es bei einem simplen: »Bin gegangen. Ist besser für uns beide.« Sie hatte keine Kraft, darüber nachzudenken, wie er sich dabei fühlen würde. Nur so viel wusste sie: Er hatte die Macht, sie in ihr altes Leben zurückzuholen. Ein trauriger Blick von ihm, ein paar Tränen, die Geborgenheit seiner Arme, die Wärme seiner Stimme, und schon wäre es um sie geschehen. Unter den dicken Schichten aus Schmerz und Gleichgültigkeit spürte sie, dass sie noch etwas für Carsten empfand, dass er der Einzige war, der ihren Entschluss gefährden konnte. Sie durfte nicht mit ihm sprechen. Es könnte ihr Leben kosten.
Sie verließ das Haus, ohne sich noch einmal umzudrehen, und fuhr mit einem Taxi zum Friedhof.
Eine unendlich tiefe Stille lag über den Gräbern. Der Novembersturm hatte Zweige und einen Teppich dichten braunen Laubes über die Steine und Wege ausgeschüttet. Julias kleiner runder Grabstein war fast vollständig verdeckt. Evelyn ließ alles so, wie es war. Sie mochte nicht, wie manche Mütter die letzten Ruhestätten ihrer Kinder verzierten: kleine Fleckchen Erde, überladen mit bunten Fähnchen, Püppchen und Plastikblumen, wie sie alles putzten und schmückten, bis es aussah wie in einem Vergnügungspark, wie sie Osterhasen an Ostern und den Nikolaus in der Adventszeit aufstellten. Vielleicht lag es daran, dass diese anderen Mütter Weihnachts- und Osterfeste mit ihren Kindern verbringen durften, ein, fünf oder zehn Jahre lang. Evelyn hatte nicht ein einziges Fest mit Julia feiern können, keinen Geburtstag, nicht einmal einen einzigen Abend. Julias Grab bedeckten nur filigrane Gräser, die bei jedem Windstoß schaukelten und zu dieser Jahreszeit grüne Höcker bildeten, die sich von dem Kiesel abhoben wie Trauminseln aus einem gleißenden Meer.
Ich möchte irgendwohin, wo es so aussieht, dachte Evelyn und strich mit der Hand über die Graspolster und das Laub. Auf eine grüne Insel. Mit einem Berg. Mit Wärme und Wind. Mit einem gleißenden Meer.
»Ich kann nicht anders, Schatz«, sagte sie, und die Erinnerung blitzte auf an das kleine rotgesichtige, verletzliche Wesen, das sie eine Stunde lang in den Armen halten durfte, aus ihrem Körper genährt und die Wärme gespürt hatte, die von ihm ausging. Hätte Julia weitergelebt, ginge sie heute, jetzt in diesem Augenblick, in den Kindergarten, wo sie Freundschaften schließen, Früchtetee trinken und mit den Trauben, die sie nicht essen wollte, nach anderen Kindern werfen würde. Sie käme nachmittags nach Hause, würde Fragen stellen, die Evelyn in Verlegenheit brächten, würde Puzzle zusammensetzen oder einen Schmetterling aus Papier basteln und mit jeder einzelnen Bewegung verzaubern. Nichts auf der Welt hätte Evelyn dazu bringen können, die vierjährige Julia zu verlassen.
Doch diese Julia gab es nicht, hatte es nie gegeben. Julia musste gehen.
Und Evelyn musste nun auch gehen.
Mit den Ärmeln hatte sie sich die Tränen von den Wangen gewischt und das Grab verlassen, schneller als es nötig gewesen wäre.
Es war das Schwerste gewesen, das sie je hatte tun müssen.
Ili hatte zwischenzeitlich den Arm um Evelyns Schultern gelegt, weil diese angefangen hatte zu zittern.
»Und Ihr Mann?«, fragte sie. »Er weiß nicht, dass Sie hier sind?«
Evelyn verneinte stumm. »Ich glaube, ich wollte mir beweisen, dass es tatsächlich aus ist zwischen uns, wollte endgültige Fakten schaffen, und deswegen habe ich gestern … Ich habe Ihnen noch gar nicht gesagt, wie ich hinter Ray Kettners wahre Absichten gekommen bin. Er hat es mir nicht freiwillig erzählt, wissen Sie. Ich war auf seinem Zimmer. Er und ich, wir … Mein Gott, war ich dumm.«
Ili nahm Evelyns Hand. »Da Sie das jetzt wissen, haben Sie bereits etwas daraus gemacht, so müssen Sie die Sache sehen. Der Selbstmordversuch, Ihre Flucht von zu Hause, Ihr schlechtes Gewissen, weil Sie meinen, Ihre Tochter verlassen zu haben, die Ungewissheit, was als Nächstes kommt: Das alles hat Ihr Leben durcheinander geschüttelt, und nun versuchen Sie, es neu zu ordnen. Dass Sie dabei Fehler machen, ist normal und sogar wünschenswert. Sie werden dadurch verstehen, was aus Ihrem alten Leben noch in Ihr neues gehört – und was auf den Schrottplatz sollte.«
Ilis Stimme wurde noch sanfter, als sie fragte: »Was mich interessiert, Evelyn: Ihre Tochter … Julia … Schreiben Sie ihr?«
Evelyn hob den Kopf. »Wie bitte? Julia ist tot.«
»Ich weiß«, sagte Ili.
»Wenn Sie das wissen, wieso stellen Sie dann diese seltsame Frage?«
»Ich meine es völlig ernst. Schreiben Sie ihr?«
Evelyn schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht. Das wäre doch absurd. Wohin sollte ich die Briefe wohl schicken? In den Himmel?«
Ili ignorierte den gereizten Ton Evelyns. »Nirgendwohin. Die Briefe sind für Sie – und für Julia. Schreiben Sie ihr, was Sie tun, wohin Sie gehen, was Sie erleben und wie Sie sich dabei fühlen. Schreiben Sie ihr von den Farben im Frühling, von den Sommergewittern, vom nassen Laub und vom Schnee. Von den Kindern in der Nachbarschaft, von den Sandkästen im Kindergarten, von der Einsamkeit und dem Zorn und der Hilflosigkeit, von Ihrem Mann, von den Erinnerungen, den guten wie den schlechten. Schreiben Sie ihr all das.«
Während Evelyn noch verwirrt über diesen Vorschlag staunte, ergänzte Ili: »Wie war sie? Wie war Julia? Erzählen Sie mir von ihr.«
Evelyn suchte nach Worten. »Sie war … na ja, sie war sehr klein. Ein Winzling, 4220 Gramm, etwa so groß.« Evelyn beschrieb die Größe mit ihren Händen, senkte sie dann langsam wieder, ohne den Blick von ihnen zu nehmen. Nach einem Moment lachte sie plötzlich leise auf. »Aber temperamentvoll war sie, das können Sie sich nicht vorstellen. Sie hat so sehr mit den Armen gefuchtelt, dass sie meiner Schwiegermutter einen Kinnhaken versetzte. Ich weiß noch, wie ich dachte, dass sie schon nach einer Stunde auf dieser Welt eine hervorragende Menschenkenntnis besitzt.«
»Das Temperament hat sie von Ihnen, oder?«
Evelyn lächelte. »Eher nicht. Auch nicht von Carsten oder einem der Großeltern. Sie war … Sie war etwas ganz Eigenes, Besonderes. Ich glaube, sie hätte uns alle zum Staunen gebracht, wenn sie … Aber sie war ja noch so klein, hatte ja keine Zeit.« Evelyn stockte. »Die Dinge, von denen Sie sprachen, Farben, Schnee, Gefühle, würde sie nicht verstehen.«
»Sie wäre jetzt vier, nicht wahr?«
Evelyn nickte.
»Ein vierjähriges Kind«, sagte Ili, »sieht die Welt und spürt die Gefühle, die ihm entgegengebracht werden. Selbst die Kleinsten und Jüngsten haben diese Fähigkeit. Nehmen Sie Julia im Geist mit auf Spaziergänge, beschreiben Sie ihr, was für ein schöner Tag es ist, wie die Hunde in der Ferne bellen, wie der Nebel sich langsam lichtet. Sagen Sie Ihrem Kind, was Sie empfinden, damit es mit Ihnen empfinden kann. Zweifeln Sie nicht daran, Evelyn. Lassen Sie Julia nicht allein – lassen Sie sich nicht allein.«
Eine Zeit lang sagte keiner mehr etwas, nur die Stimme des Wassers, leise verebbende Wellen, unterbrach die Stille. Dann, als das Kreuz des Südens im Zenit stand, sagte Ili so leise, wie man nachts an einem verlassenen Strand spricht: »Sie sind nach Samoa gekommen, um irgendetwas anders zu machen, zu verändern. Und nun haben Sie sich verändert, Evelyn. Ist Ihnen das eigentlich bewusst?«
»Eigentlich nicht«, antwortete Evelyn schulterzuckend. »Die Konstanten in meinem Leben sind noch genau die gleichen wie vor einigen Tagen.«
»Von Konstanten spreche ich nicht. Als Sie im Papaya-Palast ankamen, waren Sie eine ziemlich konfuse Frau, die nach irgendeiner Hilfe suchte, welcher auch immer. Und jetzt sind Sie es, die hilft.«
»Eine schöne Hilfe«, sagte Evelyn sarkastisch. »Wir sind genauso weit wie vorher.«
Ili fasste die jüngere Frau am Arm. »Genau das meine ich. Sie sagten eben, ›Wir sind genauso weit wie vorher‹. Wir! Ist Ihnen eigentlich klar, dass Sie – so merkwürdig das klingt – der einzige Mensch sind, der mit mir den Verlust des Landes und des Papaya-Palastes betrauert? Wo sind sie denn alle, diejenigen, die eigentlich an meiner Seite stehen sollten? Ane, meine Verwandte und Erbin, kann es gar nicht abwarten, das Land zu verschachern, und Ben, mein ältester Freund, hat resigniert und ist über das alles nicht betroffener als über eine nahende Schlechtwetterfront. Und da kommen nun Sie daher, eine mir unbekannte Frau, zum ersten Mal auf Samoa, mit Weinflaschen im Koffer und Trostlosigkeit im Herzen, und stehen an meiner Seite. Das ist alles andere als selbstverständlich.«
Evelyn lächelte verlegen. »Sie haben Recht, das klingt wirklich merkwürdig. Eine völlig Fremde wie ich.«
Ili unterbrach sie. »Nein, eben nicht. Denn sehen Sie, Evelyn, ich habe Sie zwar eben eine mir unbekannte Frau genannt, aber Sie sind keine Fremde. Wir Samoaner glaubten früher, dass die Seele eines Toten im Wind manchmal der Seele eines noch Ungeborenen begegnet und sich vereint. Vielleicht hat sich die Seele einer Samoanerin mit der Ihren vor langer Zeit vereint. Denn wie sonst kann es sein, dass Sie die Bäume, die Berge und das Meer ansehen, als seien sie Ihr Zuhause? Wie sonst könnten Sie für etwas eintreten, das Sie kaum kennen?«
Evelyn ließ eine Hand voll Sand durch die Finger rieseln. »Eine schöne Vorstellung«, sagte sie. »Dass meine Seele noch eine Seite hat, die ich nicht kenne.«
Ili nickte. »Die meisten Menschen haben eine andere Seite, aber viele lernen sie niemals kennen. Weil sie zu beschäftigt sind oder weil sie ihnen nicht in den Kram passt.«
»Oder weil sie sich vor ihr fürchten«, ergänzte Evelyn und blickte Ili gespannt an.
Ili hatte das Gefühl, dass Evelyn mit dieser Bemerkung auf etwas Bestimmtes hinauswollte.
Kein Wunder, dachte sie, Moana wird ihr vorhin von Atonio erzählt haben.
