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Samoa, November 2005

 

Ane fuhr auf der schmalen Straße nach Salelologa schneller als sonst, und auf der rasanten Fahrt kappte ihr Jeep etliche der Hibiskusblüten, die hier überall zwischen dem Blattwerk aufleuchteten.

Sie war spät dran. Raymond konnte jeden Moment an der Fährstation ankommen, und sie wollte ihn nicht warten lassen. Niemand ließ gerne seine Zukunft warten.

Seit sie Raymond vor zwei Wochen in einer Bar in Apia kennen gelernt hatte, hatte sich ihr Leben verändert. Zum ersten Mal fuhr sie einen eigenen Wagen, und zum ersten Mal durfte sie mit einem Mann nicht nur im Aggie Grey’s übernachten, sondern auch ganz offen mit ihm in der Lounge oder dem Speiseraum sitzen. Raymond schämte sich ihrer nicht und war großzügig. Schon vor ihm hatten etliche Männer sie schön genannt, aber er war der Einzige, der ihr zutraute, auch etwas aus ihrer Schönheit zu machen. Er machte ihr Mut.

»Du solltest Model werden«, hatte er ihr am Tag ihres Kennenlernens vorgeschlagen. »Exotische Gesichter wie deines hauen uns Männer um, glaub mir.«

»Meinst du das wirklich? Also, ich habe tatsächlich schon darüber nachgedacht.«

Er hatte genickt. »Nimm es in Angriff. Ich bin zwar nicht aus der Branche, aber ich glaube, du hättest Chancen. Ich helfe dir dabei. Weißt du, ich habe ein paar Kontakte.«

»Kontakte?«

»Versprechen kann ich nichts. Ich bin keiner von denen, die dir am Abend die Sterne verheißen und am nächsten Tag die Wohnung ausräumen.«

Genau das mochte sie an ihm. Er war anders als die anderen Touristen, die nur auf eine Samoanerin in ihrer Sammlung exotischer Liebhaberinnen scharf waren. Natürlich war er von ihrem Aussehen fasziniert, so wie sie von seinem Erfolg und von seinem Beruf als Hotelier fasziniert war. Doch dadurch, dass sie quasi zu Geschäftspartnern geworden waren, bekam ihre Beziehung einen anderen Schwerpunkt. Er suchte nach einem passenden Stück Land für sein geplantes Hotel – und sie hatte Land. Oder besser, Moana und Ili hatten es, und sie ebnete Raymond den Weg zum Geschäftsabschluss.

»Wenn das klappt«, hatte er ihr gesagt, »bekommst du eine Vermittlungsprovision, so wie sich das gehört.«

»Und wie viel ist das? Tausend Dollar?«

Er hatte sein Cowboylachen gelacht, das sie nicht besonders mochte. »Fünf Prozent vom Kaufpreis. Bei zwei Millionen sind das einhunderttausend.«

Ihr war die Luft weggeblieben. »Tala?«

Wieder hatte er schallend gelacht. »Tala kennt kein Mensch. Dollar, natürlich. Ich rede von amerikanischen Dollars.«

»Damit kann ich ja meine Nase operieren lassen …«

Ihre Nase interessierte ihn nicht sonderlich. »Ich besorge dir eine Greencard und lasse dir von einem der besten Fotografen der Welt eine Setcard machen.«

Gerade jetzt wieder, während ihr der warme Fahrtwind durch die Haare wehte, rief sie sich den Moment in Erinnerung, als er ihr das gesagt hatte. Niemals zuvor hatte sie sich so stark gefühlt, so viel Hoffnung verspürt. Raymond tat ihr gut. Es war, als tanke er sie mit Selbstbewusstsein voll. Er sprach zwar nicht gerne über seine Vergangenheit, aber sie hatte herausgehört, dass er aus kleinen Verhältnissen kam und sich mit viel Fleiß und Durchhaltevermögen nach oben gearbeitet hatte.

Und genau das wollte sie auch. Sie wollte als reiche Frau in einem reichen Land leben.