So gern sie die jüngere Frau hatte: Diese Sache war die einzige, über die sie nicht bereit war zu sprechen.
»Auch das ist möglich«, antwortete sie ausweichend. »Nehmen Sie als Beispiel meine Familie, die Valaisis. Glauben Sie nicht auch, dass Tupu noch eine andere, eine hellere Seite hatte und dass es nur ungünstige Umstände waren, die ihn zum Verbrecher werden ließen? Dass er im Grunde nicht tun wollte, was er tat? Ich glaube, er fürchtete sich vor sich selbst. Und irgendwann kam der Zeitpunkt, da hasste er sich sogar. Er …«
Ili unterbrach sich plötzlich.
»Warum erzählen Sie nicht weiter?«, fragte Evelyn.
Ili blickte sie eindringlich an. »Ach, Evelyn, wir haben so viele Probleme, stehen beide an einem Scheideweg unseres Lebens – wie könnte uns dabei eine alte Geschichte helfen?«
Evelyn rückte einige Zentimeter näher an Ili heran. »Sie könnte aber auch nicht schaden, oder?«
Ili und Evelyn lächelten.
»Sie geben nicht auf, oder?«, fragte Ili vieldeutig.
Evelyn schüttelte sanft den Kopf. »Nur, wenn Sie nicht aufgeben. Also, Sie sagten, Tupu hasste sich für seine Taten.«
»Noch nicht, als er in den Papaya-Palast einzog, aber später.«
»Die drei Morde.«
»Die drei Morde«, bestätigte Ili. »Glauben Sie mir, Evelyn, es kann ein Schock sein, wenn man begreift, zu was man fähig ist. Ein furchtbarer Schock.«
Samoa, Juli 1914
Mittlerweile fürchtete er die Nacht nicht mehr.
Tupu hatte festgestellt, dass ihn die Geister, die einen im Mondlicht sehen und aufspüren konnten, unbehelligt ließen. Dreimal war er in den letzten Wochen durch den Wald geschlichen, wobei er darauf achtete, das Haus erst dann zu verlassen, wenn Tuila und Tristan auf der anderen Seite bereits schliefen. Ivana war das geringste Problem. Wenn sie fragte, wohin er wolle, gab er zur Antwort, dass sie das nichts anginge und dass sie den Mund halten solle. Manchmal brannte es ihm auf der Zunge, ihr zu sagen, dass er bei den Mau war und wie sehr sie ihn achteten und lobten für seine Heldentaten. Die Scheune eines Siedlers, zwei Pferde eines Züchters und eine eben erst eröffnete Poststation waren Tupu kürzlich zum Opfer gefallen – kein anderer Mau auf Savaii war derart erfolgreich wie er. Doch er musste vorsichtig sein, vor allem gegenüber einer schwatzhaften Frau wie Ivana, und so ließ er sie über den Zweck seiner nächtlichen Streifzüge im Unklaren.
Heute hatte er sich ein neues Ziel ausgesucht. Das lang gezogene Gebäude lag etwas außerhalb eines Dorfes, und Tupu musste sich deshalb nicht allzu vorsichtig anschleichen. Er näherte sich dem Haus von der Strandseite her, wo der dunkle Sand und das nächtliche Meer seinen Schemen nahezu verschluckte. Lautlos überwand er umgestürzte Palmen und aufragende Wurzeln, duckte sich und kroch in den Hohlraum des auf Stelzen stehenden Gebäudes. Eine Weile blieb er auf dem Rücken liegen und lauschte nach Geräuschen. Dann wusste er, dass niemand ihn gesehen oder gehört hatte, und suchte zwischen den Stelzen nach einer Stelle, die sich eignete, ein Feuer zu entzünden. Einen Ast, umwickelt mit lange brennenden Trockenblättern, hatte er bei sich, ebenso einen Zündstein. Er schlug ein paar Funken, die auf dem feuchten Sand verglühten, ohne die Fackel zu entflammen.
Plötzlich hörte er Geräusche. Er verhielt sich still. Durch ein Loch in den Bodenbrettern konnte er einen kleinen Teil im Innern des Hauses sehen, und tatsächlich erhellte jetzt ein schwacher Lichtschein die Wohnung. Ein weißes Tuch huschte direkt über dem Loch vorbei. Die Tür wurde geöffnet.
»Hallo«, rief eine Stimme halblaut. »Ist da jemand?«
Verflucht, dachte Tupu. Der Alte hat mich gehört.
Er verhielt sich weiterhin still. Natürlich hätte er die Beine in die Hand nehmen und über den Strand wegrennen können, ohne bemerkt, geschweige denn erkannt zu werden. Aber er und davonlaufen! Einen Rückzieher machen! Er blieb liegen und glaubte, dass die Situation sich von allein beruhigen würde, stattdessen legte sich langsam ein schwacher Lichtschein auf seinen Körper.
»Was tust du da?«, fragte Ordinarius Löblich. »Komm da raus.«
Tupu kroch aus dem Hohlraum hervor. Jetzt ärgerte er sich, dass er seine Maske vergessen oder, besser gesagt, für unnötig gehalten hatte.
Der Alte hielt ihm die Kerze vor das Gesicht.
»Ich kenne dich«, sagte Löblich. »Du bist der Schwager des Leutnants. Nun sag mir, was du vorhattest. Komm schon, sag es. Wenn du es mir nicht verrätst, wirst du es deinem Schwager erklären müssen.«
So weit hatte es nie kommen sollen, dachte Tupu, doch nun war es so weit gekommen.
Er holte seinen Dolch aus dem lavalava und stach zu.
Löblich sank nach vorn, und dann, als Tupu nicht mehr damit rechnete, drückte der Missionar ihm instinktiv die Kerze auf die Brust.
Tupu schrie auf. Wutentbrannt zog er den Dolch aus Löblichs Bauch und rammte ihn ein weiteres Mal in den Körper. Der Missionar brach zusammen, regte sich nicht mehr. Mit dem Fuß drehte Tupu den Mann um, sah in die offenen, leeren Augen und wusste, dass er tot war. Ihm schauderte beim Anblick dieser Augen, daher drehte er die Leiche erneut um.
Vorsichtig befühlte er die kreisrunde Brandwunde an seiner Brust. Sie schmerzte, war jedoch nicht schlimm, im Gegenteil. Die Mau würden staunen, wenn er nach seiner Narbe am Oberarm bereits die zweite Verletzung vorweisen konnte, während sie noch nicht eine einzige hatten.
Er hörte Stimmen, die sich näherten. Ursprünglich hatte er die Missionsstation anzünden wollen, dieses Symbol des aufgezwungenen Glaubens, des entmündigten Volkes, doch dafür blieb nun keine Zeit mehr. Ein toter Missionar war, genau genommen, noch weit ruhmvoller als eine brennende Baracke.
Über den Strand trat Tupu den Rückzug an. Doch erneut hatte er Pech, denn er lief einer der Nonnen, der schlanken, fast direkt in die Arme. Auch sie trug eine Kerze in der Hand und versuchte durch die Dunkelheit zu erspähen, wer vor ihr stand.
»Schwester Dorothea!«, rief eine Stimme ein Stück hinter ihr. »Nicht so schnell, ich komme nicht nach.«
In dem Moment, als er zustieß, sah er Schwester Dorothea direkt in die weit aufgerissenen Augen. Sie ließ die Kerze fallen, klammerte sich an seine Schultern und glitt langsam, fast zärtlich, an ihm herab.
Schwester Bertha, die noch gut zwanzig Schritte entfernt war, blieb stehen. »Mein Gott«, flüsterte sie, wandte sich um und rannte davon.
Tupu zögerte keinen Augenblick. Er war nicht sicher, ob sie ihn erkannt hatte. Den Dolch in der Faust, rannte er hinter ihr her. Natürlich war er schneller als sie, doch sie flüchtete sich zwischen die Bäume in das Dunkel des Waldes.
Sie schrie, keine Worte, sondern kurze, abgehackte Laute, wie ein Tier auf der Flucht. Zu spät, wusste er. Sie war in die falsche Richtung gelaufen, weg vom Dorf. Hier hörte sie niemand.
Ihr weißes Gewand blitzte dann und wann durch das Gewirr der Bäume, so dass er ihre Spur nie verlor. Längst hätte er sie eingeholt haben können, doch nun war ihm seltsamerweise nicht mehr daran gelegen, dass es so schnell ging. Er wollte sie jagen, jagen wie ein Tier.
Hetzen.
Zu Tode hetzen.
Ihre Angst spüren.
Er spürte ihre Angst. Er hörte ihren gequälten Atem.
Sie lief auf das Meer zu, ohne es zu wissen. Verfing sich in Lianen, stolperte über Zweige.
Tupu hielt ständig den gleichen Abstand, nahe genug, um sie in Angst zu halten, weit genug, um ihr die Illusion einer möglichen Rettung zu lassen.
Am Strand rannte sie zunächst in die eine Richtung, dann, als sie die hohen Felsen vor sich bemerkte, in die andere.
Als Tupu zwischen den Palmen hervorsprang, war sie keine drei Schritte mehr entfernt.
»Bitte nicht«, stieß sie flehend hervor.
Er trieb sie mit dem Dolch in der gestreckten Hand vor sich her, trieb sie ins Wasser.
Ihr nasses Gewand schmiegte sich an ihren Körper, zuerst um die Beine, dann um die Hüften, um den Bauch. Mit hektischen, ungelenken Schwimmbewegungen versuchte sie, vom ihm wegzukommen.
Tupu ließ sie eine Weile gewähren, aber nur, um die Jagd zu verlängern. Als er fand, dass ihr Vorsprung ausreichend war, klemmte er sich den Dolch zwischen die Zähne und holte sie mit zehn, zwölf athletischen Zügen wieder ein.
Er tauchte nach einem ihrer Beine, griff es und zerrte daran.
»Bitte nicht«, flehte sie halb erstickt. Ihr Kopf geriet immer wieder unter Wasser.
Als er einen Moment unaufmerksam war, gelang es ihr, ihr Bein seinem Griff zu entreißen und ihm damit einen Tritt ins Gesicht zu versetzen. Der Tritt war schwach, traf aber ausgerechnet den Dolch zwischen seinen Zähnen. Die Klinge schnitt in die Mundwinkel.
Der Schmerz und das Blut machten ihn rasend.
Er griff nach der Waffe und stach planlos auf sein Opfer ein, gleichgültig ob er traf oder nicht. Sie wand sich, zappelte, gurgelte, wehrte sich mit kleinen Schlägen, schwächer werdend, erlahmend. Dann, eine Ewigkeit schien vergangen, sank ihr Körper vornüber.
Tupu brauchte etliche Atemzüge, bevor er verstand, was geschehen war. Für ihn war es, als erwache er aus einem schrecklichen Traum. Als er sich umsah, schwamm er in einem Meer von Blut. Panik erfasste ihn. Beinahe versank er, aber er bekam etwas zu fassen und hielt sich daran fest. Er erschrak, denn es war die Leiche der Nonne. Mit unkoordinierten Bewegungen, die nichts mehr mit der athletischen Jagd zu tun hatten, gelangte er ans Ufer.
Obwohl er schnell wieder zu Atem kam, lag er eine Stunde lang wie ein Schiffbrüchiger auf dem Sand, umspült von kleinen Wellen.
»Wahnsinn«, flüsterte er immer wieder. »Ich muss wahnsinnig sein.«
Und dann verzerrte sich sein Gesicht zu einer grotesken, weinenden Maske.