Dieser Wunsch war halb so alt wie sie selbst. Vor elf Jahren hatte ihr Vater sie nach Sydney mitgenommen. Mit der Plantage lief es damals gut, drei Jahre Rekordernten bei stabilen Preisen, und so wollte er sich und ihr etwas Besonderes gönnen, etwas, das man »nur einmal im Leben« macht, wie er sagte. Weder er noch seine Eltern oder deren Eltern oder irgendjemand, den sie kannten, war je nach Sydney gekommen. Australien lag nicht gerade um die Ecke; von Samoa dorthin war es beinahe ebenso weit wie von Amerika nach Europa. Die Familie war nicht wohlhabend, kaum ein Samoaner war das. Der Reichtum der Menschen war das Land, nicht das Geld, so sagten sie immer.

Auch sie hatte das geglaubt.

Doch in dem Moment, als sie in Sydney angekommen war, stürzten diese anerzogenen Anschauungen hinter ihr zusammen wie ein Kartenhaus. Die Frauen in den Straßen sahen so schick und leger zugleich aus, nicht nur ihre Kleidung, auch ihre Gesichter. Wie sie mit ihren wippenden Einkaufstaschen durch die Straßen eilten, wie sie in die Geschäfte mit den blank polierten Glas- und Messingtüren eintauchten wie in einen Traum und nach einer Weile mit einer weiteren Tüte wieder zum Vorschein kamen, wie sie ihre Sonnenbrillen lässig auf die Stirn schoben, wie sie zu zweit oder zu dritt mit all ihren Schätzen in einem Taxi verschwanden  – das alles erregte in Ane maßlose Bewunderung. Selbst die Verkäuferinnen sahen wie Prinzessinnen aus. Als Ane mit ihrem Vater in einem kleinen Café saß, mit einem mickrigen Waffeleis vor sich, das ihr Mittagessen sein sollte, und zwei Frauen am Nachbartisch nacheinander einen bunten Salat, eine Hühnerbrust mit Schmortomaten und einen Vanillepudding aßen und sich zwischendurch die Beute des Tages zeigten, da wusste Ane, dass sie eines Tages auch in dieser oder einer vergleichbaren Stadt leben wollte. Ein ganzes Jahr lang hatte sie ihrem Vater damit in den Ohren gelegen. »Lass uns nach Sydney ziehen«, hatte sie wenigstens dreimal pro Woche gefordert. Seine Antwort war immer die gleiche geblieben: »Dafür haben wir kein Geld.«

»Wenn wir das Land verkaufen, haben wir es.«

»Das Land gehört Tante Ili und deiner Großmutter Moana.«

»Dann sollen sie es verkaufen.«

»Du verstehst nicht. Das Land ist uns nur geliehen. Von der Natur, vom Schöpfer. Wir geben es weiter an unsere Nachkommen.«

Geliehen! Von der Natur! Über solche mystischen Erklärungen wollte sie schon damals nicht nachdenken.

»Ich bin dein Nachkomme«, hatte sie gesagt. »Und ich will hier fort. Bitte, Papa.«

Er hatte sie finster angesehen. »Du wirst deine Meinung schon noch ändern, wenn du älter wirst.«

Sie hatte sie nie geändert. Nie. Auch nicht nach dem Tod ihres Vaters ein Jahr nach Sydney, diesem schrecklichen  – sie suchte ein Wort – Desaster, das sie beinahe aus der Bahn geworfen hätte. Sie wollte Samoa unbedingt verlassen, dieses Land von Obstbauern, in dem bereits ein simpler Bankangestellter die beste Partie war, die man machen konnte. Ein Land, das sich stolz die Wiege der polynesischen Kultur nannte und es noch nicht einmal schaffte, einen florierenden Tourismus aufzubauen. Ein Land ohne Eleganz, ohne Zukunft.

Raymond brachte nun diese Zukunft. Nicht nur ihr, sondern vielleicht auch dem Land. Ili und Moana bekämen auf ihre alten Tage viel Geld, Samoa mehr Tourismus und damit verbundene Entwicklungschancen und die Kleinbauern auf Savaii einen möglichen Nebenverdienst. Niemand wurde übervorteilt oder betrogen. Bei diesem Geschäft gab es nur Gewinner, und sie wäre doch wirklich verrückt gewesen, nicht darauf einzugehen.