Tristan schlug die Augen auf. Das Schlafzimmer war ein safranfarbener Lichtsee, gespeist aus vier hohen, der Morgensonne zugewandten Fenstern. Ein fünftes Fenster war mit einer Matte verhängt, und ein duftender Windhauch spielte mit diesem Palmengeflecht, hob es sanft an, drang ins Zimmer und bewegte die Blumen auf dem Tisch neben Tristans Bett. Ein paar Minuten lang lag er still, betrachtete den Raum wie ein faszinierendes Gemälde und atmete Sauberkeit und Ruhe ein. Das Kribbeln eines neuen Lebensgefühls durchfuhr seinen Körper, und ohne genau zu wissen, warum, lächelte er. Vielleicht, weil der Augenblick fast perfekt war. Vielleicht, weil er heute Morgen begriff, wie viel Glück er gehabt hatte, nach Samoa gekommen zu sein, diesen Platz gefunden zu haben und dieses Leben zu führen.
Tuila war schon aufgestanden. Heute war Sonntag, und da freute sie sich auf ein gemeinsames Bad mit ihm, bevor sie zusammen zur Kirche gingen. Noch immer fand er es schade, dass diese – im besten Sinne – Naturmenschen, die durch Urwälder streiften und an Lagerfeuern tanzten, sonntags Kirchenlieder sangen und züchtige Kleider trugen. Doch er gewöhnte sich daran und bemerkte zufrieden, dass sie der Religion wegen ihr Alltagsleben kaum änderten.
Er schlug die Decke zurück und ging zu einem der Fenster. Der Morgenhimmel war wie blaues Glas. In der Ferne, zwischen den Bäumen, kündeten feine Rauchfäden von erwachten Dörfern. Nur mit einem Hüfttuch bekleidet, das er sich sorglos umwickelte und das noch nicht einmal die Oberschenkel bedeckte, trat er auf die Veranda. Von dort sah er Tuila, wie sie unten in der Bucht badete. Er dachte an Arnsberg und wie dort die Morgenstunden verlaufen waren: ein Diener, der ihn weckte, ein Anzug, der bereitlag, ein ganzes Regiment von kleinen Dosen und Instrumenten zur Körperpflege, Seifen, Rasiercremes, Rasierwasser, Klingen, Scheren, Haarwachs, anschließend ein formelles Frühstück auf Meissner Porzellan. Und später beim Militär? Alles hatte dort auf die Minute zu beginnen und zu enden, von der Morgensirene bis zum Zapfenstreich. In Samoa spielte das alles keine Rolle. Die Natur gab hier das Tempo vor, und die Natur hatte Zeit. Sehr viel Zeit. Sie interessierte sich auch nicht für Haarwachs und Anzüge. Der Pazifik war die Badewanne, und die Fruchtbäume waren der Arbeitsplatz. Eintausend Papayasetzlinge hatte Tristan gekauft, die er derzeit von Arbeitern hinter dem Haus einpflanzen ließ, so wie Tuila es sich gewünscht hatte.
Vielleicht werde ich doch noch ein Bauer, dachte er und spürte wieder, wie ihn dieses neue Lebensgefühl erfasste. Seine Träume waren teils schon verwirklicht und teils greifbar nah, wie sein erstes Kind, das in Tuila heranwuchs. Drei Kinder wünschte er sich, zusammen mit Moana würden dann vier Kinder im Haus aufwachsen, lärmen, spielen, erwachsen werden.
Einzig der Schatten von Arnsberg verdüsterte dieses Zukunftsbild. Wie würden seine Eltern auf die gelöste Verlobung reagieren? Wie viel von Clara Hanssens galligen Hetztiraden gegen ihn würde sie erreichen? Und was, wenn sein Vater eines Tages stürbe?
Immer wieder holten ihn die Schatten ein, doch an diesem Morgen wollte er nicht darüber nachdenken.
Als er Tupu drüben aus dem Haus kommen sah, nahm er ihn als eine willkommene Abwechslung wahr und ging zu ihm. Tupu war noch nackter als er selbst, nur mit einem knappen Schurz bekleidet. Offenbar wollte er sich, ebenso wie Tristan, waschen gehen.
»Hallo, Tupu. Wir begegnen uns kaum noch. Kommst du nachher mit zur Kirche?«
»Nein, Ivana fühlt sich nicht wohl. Da bleibe ich lieber hier.«
Tristan fand, dass auch Tupu nicht ganz gesund wirkte, und fragte: »Vielleicht etwas Ansteckendes? Sollen wir einen Arzt rufen? Oder wenigstens die Kleine zu uns nehmen?«
»Nein, nein, es wird schon nichts sein. Wolltest du gerade zu Tuila ans Wasser?«
»Ja. Komm doch mit!«
»Ich lasse euch lieber allein.«
»Unsinn, Tupu, die Bucht ist doch für alle da. Wir freuen uns, wenn du …«
Aber Tupu verschwand im Haus, bevor Tristan seinen Satz zu Ende sprechen konnte. Er konnte versuchen, was er wollte, und wurde trotzdem nicht warm mit Tuilas Bruder. Das galt auch umgekehrt. Er spürte die Abneigung, die sein Schwager gegen ihn hegte, die immer schon dagewesen, aber in letzter Zeit besser versteckt war als früher. Möglicherweise lag es daran, dass sie beide ein Geheimnis teilten, sogar mehrere. Tupu behagte es vermutlich nicht, dass Tristan von seiner Attacke gegen die Picknickgesellschaft wusste, und Tristan war nicht wohl, dass Tupu – außer Ordinarius Löblich und dessen Nonnen – der einzige Zeuge seiner verbotenen Eheschließung war. Irgendwie waren sie beide auf Gedeih und Verderb miteinander verbunden, zwei Menschen, die im Grunde wenig gemein hatten, und das passte ihnen vermutlich nicht. Wenn er ehrlich war, mochte Tristan seinen Schwager ebenso wenig wie dieser ihn.
Doch Tuila war glücklich mit ihrem Bruder im Haus, und dieses Glück war ihm wichtiger als alles andere.
Er bekam schreckliche Sehnsucht nach ihr und rannte zur Bucht, wobei er auf halbem Weg das Tuch verlor, und stürzte sich mit einem Sprung in den Ozean. Als er unter Wasser Tuilas Fuß zu fassen bekam, zog er ihn hoch und warf sie um.
»Du Schuft, jetzt sind meine Haare nass!«, rief sie lachend.
Er tauchte unmittelbar vor ihr auf und küsste sie, umfasste ihren zierlichen Körper mit den Armen und rieb seine Nase an der ihren, so wie Polynesier es gerne haben. »Liebst du mich trotz der nassen Haare noch?«
»Meine Haare können dich nicht mehr ausstehen«, antwortete sie. »Aber ich, ich liebe dich noch etwas mehr als gestern.«
Sie schwammen raus bis zu den Riffen, die wie Walrücken glatt und braun aus dem Meer lugten. Dort sitzend blickten sie abwechselnd nach Süden in die Unendlichkeit des Meeres, die ohne Unterbrechung Tausende von Meilen bis zur Antarktis reichte, und zurück zur Palauli Bay und dem Haus, das halb verborgen hinter Kokospalmen wie ein Streichholzpalast aussah.
»Weißt du, was mir meine Mutter gestern erzählt hat? Die Leute von Savaii nennen unser Zuhause ein faletele.«
Tristan überlegte. »Heißt das nicht so viel wie ›großes Haus‹?«
»Ihr würdet es eher mit ›Residenz‹ übersetzen oder mit ›Palast‹. Ist das nicht witzig? Meine Landsleute sagen, wir leben in einem Palast. Jetzt hast du ein eigenes Schloss, Tristan. Ein neues Arnsberg, weit weg vom anderen.«
Sie lehnte sich an ihn. »Zusammen mit deiner Uniform wirkst du auf meine Landsleute jetzt wie ein weißer König.«
»Ich bin nur ein einfacher Leutnant – und eines Tages Graf.«
»Gräfin Tuila«, murmelte sie amüsiert. »Wie hört sich das an? Und was genau ist ein Graf? Was macht ihn zu etwas Besonderem?«
»Ich glaube, das weiß bei uns keiner so genau, Tuila. Aristokraten werden nicht gewählt wie eure Familien- und Dorfoberhäupter. Sie gehen auf Bälle, und sie versuchen, so viel Reichtümer wie möglich anzuhäufen und damit zu prahlen.«
»Geld?«
»Geld«, bestätigte er.
Tuila seufzte. »Eine seltsame Erfindung, dieses Geld. Jeder von euch jagt ihm verbissen hinterher wie einem Wild, und dabei überseht ihr völlig, was links und rechts eures Weges geschieht. Ihr könnt euch nicht mehr auf die Dinge einlassen, die wirklich glücklich machen. Auf den Wind, der von weither kommt, auf eine schnelle Fahrt im Kanu, auf den Schein des Feuers, ein Gespräch unter Freunden und den Duft brennender Kokosschalen. Euch entgeht so vieles.«
»Mir nicht mehr.«
»Nein, dir nicht mehr. Dich habe ich zu einem Samoaner gemacht«, neckte sie ihn.
»Ach, du warst das?«
»Ja.«
»Na, wenn das so ist …« Er kitzelte sie, und sie rutschten beide lachend vom glatten Riff ins Wasser, wo sie sich küssten und nebeneinanderher Richtung Strand schwammen.
»Tristan?«, fragte sie ihn auf halbem Weg. Ihre Stimme klang ein klein wenig traurig. »Werde ich sie jemals sehen, deine Heimat?«
Ohne sie anzusehen, antwortete er: »Meine Heimat ist hier.«
»Aber werde ich jemals deine frühere Heimat sehen? Deinen Vater und deine Mutter? Wirst du mich irgendwann dorthin mitnehmen?«
Er sah noch immer stur geradeaus. »Wer sagt, dass ich fortgehe?«
»Wirst du nie nach Arnsberg zurückkehren?«
»Nein.«
»Auch nicht für eine Weile?«
»Für eine kurze Weile, vielleicht. Wenn es unbedingt nötig wird.«
»Und wenn du dann fortgehst, wirst du uns mitnehmen, mich und unser Kind? Damit dein Vater und deine Mutter sehen, was für eine Frau du hast und was für ein Kind?«
Tristan dachte an den Grafen. Er hörte seine polternde Stimme und sah seine Mutter weinen.
Kurz bevor sie am Strand angekommen waren, sagte er: »Ich werde nicht fortgehen, Tuila, was auch kommt. Es ist für uns alle besser so.«
Oben am Haus wartete schon ein Mann der Fita-Fita auf ihn. Tristan ahnte sofort, dass etwas geschehen war, denn bisher war den samoanischen Polizisten noch nie etwas so dringend erschienen, dass sie ihn aufgesucht hätten, und schon gar nicht sonntags.
Er hob sein Tuch auf, wickelte es sich um die Hüften und trat dem Untergebenen entgegen.
Mitten im salzigen Duft, der vom Meer herwehte, ging Tristan über den Sand, stumm, die Offiziersmütze in den Händen knetend, blickte mal hierhin und mal dorthin, die Miene versteinert. Kinderweinen mischte sich in das Rauschen von Wind und Brandung, das Entsetzen jener, die als Erste die Leichen entdeckt hatten. Löblich lag drüben, im Schatten eines Nistplatzes von Kokospalmen, friedlich wie ein Schlafender auf dem Bauch liegend. Die andere Leiche, eine Schwester, kauerte mit verrenkten Gliedern, die Finger in den Sand gekrallt, am Strand. Und die zweite Schwester war ein Stück weiter von Frauen gefunden worden, in einem entsetzlichen Zustand, abgestochen wie ein Vieh, angenagt von Fischen und Krebsen.