Trotzdem, bei dem Gedanken, es Tante Ili sagen zu müssen, wurde ihr unwohl. Vielleicht konnte sie ja jemand anderen finden, der ihr die Nachricht vom baldigen Verkauf überbrachte.

Ane stoppte auf dem kleinen staubigen Parkplatz vor der Anlegestelle in Salelologa. Bevor sie ausstieg, zupfte sie vor dem Rückspiegel die Strähnen auf der Stirn zurecht, leckte kurz über die rosa geschminkten Lippen und strich den engen Einteiler an ihrem schlanken Körper glatt. An einem der schönsten Tage ihres Lebens wollte sie perfekt aussehen. Heute würde Raymond mit ihrer Großmutter den Kaufpreis besprechen. Dann musste nur noch der Vertrag aufgesetzt werden, und in wenigen Tagen schon wäre das Geschäft komplett.

Das Signalhorn der Fähre dröhnte verheißend durch die schwülwarme Luft. Grinsend lief sie auf den Anlegesteg und blickte dem Schiff entgegen. Als sie Raymond am Bug stehen sah, winkte sie ihm zu, und als er zurückwinkte, hüpfte sie einige Male auf und ab wie ein Kind.

 

Beinahe wäre sie über die Schnur gestolpert und hingefallen. In ihrem Alter ein halber Tod.

Für Ili war es nicht schwer zu erraten, wer die aus Kokosfasern geflochtene Schnur zwischen den beiden Papayabäumen gespannt hatte und warum. Sie sollte fallen und sich die Knochen brechen. Sie sollte vergeblich um Hilfe rufen. Sie sollte zerbrechen.

Nur ein Zufall, ein sich durch das Blätterdach stehlender Sonnenstrahl, hatte Ili auf die Falle aufmerksam gemacht und gerettet.

Sie löste die Schnur, steckte sie ein und machte sich auf den Weg zu jenem Teil des Papaya-Palastes, in dem Moana lebte.

Es wird immer schlimmer, dachte sie. Es wird die Hölle werden.

Seit achtzig Jahren dauerte die Fehde zwischen Moana und ihr nun an. Sie hatte sie nicht angefangen, aber sie hatte auch wenig dafür getan, sie zu beenden. Damals waren sie noch Kinder gewesen, und keine von ihnen hätte sich vorstellen können, wie der Streit eskalieren und schließlich ihr ganzes Leben prägen würde – und das Leben von etlichen anderen Menschen. Trotz all der Verletzungen, die beide sich im Laufe der Dekaden zugefügt hatten, war es Ili gelungen, sich einen Rest von Selbstironie und sogar Humor angesichts dieses Konflikts zu bewahren. Alles in allem hatte sie die Zeit besser überstanden als Moana und auch zufriedener. Die Liebe zum Land und die schönen Erinnerungen an längst vergangene Tage machten die Mühen eines Lebens neben ihrer Kontrahentin wieder wett, wohingegen Moana weder liebte noch schöne Erinnerungen besaß. Im Grunde war Moana nichts geblieben, nichts als Hass.

Vielleicht war Moana genau das in einem hellen Moment bewusst geworden. Vielleicht spürte sie, wie glücklich Ili trotz tiefer Narben nach wie vor war, und dieser Gedanke war ihr derart unerträglich geworden, dass sie zu verzweifelten Mitteln griff. Mitteln wie dieser Schnur. Doch das ging jetzt entschieden zu weit.

Ili blickte unbemerkt durch das Küchenfenster. Direkt vor ihr köchelte ein riesiger Topf mit den Suppenhühnern, die Ben gebracht hatte. Moana war gerade dabei, Gemüse zu schneiden, wobei sie Ili den Rücken zuwandte.

Einem Impuls folgend, warf Ili rasch die Schnur in den Topf und sah zufrieden zu, wie sie langsam im Sud unterging.

In diesem Moment drehte Moana sich zu ihr um. Schon seit langer Zeit fühlten sie die Nähe der anderen, so als witterten sie sich. Da sie schon seit Ewigkeiten nicht miteinander sprachen, waren die Augen, das Mienenspiel und die Körperhaltung die einzigen Mittel ihrer Verständigung. Sie beherrschten diese Klaviatur der Mimik und Gestik perfekt. Jede Regung, jede Falte, jeden Blick konnten sie lesen, nicht schlechter, als wenn die andere ein Plakat mit großen Blockbuchstaben mit sich herumtrüge.

Das Plakat, auf das Ili nun blickte, war unmissverständlich.

Ich kriege dich noch, stand darauf. Die Schnur war erst der Anfang, ein alberner Kinderstreich wie in den ersten Tagen unserer Feindschaft.

Jetzt aber beginnen die letzten Tage unserer Feindschaft.

 

Links und rechts des Jeeps glitten Hunderte, ja Tausende von Baumstämmen vorbei, und wenn Ray Kettner einen Wald sah, dachte er sofort an seine Kindheit in Wyoming. Seinen ersten Ast hatte er im Alter von vier Jahren zersägt, als seine Mutter starb und er zusammen mit seinem Vater einen Sarg für sie baute. Daran konnte er sich nicht mehr erinnern, wohl aber, dass er mit sechs Jahren auf Befehl seines Vaters eine neue elektrische Kreissäge benutzte, die ihm den linken Daumen zur Hälfte durchtrennte. Mit sieben Jahren half er beim Verladen der Paneele, mit neun lernte er, selbstständig die Aufträge von Geschäftspartnern zu bearbeiten, weil Chuck, sein Vater, zu betrunken dafür war.

Chucks Sägemühle lag mitten in den Wäldern von Wyoming. Die Mühle war nicht groß genug, um damit reich zu werden, und nicht leise genug, um das abgelegene Idyll zu genießen. Chuck wurde von Geistern verfolgt, jedenfalls glaubte Ray das damals. Wenn er von seiner toten Frau sprach, Rays Mutter, nannte er sie eine verdammte Hure und dass sie ihn bei ihrem ersten Treffen verhext habe und ihn auch heute noch jede Nacht im Traum verfolge. Auch Chucks Vater, den Ray nie kennen gelernt hatte, verfolgte ihn, denn immerzu sprach er von ihm, zum Beispiel, wenn er Ray mit Latten verprügelte, oder als er Ray verbot, die Schule zu Ende zu machen. Dann sagte Chuck: Mein Vater hat das genauso bei mir gemacht. Manchmal bohrten sich bei den Schlägen Splitter des zerfaserten Holzes in Rays Haut, so dass er tagelang nicht sitzen und nicht richtig schlafen konnte. Aber eines Tages, da war Ray dreizehn, schlug er so zurück, dass Chuck die Wange aufgerissen wurde. Von da an hielt sein Vater sich im Zaum.

Mit siebzehn wurde Ray von Chuck verjagt, zwar nicht mit der üblichen Gewalt, aber doch sehr nachdrücklich. Chuck sagte einfach, er könne ihn nicht mehr ernähren, es kämen zu wenige Aufträge herein. Und als Ray das nicht sofort begriff, gab er ihm nichts mehr zu essen. Er hätte ihn buchstäblich verhungern lassen. Und so ging Ray fort.

Zunächst arbeitete er in einem Holzgroßhandel in Colorado. Anfangs schleppte er Bretter, sechs Tage in der Woche, zehn Stunden am Tag. Er lud sie von Ladeflächen herunter, trug sie in eine riesige Halle, die durch Nummern auf Pappschildern in etliche Sektionen aufgeteilt war, und gab ihnen einen von Chefs festgelegten Platz. Wenn er nicht gerade ab- oder auflud, wartete er, zusammen mit einer Hand voll anderer Burschen, auf den nächsten Laster. Die anderen spielten Karten oder würfelten, aber er war so viel Gesellschaft nicht gewöhnt und ging lieber spazieren. Die eine Hand in der Tasche, die andere ein Butterbrot umklammernd, schlenderte er durch die Lagerhalle, wo sich der würzige Duft frischer Baumleichen mit dem schimmeligen Gestank alter Sägespäne mischte. Dann atmete er tief ein. Dieser spezielle Geruch umgab ihn völlig, ja, er durchdrang ihn. Die Colorado-Frauen, mit denen er manche Nacht verbrachte, verzogen ein wenig den Mund, wenn er auf ihnen lag und nach Baumleiche roch, doch weder ein Bad noch frische Luft vermochten den Geruch zu töten. Und so wurde er Raymonds ständiger Gefährte, wurde ihm lieber als der Duft lebendiger, saftiger, atmender Bäume.