Das also war die Kehrseite des Paradieses. Tristan hatte stets ungläubig zugehört, wenn ihm jemand von der Vergangenheit Samoas erzählt hatte, von blutigen Kriegen zwischen den Inseln, von gewalttätigen Riten, grausamen, rachsüchtigen Geistern und sogar von einzelnen Fällen von Kannibalismus. Ältere Einheimische hatten Väter gehabt, die diese Zeiten noch erlebt und gelebt hatten, doch den heutigen Samoanern war das Erbe früherer Generationen kaum noch anzumerken. Sie ruhten den halben Tag über im Schatten, grüßten höflich und luden jeden, der darum bat, auf eine kava in ihre Hütten ein. Morgens warfen die jüngeren von ihnen von kleinen, schlanken Booten aus ihre Netze ins Meer, und abends kamen die Dorfbewohner zusammen und schwatzten. Sie waren zur Ruhe gekommen. Nur jene Traditionen wurden fortgesetzt, die unblutig waren, so wie die Jungmannzeremonie oder die lockere Bekleidung an Werktagen.
Doch in mindestens einem Bewohner dieser Insel war die Zeit der Geister wieder erwacht.
Tristan schluckte seinen Ekel hinunter. Wer immer das getan hatte, musste gefunden und bestraft werden.
»Dreht den Ordinarius um«, befahl er zwei seiner Polizisten. Löblichs fahles Gesicht drückte nichts mehr aus von dem Glück, das er in den paar Wochen auf Samoa gefunden hatte, aber auch nichts von dem Schmerz der letzten Sekunden. Ein riesiger, vom Sand verklebter Blutfleck prangte auf dem weißen Nachtgewand, und die linke Hand war zur Faust geballt.
»Er scheint etwas in der Hand zu haben«, stellte Tristan fest, nachdem er sich neben die Leiche gekniet hatte. »Seht nach, was es ist.«
Die beiden Polizisten sahen einander an, unentschlossen, wer von ihnen den Befehl ausführen sollte. Schließlich überwand sich einer und versuchte, die Faust zu öffnen, doch die Finger waren steif geworden und bewahrten ihr Geheimnis.
»Du musst die Finger einzeln öffnen«, sagte Tristan. Der Polizist scheute davor jedoch zurück, und so ergriff Tristan selbst die Leichenhand und öffnete einen Finger nach dem anderen, was einige Mühe kostete und die Polizisten veranlasste wegzusehen.
Schließlich kullerte ein Kerzenstummel hervor. Tristan betrachtete ihn wie ein Schmuckstück. Der Docht war ins Wachs gedrückt, merkwürdigerweise aber nicht von Sandkörnern umgeben, und Löblichs Handfläche war unversehrt. Die Kerze war also weder durch Herunterfallen noch durch die Hand des Geistlichen gelöscht worden.
»Mein Gott«, flüsterte Tristan und erhob sich langsam. »Lass das nicht wahr sein. Ich bitte dich.«
In den folgenden Tagen ging Tristan einem Gespräch mit Tupu aus dem Weg. Niemandem vertraute er sich an, schon gar nicht Tuila. Wie in den Tagen, als er von ihr getrennt gewesen war, blieb er abends lange in der Station und arbeitete, wie er behauptete, an der Aufklärung der drei Morde. Doch das war nur Schein. Er kannte die Wahrheit schon, denn er hielt den Zufall für unwahrscheinlich, dass Löblich eine auf einem Körper ausgedrückte Kerze in der Hand gehalten hatte und gleichzeitig Tupu eine frische, kreisrunde Brandwunde auf der Brust aufwies, die nichts mit dem Verbrechen zu tun haben sollte. Tristan hatte die Wunde bei dem kurzen Gespräch mit ihm am Sonntag gesehen, sich aber nichts dabei gedacht. Erst die Kerze stellte den Zusammenhang her.
Dennoch behielt er dieses Wissen für sich. Wenn Tuila ihn auf das Verbrechen ansprach, antwortete er ausweichend, man werde den oder die Täter schon früher oder später ergreifen, sie kämen nicht ungeschoren davon, und er wisse, dass die meisten Samoaner friedliche Menschen seien, die die Morde missbilligten. Tuila war weit entfernt von jedem Verdacht gegen ihren Bruder. Wie hätte es auch anders sein können? Sie wusste nichts von Tupus Anschlag auf das Picknick und seiner Zugehörigkeit zu den Mau. Er war das Familienoberhaupt der Valaisis und als solches ein wenig faul, doch das traf auch auf andere Oberhäupter zu. Auch fiel ihr nicht auf, dass Tupu der Einzige aus ihrem Umfeld war, der sich nicht zu den Morden äußerte. Jeder andere, sogar Ivana, sprach darüber, wobei sie eine der wenigen war, die die Brutalität des Verbrechens zwar verurteilten, aber die Folgen guthießen.
»Nun werden vielleicht weniger Missionare kommen, die uns wie dumme Kinder behandeln«, keifte sie. »Fort mit ihnen. Wir wissen selbst am besten, was gut für uns ist.«
»Und was ist gut für uns?«, wollte Tuila wissen. »Die lähmende Angst vor den Nachtgeistern? Die ewigen Stammeskriege früherer Tage? Die Weißen sind nicht besser als wir, auch wenn sie es glauben. Aber sie sind auch nicht schlechter, und wenn wir klug sind, übernehmen wir die Dinge, die gut an ihnen sind, und lassen die schlechten Dinge außer Acht.«
»So redest du nur, weil dein Mann zu ihnen gehört.«
»So übel kann mein Mann es nicht mit dir meinen, oder? Immerhin hat er dir und Moana das Leben gerettet.«
Ivana drehte sich um und ging.
Tristan bekam von Tuila jedes Wort des kurzen Disputs erzählt.
»Es passt ihr nicht, dass du sie gerettet hast«, schloss sie. »Oder genauer gesagt: dass du sie gerettet hast. Eigentlich kann sie dich nicht ausstehen, andererseits muss sie dir dankbar sein. Das macht sie fertig.«
»Die Frage ist«, meinte Tristan, »welches ihrer Gefühle am Ende siegen wird.«
Für den Fall, dass er Tupu verhaften ließ, war diese Frage Ivana betreffend schon entschieden. Aber wie – und das war für Tristan die weit entscheidendere Frage – würde Tuila darauf reagieren? Sie liebte Tupu, obwohl sie in den letzten Monaten nicht immer gut mit ihm ausgekommen war. Er war ihr Bruder, ein Mensch, mit dem sie als Kind gespielt hatte und später erwachsen geworden war, an den sie sich anlehnte, mit dem sie sich neckte und der ganz einfach zu ihr gehörte wie ihr linker Arm.
Genau das ließ Tristan zögern. Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, Tupu zu verhaften und ihm den Prozess machen zu lassen. Ja, es war geradezu seine Pflicht als Offizier, der begangene Verbrechen ohne Rücksicht auf die Person aufklären und weitere verhindern musste, und auch als Freund des alten Ordinarius, dem er seine Ehe verdankte. Jeder Rest von Verständnis oder Sympathie für den jungen Samoaner war gewichen. Tupu war ein Mörder, der höchstwahrscheinlich weitere Morde begehen würde, und an denen würde Tristan sich mitschuldig machen, wenn er nichts unternähme.
Doch er hatte Angst. Angst um Tuila und um sich selbst. Angst vor dem, was Tupus Untergang bewirken könnte.
So schob er es auf, seinen Schwager zu vernehmen, denn er redete sich ein, er müsse geschickt vorgehen und Tuila und die anderen auf eine Verhaftung Tupus vorbereiten. Als er an Löblichs Grab stand, schwor er dem Toten, er werde dessen Mörder seiner Strafe zuführen, und als er am Abend mit Tuila auf der Veranda saß, ihre Haut spürte und ihre schwarzen Augen im Licht der Öllampe glücklich glitzern sah, brachte er es nicht fertig, mit ihr über Tupu zu sprechen. Er wartete einen Tag, zwei Tage, drei Tage, vier Tage, fünf Tage, sechs Tage, und am siebten Tag war er nicht weiter als am ersten.
Die Einzige, die etwas zu ahnen schien, war Vaonila, Tupus und Tuilas Mutter. Da sie damals Tamaseu, den verletzten Polizisten, aufopferungsvoll gepflegt hatte, hielten dessen Kameraden dankbaren Kontakt zu ihr, und vermutlich hatten sie auch von der Kerze erzählt. Eines Mittags kam sie zu ihm in die Polizeistation, angeblich, weil sie zufällig in der Nähe war. Allerdings vermutete Tristan gleich, dass mehr hinter diesem Besuch steckte. Vaonila war in den Tagen zuvor häufiger als sonst in seinen »Palast« an der Palauli Bay gekommen, ohne ihn jedoch anzutreffen. Sie war von einer Aura unterschwelliger Nervosität umgeben und sah aus, als trüge sie eine Last mit sich herum, die Last einer schlimmen Vorahnung. Er ging mit ihr auf den Steg, wo das Polizeiboot lag und sie unter sich waren. Nach einer Weile, in der sie über belanglose Dinge sprachen, fragte sie: »Weißt du schon Näheres über die Morde?«
Die Hände in den Hosentaschen, antwortete er: »Ich – bin auf einer Spur.«
Sie schluckte. »Man spricht von einer Kerze, mit der der Mörder gebrandmarkt wurde.« Und indem sie ihren Blick mit Tristans verschmolz, fügte sie hinzu: »Man spricht von der Tat eines Wahnsinnigen.«
»Ich weiß nicht, ob er wahnsinnig ist, Vaonila. Vielleicht ist jeder Mörder wahnsinnig.«
Tränen traten in ihre Augen. »Was geschieht, wenn man ihn fasst?«
Tristan atmete tief durch und blickte auf seine Stiefelspitzen. »Es besteht keine Hoffnung, dass man einen solchen Mann mit Arbeitslager oder dergleichen bestraft.«
»Das heißt?«
»Das heißt: Tod.«
Er spürte, wie sie sich zusammennahm, um nicht umzuknicken wie ein Halm im Sturm. »Wenn ich die Mutter eines Mörders wäre«, sagte sie, »würde ich mit ihm reden und ihn dazu bringen, dass er seine Verbrechen irgendwie wieder gutmacht. Wem ist geholfen, wenn er umgebracht wird? Soll er doch seine Untaten auf eine andere, heilsamere Art büßen. Ich würde auf ein mildes, günstiges Schicksal hoffen.«
»Darauf würde ich an deiner Stelle – an der Stelle der besagten Mutter, meine ich – auch hoffen. Aber ich bin keine Mutter. Ich muss andere Menschen beschützen.«
»Also wirst du deine Pflicht tun?«
»Es gibt mehr als nur eine einzige Pflicht in diesem Fall, und es stellt sich die Frage, welche ich erfüllen soll.«
»Du zögerst?«
Er nickte. Vaonila war auf der richtigen Spur und hatte die Wahrheit über Tupu erahnt. Doch von der Hochzeit konnte sie nichts wissen und auch davon nicht, dass Tristans Zukunft auf dem Spiel stand, wenn Tupu sein Geheimnis über die heimliche Ehe preisgab. Am liebsten hätte er sie gefragt, was sie an seiner Stelle täte. Vaonila auf seiner Seite zu haben, würde ihm manches leichter machen. Doch eine solche Überlegung war schlichtweg unmöglich. Er konnte nicht verlangen, dass eine Mutter ihren eigenen Sohn auslieferte, und sei es nur in einem Gespräch.
»Ich danke dir«, sagte sie zum Abschied und legte ihre Hand auf seine.
Am achten Tag nach den Morden erschien, ohne Vorankündigung, Oberst Rassnitz auf Savaii. Natürlich hatte Tristan gleich nach der Tat einen Bericht nach Apia geschickt, der dort, wie nicht anders zu erwarten war, für erhebliche Unruhe sorgte. Zum ersten Mal seit vielen Jahren waren Deutsche in Samoa von – vermutlich – Einheimischen getötet worden, und der Gouverneur sowie Oberst Rassnitz wünschten, laufend über den Stand der Ermittlungen unterrichtet zu werden. Zu Löblichs und der Nonnen Beerdigung waren jedoch außer Tristan keine hochgestellten Persönlichkeiten erschienen, nur ein paar Siedler und alle Dorfbewohner von Pataivai. Den meisten Deutschen war Ordinarius Löblich entweder zu anrüchig gewesen oder zu unorthodox in seinem Verhalten, und mehr als eine förmliche Beileidsbekundung an die Diözese abzuschicken brachten sie nicht zustande.
»Herr Leutnant«, begann Rassnitz mit leicht gerötetem Kopf. »Was unternehmen Sie eigentlich gegen die Rebellen? Zuerst ein Überfall mit Blutbeuteln auf die Gouverneursgattin nebst totem Polizisten, jetzt drei ermordete Geistliche. Schlafen Sie hier nur, oder wie?«
»Diese Überfälle hätten genauso gut auf Upolu passieren können, Herr O…«
»Ich bin noch nicht fertig«, schnitt ihm Rassnitz das Wort ab. »Wir haben es mit Zügen eines Aufstands zu tun, ist Ihnen das eigentlich klar? Mit herkömmlichen polizeilichen Ermittlungen kommen wir nicht weiter.«
»Darf ich sprechen, Herr Oberst?«
»Jetzt dürfen Sie.«
»Ich habe eine Belohnung für Hinweise auf den oder die Täter ausgesetzt. Wir haben alle Leute von Pataivai, die am nächsten am Geschehen waren, einzeln befragt. Und wir …«
»Haben Sie jemanden in Haft genommen?«
»Wie ich bereits sagte, gibt es vom Täter derzeit noch keine Spur.«
»Das war nicht die Frage. Ob Sie irgendjemanden in Haft genommen haben, will ich wissen.«
»Ich verstehe nicht, Herr Oberst. Wieso sollte ich irgendjemanden …«
»Um Druck auszuüben selbstverständlich. Herrgott, Sie kapieren wohl gar nichts! In Deutsch-Südwestafrika haben wir während des Herero-Aufstandes ganze Dörfer arretiert und Einzelne erschossen, wenn sie uns nicht mit Informationen weiterhelfen wollten.«
»Unschuldige?«, staunte Tristan. »Sie haben unbeteiligte Menschen erschossen, nur um die Rebellen …«
»Im Krieg gibt es keine Unschuldigen und Unbeteiligten, Leutnant.«
»Ich bezweifle, dass wir Krieg haben, Herr Oberst. Wie viele Mau gibt es wohl in ganz Samoa? Dreißig? Vierzig? Hier leben mehr als hunderttausend Einheimische.«
»Sie sind zu weich«, sagte Rassnitz mit blitzenden Augen. »Ich habe das mehrmals dem Gouverneur gesagt, aber bei dem hatten Sie bisher einen Stein im Brett, warum auch immer. Seit Ihrem schändlichen Verhalten gegenüber Fräulein Hanssen hat sich das zum Glück geändert. Ihr Betragen in dieser Sache war ausgesprochen unehrenhaft und …«
»Ich versichere Ihnen, Herr Oberst, dass Fräulein Hanssens Behauptungen …«
»Was fällt Ihnen ein, mich zu unterbrechen?«, schrie Rassnitz. »Nehmen Sie Haltung an, Leutnant.«
Tristan stand augenblicklich gerade wie ein Pfahl, so wie es ihm in den Jahren seiner Militärlaufbahn eingetrichtert worden war.
»Sie«, fuhr Rassnitz leiser, aber wutschnaubend fort, »haben keinerlei Anstand, keine Ehre. Ihr Bruder würde sich in seinem Grab in Südwestafrika umdrehen, wenn er mit ansehen könnte, wie Sie sich in dieser deutschen Kolonie aufführen. Er hat für das Reich gekämpft, tapfer und glorreich, und nun besudeln Sie seinen guten Namen. Ihr Betragen gegen Fräulein Hanssen ist eine private Angelegenheit, dagegen kann ich leider nichts tun, auch wenn Sie sich damit in der ganzen Kolonie unmöglich gemacht haben. Aber wie Sie Ihre Arbeit verrichten, das fällt sehr wohl in meine Zuständigkeit, und ich befehle Ihnen daher, Leutnant, mir den oder die Täter des Mordes an Ordinarius Löblich und den Nonnen innerhalb von drei Tagen zu bringen, ansonsten übernehme ich höchstpersönlich die Ermittlungen, und dann werden auf Savaii andere Saiten aufgezogen. Ich verspreche Ihnen, ich kriege die Rebellen, und dann wird Ihr Versagen Eingang in die Dienstakte finden. Ich mache Sie in der ganzen Kaiserlichen Armee lächerlich. Was wird wohl Ihre Familie dazu sagen? Drei Tage, keine Stunde länger! Ich denke, ich habe mich klar ausgedrückt, Herr Leutnant von Arnsberg!«
Klar genug, um zu erkennen, dass er etwas tun musste, wenn er ein Blutbad auf Savaii verhindern wollte.
Also tat er etwas.
Tristan wartete einen Moment ab, in dem Tuila und Ivana zum Meer gegangen waren, um Muscheln und Krebse für das Abendessen zu sammeln. Ohne um Einlass zu bitten, betrat er Tupus Wohnung. Sie war weitaus schlichter eingerichtet als seine und Tuilas, trotzdem sauber gekehrt und gepflegt. Ivana war eine fleißige Arbeiterin, und doch merkte er an Kleinigkeiten in den Zimmern, dass nicht Tuilas Hand hier wirkte. Die Blumen fehlten, die Schalen von Mangos, Noni-Früchten und Papayas, jene intime Atmosphäre, die die Räume mit liebevoller Wärme füllte. Tupu döste auf einer Matte am Boden, die eine Hand hinter dem Kopf verschränkt, so dass seine Adern sich wie Astholz unter der Haut abzeichneten. Tristan wurde erneut bewusst, wie kräftig Tupu war, und er war froh, seinen Degen an der Uniform zu tragen.
In einem gepolsterten Korb quengelte Moana leise vor sich hin. Tristan trat vorsichtig neben sie und betrachtete das kleine, runde Gesicht, aus dem die großen Pupillen der Valaisis leuchteten. Würde sein eigenes Kind dieselben Augen haben? Er wünschte es sich. Er wünschte, dass es so ähnlich sein würde wie dieses Mädchen, dass es mit Moana spielen würde, dass sie die besten Freunde würden.
Doch er hatte wenig Hoffnung.
Er fand es unheimlich, dass Säuglinge und kleine Kinder später keine Erinnerungen an ihre ersten Lebensjahre hatten, und dass es demzufolge ganz egal war, was er diesem Mädchen nun sagen würde, denn sie würde es ohnehin nie wirklich hören. Dennoch griff er ihr fuchtelndes Händchen und flüsterte: »Es tut mir Leid, meine Kleine.«
»Was tut dir Leid?«, fragte Tupu, der erwacht war.
Tristan lächelte die Kleine ein letztes Mal an, bevor er sich seinem Schwager zuwandte.
»Dass kleine Menschen wie deine Tochter am meisten unter dem leiden müssen, was wir Großen anrichten. Das ist ungerecht, und ich würde Moana gerne ersparen, was ich ihr antun muss, aber es geht nicht. Du hast den Ordinarius und die Nonnen ermordet, Tupu, und ich bin derjenige, der dich dafür zu strafen hat. Ich muss deiner kleinen Tochter den Vater nehmen.«
Tupu stand auf und straffte seinen Körper. »Die Brandwunde hat mich verraten, wie?«, seufzte er. »Ich wollte nicht, dass es so weit kommt. Die Toten, meine ich. Es war ein dummer Zufall.«
»Dummer Zufall«, wiederholte Tristan tonlos.
»Ja, ein Unglück sozusagen. Wenn der alte Mann mich nicht entdeckt hätte, wäre bloß seine Hütte abgebrannt. Die hätten sie doch innerhalb eines Mondes wieder aufgebaut. Aber er musste unbedingt herumschnüffeln.«
»Unglück«, sagte Tristan.
»So ist es.«
»Dummer Zufall.«
»Genau.«
»Es ist ein dummer Zufall, dass du ihm ein Messer in den Leib gerammt hast?«
»Nachdem er mein Gesicht gesehen hatte, war es unmöglich, ihn leben zu lassen. Das siehst du doch ein.«
»Ein dummer Zufall, dass du eine Frau niedergestochen hast?«
»Sie hörte seinen Schrei und kam hinzu. Dafür kann ich nichts.«
»Ein dummer Zufall, dass du eine zweite Frau offenbar eine Meile weit gejagt hast und …«
»Sie lief weg.«
»… und mit vierzehn Messerstichen getötet hast.«
»Ich werde es nie wieder tun, das verspreche ich.«
»Sie haben niemandem etwas getan.«
»Sie haben mich gesehen.«
»Sie haben niemandem etwas getan, keinem ein Leid zugefügt. Gesungen haben sie, mit Kindern getanzt, ihnen Buchstaben beigebracht.«
»Buchstaben, die schlecht für mein Volk sind, die uns kaputtmachen, die unsere Götter verscheuchen. Überall sind die Weißen und bauen ihre Häuser.«
»Du selbst bist freiwillig in eines dieser Häuser eingezogen.«
»Weil du einer von uns bist, Tristan. Dein Herz schlägt für Samoa, deine Augen blicken voller Liebe auf unsere Berge, auf unser Wasser, in unseren Himmel … Du gehörst nicht zu denen. Du verachtest sie, ihre falschen Frauen, ihre Überheblichkeit und ihre Gleichgültigkeit gegen das Schöne in unserem Land. Du verstehst uns. Ich und du, wir sind Brüder, verbunden durch die Kraft der Erde, auf der wir stehen – und durch Tuila.«
Diesen Namen aus Tupus Mund zu hören hatte Tristan beinahe gefürchtet.
»Ich bin mit dem Bruder meiner Frau verbunden«, gab er zu. »Aber niemals mit einem Mörder. Du kannst mich nicht zu deinem Komplizen machen, Tupu.«
Tupu nahm seine Tochter auf den Arm und lief mit ihr langsam auf und ab, wobei er immerzu nur sie ansah, obwohl er zu Tristan sprach.
»Du meinst, wir sind keine Komplizen? Wir sind es schon längst, Tristan, du hast es nur nicht bemerkt. Ist dir nicht klar, dass ich dir einen Gefallen getan hätte, wenn die Hütte des Missionars abgebrannt wäre, wie ich es vorhatte? Dann wäre der Eintrag über deine und Tuilas Heirat in Rauch aufgegangen, der einzige schriftliche Beweis, den sie haben – daran erkennst du übrigens, wie schädlich Buchstaben sein können! Aber so … Die Hütte steht noch, und wer weiß, in welche Hände das Buch mit den Einträgen nun fällt. Noch ist es Zeit, um den Brand zu legen. Ich bin gerne bereit …«
»Das Register habe ich bereits in Verwahrung«, fiel ihm Tristan ins Wort. »Und auf deine Behauptungen wird niemand hören, sollte es dir einfallen, deine eigene Schwester zu verraten.«
»Du würdest also deine Ehe verleugnen?«
»Wenn ich dadurch meine Frau und mein Kind vor Schaden bewahre: ja.«
Tupu grinste: »Siehst du, zu einem Lügner habe ich dich schon gemacht. Von da bis zum nächsten Schritt ist es gar nicht mehr so weit.«
Überrascht von Tupus frecher Parade, verschlug es Tristan für einen Moment die Sprache.
»Ich verlange nicht, dass du mich aktiv unterstützt«, sagte Tupu, während er weiterhin die kleine Moana im Arm wiegte und mit einem Finger liebkoste. »Wir gehen einen Handel ein. Ich verspreche dir, dass ich keinem Menschen mehr etwas zuleide tue, nur ein paar Scheunen und Gatter vielleicht, und dafür verhältst du dich weiterhin brüderlich. Damit wäre jedem von uns geholfen – vor allem Tuila und meiner Mutter. Was würden sie sich grämen, wenn mir etwas zustieße, erst recht, wenn du daran schuld wärst. Das wollen wir doch nicht, oder?«
Seine Familie ist sein letzter Trumpf, dachte Tristan, und er spielt ihn gnadenlos gegen mich aus.