Die Firma expandierte, und Raymond mit ihr. Nach sechs Jahren unentwegtem Auf- und Abladen beförderte man ihn in den Holzzuschnitt, und als die Chefs erkannten, dass er nicht wie die anderen Männer seines Alters war, gaben sie ihm eine Chance im Einkauf. Er wurde zuständig für den Ankauf von Holz aus zwei Bundesstaaten, später aus fünf, schließlich auch aus Wyoming. Er war ein geschickter und harter Verhandlungspartner. Chuck dagegen war ein zittriger, ausgemergelter Mann geworden, der zwanzig Jahre älter aussah, als er war, und seinem Sohn beim Wiedersehen die übelsten Schimpfwörter an den Kopf warf. Ray weinte an diesem Tag, zum letzten Mal in seinem Leben, und am nächsten Tag erpresste er Chuck mit niedrigen Preisen. Er ruinierte ihn. Als Chuck bald darauf am Suff starb – genauer gesagt fiel er betrunken in ein Sägeblatt und verblutete –, ließ Raymond die Sägemühle abreißen und den umgebenden Wald, der zu seinem Erbe gehörte, roden, bis die Gegend aussah wie nach einem Atomschlag.

»Sind wir schon auf dem Land deiner Familie?«, fragte er Ane und fuhr sich nervös mit der Hand über die stoppeligen Haare. In Wäldern fühlte er sich nicht wohl.

»Nein, noch nicht!«, rief Ane, den Fahrtwind übertönend. »Dieses Stück hier gehört dem Dorf Palauli.«

»Wem im Dorf?«

»Niemandem speziell. Dem ganzen Dorf.«

Raymond lachte. »Das klingt ja wie Kommunismus.« Es war ihm völlig unverständlich, wie etwas so Kostbares wie Land einem ganzen Dorf gehören konnte.

»Es ist hier leider so üblich«, erklärte Ane. »Alles gehört entweder dem ganzen Dorf oder der ganzen Familie. Einzelpersonen besitzen so gut wie kein Eigentum. Jede Familie wählt einen matai, ein Familienoberhaupt, und die matai wählen die ali’i. Beide, Familienoberhaupt und Dorfoberhaupt, verwalten den Besitz.«

»Aber deine beiden alten Herrschaften, die besitzen ihr Land doch allein, oder?«

»Hast du Angst, dass mit dem Verkauf irgendetwas schief geht? Das brauchst du nicht. Meine Großmutter ist fest entschlossen.«

»Kann schon sein, aber ein Geschäft ist erst dann abgeschlossen, wenn die Tinte unter dem Vertrag trocken ist. Was ist also mit den beiden? Warum unterstehen sie nicht einem dieser ali’i

»Sie sind eine seltene Ausnahme. Das hängt mit der Geschichte der Familie, des Hauses und des dazugehörenden Landes zusammen. Außerdem liegt der Papaya-Palast mehrere Meilen vom nächsten Dorf entfernt, und damit gehören sie keiner Dorfgemeinschaft an. Das Gleiche gilt übrigens für den alten Ben Opalani, dem du ja auch ein Angebot gemacht hast.«

Plötzlich schien ihr eine Idee zu kommen. Sie verlangsamte die Fahrt ein wenig, blickte ihn an und sagte: »Weißt du, Raymond, du solltest das Hotel so nennen.«