»Denkst du tatsächlich, ich würde einen mehrfachen Mörder einfach so davonkommen lassen, nur um seiner Familie Kummer zu ersparen?«
»Natürlich«, sagte Tupu und setzte ein überlegenes Lächeln auf. »Es wäre ja nicht das erste Mal. Denk nur daran, wie du mich gedeckt hast, damals, nach meinem Überfall auf das Picknick. Das war ein netter Zug von dir, wirklich. Sehr brüderlich. Natürlich würden das deine Vorgesetzten ganz anders sehen. Verrat nennt man dieses Verhalten bei euch, glaube ich, und es wird bestimmt übel bestraft. Aber das ist ja bloß dummes Geschwätz, was ich so daherrede. Jetzt, wo wir uns einig sind, wird niemand von meinen oder von deinen Vergehen erfahren.«
In aller Seelenruhe schlenderte Tupu, das Kind schaukelnd, hinaus auf die Veranda.
Dieser Teufel, dachte Tristan und umklammerte den Knauf des Degens. Einmal zustoßen – und alle Probleme wären gelöst. Er könnte behaupten, Tupu sei auf ihn losgegangen, und niemand würde es ihm ernstlich verübeln, dass er sich gewehrt habe. Oberst Rassnitz bekäme seinen Mörder, Tristan bekäme ewiges Schweigen, und schon bald wäre Tupu nur noch eine schlimme Erinnerung. Friede würde sich über den Palast an der Palauli Bay legen.
So weit hat er mich schon gebracht, dachte Tristan, dass ich anfange zu denken wie er, wie ein Verbrecher.
Doch er wehrte sich dagegen. So wenig, wie er die Morde unbestraft lassen konnte, weil ihm die Toten sonst bis ans Lebensende im Traum begegnet wären, so wenig konnte er Tupu einfach feige niederstrecken. Tristan eignete sich weder zum Mörder noch zum Mitwisser eines Mörders. Wie schon bei den Intrigen Claras und der Gouverneursgattin hatte er sich ein weiteres Mal in einem Netz verfangen, aus dem er nur herausfinden würde, indem er es rigoros zerschnitt.
Der Kuckuck schoss ein einziges Mal aus seiner Höhle hervor, bevor er wieder verstummte und in dem bunt bemalten Holzkasten an der Wand verschwand. Das unerträgliche Ticken der Uhr, so leise es auch war, erfüllte die Stille, und Tristan verfolgte von seinem Stuhl aus den Weg der Rauchwolken, die von der Zigarre des Gouverneurs ausgingen.
Dr. Schultz stand am Fenster und sah auf den akkuraten Rasen hinunter, über den der Passat strich. Seit Tristan begonnen hatte zu erzählen, schwieg er, und seit Tristan damit fertig war, stand er an diesem Platz und kehrte ihm den makellos weißen Rücken seines Jacketts zu.
Schließlich ging er zu seinem Schreibtisch zurück und legte die Zigarre, ganz so, als sei sie ihm zu bitter geworden, auf den steinernen Aschenbecher, wo sie weiter vor sich hin qualmte. Er lehnte sich zurück und blickte Tristan zum ersten Mal seit Minuten wieder an, aber nur, um gleich darauf die Hände über das Gesicht zu legen.
»Arnsberg«, sagte er nur. »Arnsberg.«
»Exzellenz«, erwiderte Tristan, ratlos, was er noch sagen sollte.
»Ist Ihnen eigentlich klar, in welche Lage Sie mich da gebracht haben?«
»Exzellenz, mir ist noch nicht einmal völlig klar, in welche Lage ich mich selbst gebracht habe. Eins kam zum anderen, verstehen Sie? Anfangs gab es nur einen verletzten Polizisten und ein paar schmutzige Kleider, und ich glaubte den Versprechen dieses jungen Mannes, der – wie man gerechterweise sagen muss – durch Oberst Rassnitz unnötig gedemütigt wurde. Ein kleiner Racheakt, sagte ich mir, aus dem mehr wurde als ursprünglich beabsichtigt. Ich gab mein Wort, nichts zu verraten, um einem Menschen nicht sein ganzes Leben zu vernichten. Doch dann starb der Polizist überraschend, und ich hatte mich gegenüber einem Mörder verpf lichtet.«
»Das wäre der Punkt gewesen, an dem Sie zu mir hätten kommen sollen. Mein Gott, Arnsberg, ausgerechnet heute.«
Erneut breitete er die Hände über das Gesicht, bevor er fortfuhr: »Sie haben gesehen, dass die ›Scharnhorst‹ in der Lagune vor Anker liegt? Nun, in Kaiser-Wilhelm-Land, von wo die ›Scharnhorst‹ gerade kommt, war ein Telegramm für Sie hinterlegt, ein Telegramm Ihrer Mutter. Ich habe es hier, bitte sehr. Es war nicht verschlossen, daher habe ich es gelesen. Ihr Vater, Arnsberg, hatte einen leichten Schlaganfall. Es geht ihm schlecht, man muss das Schlimmste befürchten. Ich will erst gar nicht darüber spekulieren, welchen Anteil an seinem Zustand die unselige Affäre um Fräulein Hanssen trägt, die ihm sicher zu Ohren gekommen ist. Was Sie sich da geleistet haben! Wenn ich mich schon darüber aufgeregt habe, wie muss dann erst der Graf … »
Der Gouverneur schüttelte den Kopf. »Lassen wir das jetzt. Tatsache ist, dass er schwer genug an seiner schlechten Gesundheit trägt, aber wenn er hiervon hört …«
Tristan erbleichte.
»Gott, Arnsberg, Sie haben gegen das Gesetz zum Verbot der Mischehe verstoßen, dafür wird man Sie unehrenhaft aus der Armee entlassen. Und Sie haben außerdem die Bestrafung eines Mörders verhindert, oder sagen wir, hinausgezögert. Jedes Militärgericht wird dafür einen Arrest von wenigstens zwei Jahren verhängen. Das ist eine unerhörte Schande für Ihre ganze Familie und mit großer Wahrscheinlichkeit der Todesstoß für Ihren Vater. Er würde es vielleicht ertragen, wenn Sie in einem Kampf fallen, aber dies hier bringt ihn um, Arnsberg. Das bringt ihn um.«
Tristans Vater lag im Sterben, seine Mutter machte vermutlich die schwersten Stunden ihres Lebens durch. Und er, er drohte alles zu verlieren, was er hatte – und was er sich wünschte. Man würde ihn vor ein Gericht stellen, irgendwo im Reich einsperren und danach den Aufenthalt in Samoa verweigern. Ihm war, als zöge jemand den Boden unter seinen Füßen weg.
»Sie haben nur eine einzige Möglichkeit, diese Katastrophe zu verhindern, Arnsberg.«
Tristan blickte auf. Es gab also noch Hoffnung.
Der Gouverneur entzündete erneut die Zigarre und nebelte seinen Kopf mit dickem blaugrauem Qualm ein. Nach vier oder fünf Zügen beugte er sich nach vorn über den Schreibtisch und sagte in einem vertrauten, halblauten Ton: »Annullieren Sie sofort Ihre Ehe mit dieser Samoanerin. Ich kann das arrangieren, schnell und formlos. Und verschwiegen, selbstverständlich. Die Diözesen fressen mir aus der Hand, weil ich ihnen hier viele Freiheiten bei der Missionierung gewähre. Dauert nur drei oder vier Wochen, das Ganze. Die ›Scharnhorst‹ hat die letzten benötigten Teile für unsere lang ersehnte Telegraphenstation mitgebracht. In Kürze weihen wir die Station ein, schicken ein Telegramm an irgendeinen Bischof, und schon … In Fällen wie diesem sind die besonders großzügig. Damit wäre zumindest der Verstoß gegen die Mischehe unter den Teppich gekehrt.«
Er lehnte sich zurück und sog an dem Stumpen. »Was die andere Sache angeht: Ich bin bereit, auch das in Ihrem Sinne zu klären. Nicht aus Nächstenliebe, da möchte ich Ihnen nichts vormachen, Arnsberg. Durch Ihr übertrieben rücksichtsvolles Verhalten haben Sie die Morde an den drei Geistlichen begünstigt. Unfreiwillig natürlich, dennoch … Allerdings fällt Ihr Verhalten auf die gesamte Kolonie zurück, wenn es bekannt wird. Man wird Rassnitz und mir peinliche Fragen stellen, und das will ich nicht. Wenn ich einmal die Kolonie verlasse und in die Heimat zurückkehre, soll mir niemand einen gravierenden Fehler in meiner Amtsführung nachsagen, und sei es nur, dass ich einem dummen, unerfahrenen, weichherzigen Leutnant zu viel Verantwortung übertragen habe.«
Er atmete tief durch und blitzte Tristan aus seinen durch die Brille vergrößerten Augen an. »Zur Sache also: Sie werden diesen Aufrührer, diesen Tupu, gleich morgen früh ohne viel Aufsehen verhaften und auf Savaii vor ein Standgericht stellen, das Sie selbst leiten. Nehmen Sie sich zwei Polizisten als Beisitzer, damit auch Samoaner an der Verurteilung beteiligt sind. Halten Sie sich jedoch nicht lange mit dem Prozess auf, höchstens eine Stunde. Und dann lassen Sie den Schuldigen von der Fita-Fita exekutieren – unter Ihrem persönlichen Kommando selbstverständlich. Sie haben Courage bewiesen, als Sie mir offen Ihre Fehler eingestanden haben. Zeigen Sie nun, dass Sie auch bereit sind, die Scharte auszuwetzen. Zeigen Sie, dass Sie es verdienen, ein Arnsberg zu sein.«
Gouverneur Schultz drückte den dicken, braunen Stumpen unnötig heftig im Aschenbecher aus.
»Unter diesen Umständen, Leutnant, und zwar nur unter diesen Umständen, bin ich in der Lage zu vergessen, was vorgefallen ist. Guten Tag.«
An diesem Abend empfing ihn Tuila mit besonderer Liebe und Herzlichkeit. Zum ersten Mal hatte sie das Kind in ihrem Bauch gespürt, wenn auch nur schwach, und das wollte sie feiern. Sie hatte Tristans samoanisches Lieblingsgericht zubereitet, Papageifisch mit Limetten und geschmorten Brotfrüchten, und lud auch Tupu und Ivana dazu ein.
Gemeinsam saßen sie auf der kühlen Veranda, umgeben von frischen grünen Kokosnüssen. Windstöße fegten durch das Haus und bliesen die Lampen aus, doch der Mond schien mit unvergleichlicher Helligkeit auf sie herab. Aus Zweigen der Bougainvillea hatte Tuila vier Kränze geflochten, die ihren Kopfschmuck bildeten und jedesmal, wenn sie davonflogen, für Gelächter sorgten.
Einzig Tristan war in diesen Stunden schweigsam. Er versuchte, Tupus Blick auszuweichen, aber wenn er ihn doch einmal streifte, wurde er von den widersprüchlichsten Gefühlen durchströmt. Er saß mit einem Mann beim geselligen Abendessen, den er morgen erschießen sollte, saß neben dessen ahnungsloser Frau und der Schwester. Andererseits stachelte ihn der triumphale Glanz, diese demonstrierte Selbstsicherheit eines Erpressers, auf, und er freute sich beinahe darauf, Tupus Gesicht im Augenblick der Verhaftung zu sehen.
Die Gelöstheit des Zusammenseins machte ihn wütend. Er verzieh ihnen ihr Lachen nicht, obwohl er wusste, dass es für sie keinen Grund gab, nicht zu lachen. Es ging ihnen gut. Es ging ihnen auch dank ihm so gut. Er hatte stets Rücksicht genommen. Rücksicht auf Tupus Leben, auf Tuilas Gefühle, auf die Gebräuche Samoas. Allen hatte er immer alles verziehen: Tuila die hierarchische Unterordnung unter ihren Bruder, die ihn erst in Tupus Abhängigkeit gebracht hatte; Ivana die grundlosen Unverschämtheiten, die sie sich herausnahm, obwohl er ihr geholfen hatte; Tupu seinen verletzten Stolz, der sich aberwitzig gesteigert hatte. Jeder hier schien es für selbstverständlich zu halten, dass er sich ihnen anpasste, aber niemand passte sich seinen Zwängen an. Sie hielten zueinander. Unausgesprochen bestand zwischen ihnen ein Band, das ihn nicht einschloss. Gemeinsame Herkunft und alte Traditionen machten ihn zu einem Außenseiter, mochte er dieses Land auch noch so sehr lieben, mochte er auch der Ehemann, Schwiegersohn und Schwager sein.
Zu den anderen gehörte er jedoch auch nicht, zu den Hanssens und Hufnagels und den Offizieren vom Schlage eines Rassnitz. Irgendwie, so glaubte er mittlerweile, gehörte er zu niemandem.
Nachdem Tupu und Ivana gegangen waren, saß er noch mit Tuila auf den Matten und hörte in das Rauschen des Waldes, das wie ein schwerer Regenschauer über der Insel lag. Tristan streichelte ihren Bauch und legte sein Ohr darauf. Er lächelte.
Doch dann erstarb dieses Lächeln. »Angenommen«, sagte er, ohne das geplant zu haben, »ich müsste für zwei Jahre fort, vielleicht noch mehr, und das schon bald.«
»Fort?«, fragte sie erschreckt. »Wohin? Und warum?«
Er zögerte noch, ihr die Wahrheit zu sagen, und wich aus. »Mein Vater … Es geht ihm sehr schlecht.«
»Ich komme mit dir«, sagte sie sofort.
Er seufzte. »Ich weiß, Vögelchen, du würdest mir ohne Bedenken folgen, wohin ich auch ginge. Aber du musst auch an dich denken.«
»Ebendeshalb will ich ja bei dir bleiben. Weil es gut für mich ist.«
»Das glaubst du jetzt, in diesem Augenblick, auf der Veranda mit Blick zur Bucht, zwischen allem, was du kennst und liebst. Im Reich würde deine Euphorie schnell verfliegen.«
»Nein«, sagte sie trotzig. »Niemals.«
Er wusste es besser. Das Schloss war zehnmal so groß wie dieses Haus, ringsherum Felder und baumlose Wiesen, die im Frühling und Herbst von Nebel bedeckt und im Winter gefroren waren, so dass das Eis unter den Schuhen knirschte. Tuila würde die Wärme vermissen, den lauen Regen, das Rauschen des Tropenwaldes, alles das, was sie jetzt gerade um sich hatte. Doch das wäre noch nicht das Schlimmste. Die Menschen würden sie nicht gut behandeln. Hier auf Samoa mussten sich die Deutschen wenigstens einigermaßen zusammenreißen, weil der Gouverneur es so wollte und sie eine winzige Minderheit waren. Aber dort wäre Tuila die Minderheit, und das ließen sie sie gewiss stärker spüren, als sie sich vorstellen konnte. Die Gräfin, weniger voreingenommen als andere, würde es gut meinen und Tuila in die Gesellschaft einführen. Zischeln würden die Leute über eine Braunhäutige, nichts würde Tuila ihnen recht machen können. Sie durfte dort nicht sagen, was sie wollte, nicht anziehen, was sie wollte, nicht ausziehen, was sie wollte. Die Augen der Menschen würden ihren Stolz verletzen, die bösen Zungen sie beleidigen, die Hände sie nicht anfassen, so als hätte sie eine ansteckende Krankheit. Schon bald würde sie sich im Schloss und in ihrem Zimmer verkriechen. Sie würde verkümmern wie eine sonnenverwöhnte Orchidee, die man in der Kälte ausgesetzt hatte.
Und er würde ihr nicht helfen können. Nicht von seiner Arrestzelle aus. Das durfte nicht passieren.
»Es steht noch nichts fest«, beschwichtigte er ihre Aufregung und umfasste ihren Körper.
Einiges stand sehr wohl fest. Seine Ehe zum Beispiel. Er konnte nicht mehr ohne Tuila leben, und vor allem, er sah auch keine Notwendigkeit dazu. Wie Dr. Schultz selbst gesagt hatte, würde ihn der Verstoß gegen die Mischehe sein Offizierspatent kosten, dem er leicht zuvorkommen konnte, indem er von sich aus den Dienst quittierte. Das würde dem Grafen nicht gefallen, wäre aber allemal besser als eine unehrenhafte Entlassung. Bliebe also nur noch das Problem mit Tupu.
Tristan verbrachte eine schlaflose Nacht. In breiten Bahnen fiel das Mondlicht bis ans Fußende des Bettes, und ein Vogel ließ unaufhörlich seinen heiser krächzenden Ruf ertönen.
Zwei Jahre, überlegte er, vielleicht drei fort von Tuila, das war eine lange Zeit, jedoch keine Ewigkeit. Er wäre zurück, bevor sein Kind die Umwelt richtig wahrnehmen konnte. Frei von allen Nöten und Zwängen würde er ein Leben mit Tuila beginnen können, wenn nicht hier, so auf den britischen Fiji-Inseln oder in Französisch-Tahiti, an einem pastellfarbenen Ort umgeben von Meer.
Doch da waren diese Stimmen: Da war der Gedanke an seinen Vater, den Tristans Schande umbringen würde, und an das Unglück seiner Mutter, die in Arnsberg mit der Missachtung ihrer Umwelt würde leben müssen. Da war die Furcht und Ehrfurcht selbst vor denen, die längst zu Staub zerfallen in der Gruft von Arnsberg lagen, den Rittern, Offizieren, Schlachtenhelden. Schon vor tausend Jahren hatten sie Burgen gebaut, Kreuzzüge begleitet, Ruhm angehäuft. Einer hatte unter Wallenstein gegen die Schweden gekämpft, ein anderer unter Prinz Eugen bei Malplaquet, und Tristans eigener Vater war als blutjunger Bursche bei Sedan die Hügel hinaufgestürmt, damals, im deutschfranzösischen Krieg anno 1870. Die Arnsbergs hatten Kaisern und Königen und Päpsten gedient, ihre Gebeine lagen in aller Welt verstreut, in Jerusalem, in Burgund, in der afrikanischen Weite von Deutschsüdwest. Hatte Tristan nicht – ob es ihm nun passte oder nicht – eine Verantwortung gegenüber seinem Namen? Durfte er einfach nur an sich denken? Und hatte Tupu nicht die Strafe, die Tristan ihm zuteil werden lassen sollte, verdient? Es war die normalste Sache von der Welt: Ein vierfacher Mörder wird zum Tode verurteilt. Tupu war nicht mehr zu retten, so oder so. Aber er, Tristan von Arnsberg, war noch zu retten.
Nach Stunden, der Mond war längst erloschen, beugte Tristan sich vorsichtig über die schlafende Tuila und drückte seine Wange auf ihre. Sie murmelte etwas im Halbschlaf, das er nicht verstand, und er dachte daran, dass er genau solche Augenblicke gemeint hatte, als er damals vom Glück träumte. Das wollte er festhalten, doch er wusste, dass das Glück wie eine Hand voll Sand war, der umso stärker zwischen den Fingern hindurchschlüpfte, je fester man zugriff.
Welche Entscheidung auch immer er traf, sie würde Tuila unglücklicher machen. Mehrmals wollte er sie aufwecken und ihr die ganze Wahrheit unterbreiten, aber jedes Mal, wenn er sie friedlich schlafen sah, brachte er es nicht fertig. Er konnte es einfach nicht.
Als sich das Morgengrauen ankündigte, bemerkte Tuila, dass er wach war. Sie kuschelte sich an ihn und fragte, halb wach und mit geschlossenen Augen: »Die Morde beschäftigen dich, nicht wahr? Sie rauben dir jede Fröhlichkeit und Ruhe.«
»Ich frage mich, wie die Familie des Mörders darüber denken wird, wenn wir ihn kriegen.«
»Keiner hat gerne einen Verbrecher bei sich. Du weißt also, wer es ist?«
»Er ist gewarnt, doch er flieht nicht.«
Sie gähnte. »Dann ist er entweder sehr mutig oder sehr dumm. Wenn ich seine Frau wäre, würde ich ihn ins Inselinnere fortschicken, wo er jahrelang leben kann, ohne dass ihr ihn findet.«
»Aber, Tuila, er ist ein mehrfacher Mörder, ein Schlächter geradezu. Er muss bestraft werden.«
Sie gähnte erneut, ihre Stimme wurde mit jedem Wort leiser und schwächer. »Ich würde kein Wort mehr mit ihm sprechen, und das ganze Dorf würde es mir nachtun. Er wäre für uns erledigt. Aber ihn offenen Auges in den Tod schicken … vor eure Gewehre … Nein, ich glaube, das … brächte … ich … nicht …«
Sie schlief erneut.
»Manuia te po«, flüsterte Tristan. »Gute Nacht.«
Er hatte nach diesem Gespräch nicht die Absicht, sie aufzuwecken.
Nur wenige Minuten später schlich er aus dem Schlafzimmer. Er kleidete sich im Nebenraum an, wobei er mehr Wert als sonst auf die Fasson seiner Leutnantsuniform legte. Draußen führte er sein Pferd am Zügel und saß erst ein Stück entfernt auf, so dass niemand im Palast ihn hörte. Er ritt gen Nordosten, nach Salelologa, über dem der Himmel kurz vor Sonnenaufgang leuchtete.
Auf der Station verrichteten zwei Männer der Fita-Fita mehr schlecht als recht ihren Wachdienst. Er weckte sie und befahl ihnen mitzukommen. Dann ritten sie zu dritt die Strecke zurück.
Tristan kannte Tupus Gewohnheiten genau. Manchmal schwamm sein Schwager gleich am Morgen im Atoll der Palauli Bay, an anderen Tagen rannte er erst ein Stück über die Pfade des Waldes, so wie heute. Tuila und Ivana waren unten an der Bucht, als er aus dem Haus trat und behände im Busch verschwand, ohne die Männer zu sehen. Sie gaben ihm einen gewissen Vorsprung, damit Tuila und Ivana nicht Zeugen seiner Verhaftung würden, die womöglich – wer konnte das vorher genau sagen? – eine unschöne Szene wäre. Es gab Verbrecher, die sich wie gefangene Raubtiere wehrten und, schon gefesselt, die schrecklichsten Flüche ausstießen. Tristan wollte die Sache für die Valaisis nicht grausamer machen, als sie ohnehin schon war. Später, wenn Tupu sicher auf der Station in Gewahrsam wäre, würde er selbst zum Palast reiten und die Frauen informieren. Wenn sie wollten, könnten sie dann beim anschließenden Prozess dabei sein – und erkennen, wen sie da zum Bruder, Mann und Sohn hatten.
Inmitten eines Kokoshains, wo die Stämme in lockeren Abständen voneinander aufragten und die Schatten der Palmwipfel auf der trockenen Erde tanzten, schlugen Tristan und seine Begleiter zu. Von zwei Seiten kamen sie herangaloppiert, sprangen ab und fassten, bevor er sich versah, Tupu an beiden Armen. Ein paar Palmweinzapfer, die früh aufgestanden waren und mit einem Messer im Mund und einer halben Kokosschale um den Hals auf Bäumen hockten, wurden Zeugen der Verhaftung.
Tristan trat an seinen Schwager heran, der sich im festen Griff der Fita-Fita befand.
»Tupu! Ich verhafte dich wegen der Morde am Polizisten Tamaseu, am Ordinarius Löblich sowie den Nonnen Schwester Bertha und Schwester Dorothea.«
Tupu fletschte nur die Zähne, mehr nicht, und er widersetzte sich der Verhaftung in keiner Weise. Aber er sah trotzdem aus wie jemand, der noch etwas zu sagen hatte.
Mit Oberst Rassnitz hatte Tristan nicht gerechnet. Der Gouverneur hatte ihn mittlerweile eingeweiht, und nun wollte er persönlich die Einhaltung der Bedingungen überwachen, die Tristan auferlegt worden waren, um einem Armeegericht zu entgehen.
Rassnitz wartete in der Station, als Tristan dort mit seinem Gefangenen ankam. Er schien fast ein wenig enttäuscht, dass sein untergebener Offizier, den er wenig achtete, den Mörder tatsächlich verhaftet hatte.
»Lassen Sie zwei deutsche Siedler als Beisitzer holen«, befahl Rassnitz, kaum, dass Tristan die Stube betreten hatte.
»Siedler? Aber Herr Oberst«, wandte Tristan ein. »Der Gouverneur sprach von zwei samoanischen Polizisten, um die Legitimation des Urteils …«
»Unsinn«, fuhr der Oberst ihn an. »Samoaner gehören nicht auf Richterstühle. Schnappen Sie sich zwei halbwegs intelligente Siedler, sage ich. Ich selbst führe den Vorsitz. Wir beginnen in zehn Minuten.«
»Die Zeit ist zu knapp. Ich wollte noch Tupus Familie informieren.«
»Ihre Familie, meinen Sie wohl? So weit kommt’s noch, dass wir auf solche Kinkerlitzchen Rücksicht nehmen. Mörder ist Mörder. Sie können die Familie informieren, nachdem der Dreckskerl exekutiert wurde.«
Tristan hatte das Gefühl, der Boden rutsche ihm unter den Füßen weg. Es war genau das Gegenteil dessen eingetreten, was er beabsichtigt hatte.
Der Prozess fand in der Hauptstube der Polizeistation statt. Am Kopfende des Raumes saß Oberst Rassnitz in seiner polierten Uniform an einem schäbigen Holztisch. Zwei noch junge Siedler aus der unmittelbaren Umgebung von Salelologa saßen in gebührendem Abstand zu seinen beiden Seiten und kneteten mit den Händen nervös ihre Hüte. Sie waren noch nie Beisitzer bei einem Standgericht gewesen und waren sichtlich beeindruckt von der Autorität des Oberst Rassnitz und von der Situation insgesamt. Tupu war noch immer an den Händen gefesselt und stand, von Polizisten flankiert, vor dem Tribunal. Auf eine förmliche Anklage wurde ebenso verzichtet wie auf eine Verteidigung. Rassnitz stellte Fragen oder konfrontierte Tupu mit Beweisen für seine Schuld – wie beispielsweise die Brandwunde –, und dieser widersprach nicht. Er war lethargisch geworden angesichts seiner Situation, und er begriff, dass es keine Hoffnung für ihn gab, diesen Tag zu überleben. Ein richtiger Rebell, wie man sie aus anderen Kolonien kannte, hätte diese letzte Gelegenheit genutzt, um die Besatzungsmacht zu schmähen und zu verfluchen. Doch Tupu war kein richtiger Rebell, kein Samoaner war ein Rebell. Er verteidigte sich nicht, er klagte auch nicht an. Die Demütigung durch Rassnitz, Auslöser für ihn, sich den Mau anzuschließen, erwähnte er mit keinem Wort, obwohl sein ehemaliger Peiniger direkt vor ihm saß.
Für Rassnitz wäre es ein Leichtes gewesen, den Prozess nach einer Viertelstunde zu beenden und das Urteil zu beraten, doch er entschied sich anders. Anstatt Tupus niedergeschlagenes Schweigen zu akzeptieren, fing er an, in eine Richtung zu fragen, die Tristan blamierte. Gezielt fragte Rassnitz, wie es Tupu möglich gewesen sei, nach dem Anschlag auf die Picknickgesellschaft unentdeckt zu bleiben. Mit dieser Frage weckte er Tupu auf, der Tristan kurz angrinste und dann erzählte. In allen Einzelheiten enthüllte Tupu, wie er Tristan getäuscht und sozusagen »eingewickelt« habe und wie er ihn später mit der heimlichen Ehe abhängig gemacht habe. Das war Tupus Rache. Er musste noch nicht einmal lügen. Jeder Satz rückte Tristan ein Stück mehr in das Zwielicht der Einfältigkeit und der vorsätzlichen Vertuschung, und die Tatsache, dass zwei Deutsche dem Prozess beiwohnten, stellte sicher, dass Tristan endgültig unhaltbar für die Kolonie geworden war. Umgekehrt waren die Einzigen, die ihm sein Verhalten Tupu gegenüber positiv angerechnet hätten, nicht anwesend, nämlich Tuila, Ivana und Vaonila. Rassnitz hatte, als er das Verhör beendete, ganze Arbeit geleistet.
Der Schuldspruch war nur eine Formalität. Der Oberst und seine Beisitzer »berieten« gerade mal eine Minute, bevor sie Tod durch Erschießen verkündeten. Die Exekution sollte noch in derselben Stunde stattfinden.
Tupus Verhaftung sprach sich herum. Einer der Palmweinzapfer, die Zeuge der Festnahme geworden waren, erzählte es seiner Frau, die daraufhin sofort zu Tupus Frau lief. Ivana konnte es nicht glauben. Sie hoffte, es läge ein Irrtum vor, doch tatsächlich war ihr Mann nirgends aufzufinden.
Tuila beruhigte sie.
»Bestimmt nur ein Verhör, Ivana. Immerhin kennt Tupu viele junge Leute, auch aus anderen Dörfern, und die haben vielleicht …«
»Dein Deutscher hat ihn verhaftet!«, rief sie. »Warum hat er Tupu nicht einfach gestern Abend befragt? Warum geht er so hinterlistig vor?«
»Ich – ich verstehe es auch nicht. Aber Tristan würde ihm nie etwas antun.«
»Ich will meinen Mann wiederhaben, hörst du? Sprich mit Tristan. Sorge dafür, dass die papalagi ihn freilassen.«
Die kleine Moana fing an zu schreien und ließ sich nicht wieder beruhigen.
Dann kam Vaonila in die Palauli Bay, aufgeregt und zittrig. Sie hatte ein vages Gerücht gehört und war sofort losgelaufen, um nachzusehen, ob Tupu nicht doch bei seiner Familie war. Als Ivana und Tuila ihr von der Beobachtung des Palmweinzapfers erzählten, brach sie fast zusammen.
»Ich wusste es. Tupu, mein Tupu, tief in mir wusste ich, dass es so kommt«, murmelte Vaonila immer wieder, ohne dass Tuila und Ivana mehr aus ihr herausbekommen konnten. Moana schrie noch immer, und die Nerven der drei Frauen waren bis aufs Äußerste gespannt.
Tuila hielt es schließlich nicht mehr aus. Sie verstand nicht, was zwischen ihrem Mann und ihrem Bruder vorging. Zwei Menschen, die sie liebte, standen plötzlich gegeneinander.
So lief sie in Richtung Salelologa. Ivana, die das Kind trug, und die alte Vaonila folgten ihr, so schnell sie konnten.
Tristan hatte noch nie ein Erschießungskommando befehligt. Exekutionen waren zwar Bestandteil seiner theoretischen Ausbildung gewesen, und in jedem Offiziershandbuch war der standrechtlichen Hinrichtung ein eigenes Kapitel gewidmet, doch praktische Übungen für Offiziersanwärter waren nicht vorgesehen gewesen und nicht durchgeführt worden. Im Generalstab ging man davon aus, dass Offiziere auch in solchen Fällen funktionieren.
Die Bretterwand eines Schuppens neben der Station diente als Hinrichtungsstätte. Dort war man vor den kräftigen Winden des Passats geschützt, die das Zielen schwer gemacht hätten. Vier Polizisten der Fita-Fita waren angetreten, die Gewehre in Händen. Etwas abseits stand Rassnitz, hinter ihm die beiden jungen Siedler mit den zerdrückten Hüten auf dem Kopf, und in einem Winkel zusammengedrängt beobachteten zehn Samoaner aus Salelologa das Geschehen. Rassnitz wollte, dass sie sahen und weitererzählten, wie es Aufrührern erging.
Tristan erinnerte sich an die Worte des Handbuchs: Dem Delinquenten einen Sichtschutz anbieten.
Sichtschutz, dachte er verächtlich. Warum schrieb man nicht einfach Tuch? Warum sagte man Delinquent? Weil man mittels der Sprache eine schmutzige Sache zu einem geradezu sterilen Akt machen konnte, darum. Die Heuchelei versteckte sich überall, auch beim Militär.
Er ging auf Tupu zu. Jeder Schritt kam ihm wie eine Ungeheuerlichkeit vor. Wie konnte er nur so etwas tun?
Aus Tupus Miene war der letzte Rest von Triumph oder Genugtuung für seine kleine Rache an Tristan verschwunden. Der junge Mann hatte nur noch Angst. Nackte, aufwühlende Angst vor dem Tod. Seine Gesichtsmuskeln zitterten, seine Beine trugen ihn kaum noch, seine braune Haut nahm einen seltsamen, grauen Ton an.
Das Sterben hatte nichts Heroisches.
Tristans Stimme versagte. Er hielt Tupu die schwarze Augenbinde hin, doch dieser achtete nicht darauf, sah panisch nach links, nach rechts, in die Höhe, so als reichten seine Blicke aus, ihm die Flucht zu ermöglichen.
Tupu bebte. Feine Schweißperlen bedeckten seinen Körper.
Für eine Sekunde kam es Tristan vor, als wäre er mit Tupu allein.
»Es ist so weit«, brachte er heraus.
»Es ist so weit?«, fragte Tupu nach. Noch immer huschten seine Blicke umher.
»Ja, Tupu. Ich muss gleich den Befehl geben.« Er machte eine Pause, dann sagte er: »Ich wollte … Ich wollte, es wäre alles anders gekommen. Wenn ich nur … Ich weiß nicht, was ich anders hätte machen sollen. Weißt du es?«
Tristan hoffte, Tupu würde ein Wort der Entschuldigung finden, doch er hoffte vergebens. Tupu sagte nichts mehr, er zitterte bloß noch.
»Soll ich Ivana oder sonst jemandem etwas von dir sagen? Einen letzten Gruß vielleicht?«
Erneut kam keine Antwort.
Tristan band dem jungen Samoaner die Augen zu.
Schweren Herzens wandte er sich um und trat neben das vierköpfige Kommando.
Er versuchte, sich im Geiste auf das Handbuch zu konzentrieren. Achtung, war der nächste Befehl.
»Achtung«, befahl Tristan. Durch die Fita-Fita ging ein Ruck.
Noch einmal sah er zu Tupu, der inzwischen auf die Knie gesunken war. Und plötzlich wusste Tristan nicht mehr, ob er es fertig brächte, den Schießbefehl zu geben.
Legt an, befahl das Handbuch.
»Legt an«, befahl Tristan.
Er war sich jetzt sicher, den Befehl nicht geben zu können. Er war kein Soldat, war nie einer gewesen, würde bald keiner mehr sein.
Ich bin Önologe, sagte er sich. Ich liebe die Natur, die Ernte. Mein Gott, ich habe Äpfel eingesammelt und beim Heuen geholfen. Ich will Papayas pflanzen.
Er zog den Degen.
Zielen. Feuer, befahl das Handbuch.
Er reckte den Degen gen Himmel. Er war ein Arnsberg.