»Wie soll ich es nennen? Opalani?«

»Nein. Papaya-Palast. Ich finde, das hört sich verführerisch an.«

Er überlegte. »Stimmt. Hört sich wirklich gut an.«

»Ich bin neugierig. Weißt du schon, wie das Hotel aussehen soll?«

»Sicher, ja.«

»Und? Wie wird es aussehen?«

»Paradiesisch. Traumhaft. Die Leute wollen sich heutzutage aus dem Weg gehen, also werden wir viele Pavillons bauen, die von Sträuchern umgeben sind.«

»Ein Hotel unter Palmen also.«

»Ja, aber nicht unter zu vielen Palmen. Bäume versperren die Sicht und machen Dreck. Ein paar Palmen und Papayas lassen wir stehen, zur Dekoration, und das Haus machen wir zur Rezeption. Oder zum Restaurant. Und zur Teelounge – ihr trinkt hier doch alle Tee, wie? Ich muss mit dem Architekten darüber reden.«

Ane schien zufrieden. »Das gefällt mir. Auf diese Weise bleibt ein kleines Stück von dem erhalten, wo ich meine Kindheit verbracht habe. Auch wenn es nur ein Hotelname ist – und eine Lounge. Das bin ich ihm irgendwie schuldig, dem Land.«

Und dann verlangsamte sie ein weiteres Mal die Fahrt und fügte leise, fast bittend, hinzu: »Verstehst du das?«

Er verstand es ganz und gar nicht. »Natürlich. Das ist doch klar.«

 

Das Geräusch von zwei zuknallenden Autotüren weckte Evelyn. Mit den Händen fasste sie sich an den Kopf, der sich anfühlte, als seien Gummibälle die ganze Nacht über auf ihm herumgesprungen. Die leichte Baumwolldecke lag auf dem Boden, und das Laken war derart zusammengeknüllt, dass Evelyn fast vollständig auf der nackten Matratze lag. In den ersten Minuten konnte sie keinen klaren Gedanken fassen. Ihr Blick streifte über die beiden leeren Weißweinflaschen neben dem Bett und die zerknitterten Kleidungsstücke, die im Zimmer verstreut lagen. Und aus dem geöffneten Koffer glitzerten sie bereits die letzten zwei Flaschen an. Angeekelt verzog sie das Gesicht und wandte sich ab. Sie spürte Abscheu, nicht nur vor dem Alkohol, der sie mal wieder besiegt hatte, sondern auch vor sich selbst, vor ihrer Schwäche, die mit jedem Tag mehr Besitz von ihr ergriff. Früher war sie stark gewesen. Nicht unverletzlich, wer war das schon? Aber sie hatte Ziele gehabt, hatte an sich geglaubt und daran, immer einen Weg aus einer schwierigen Situation zu finden. Wenn sie einmal keinen Rat gewusst hatte, waren Menschen dagewesen, die sie um Hilfe bitten konnte, vor allem Carsten, ihr Mann. Ihre Kraft, ihre Zuversicht, ihr Glaube an sich und die Umwelt, das alles starb seit Jahren einen langsamen Tod, und die spärlichen Reste davon reichten gerade noch aus, um eine Fassade aufrechtzuerhalten. Doch selbst diese bröckelte bereits.

Evelyn ertrug den säuerlichen Geruch abgestandenen Alkohols nicht länger und stand auf. Endlich warf sie einen Blick auf die Armbanduhr, die sie letzte Nacht nicht abgelegt hatte. Es war schon zehn vor elf. Sie ging nach nebenan in einen kleinen Waschraum, spritzte sich Wasser ins Gesicht, kämmte schnell ihre Haare durch und verdeckte mit einigen kosmetischen Mitteln die schlimmsten Spuren, die die letzte Nacht in ihrem Gesicht hinterlassen hatte. Anschließend zog sie ein frisches Shirt über, blieb jedoch bei der weißen Jeans vom Vortag und gab sich auch sonst keine weitere Mühe mit ihrem Äußeren. Wäre ihre freundliche alte Wirtin nicht gewesen, hätte sie vermutlich noch weniger getan.

Barfuß streifte sie durch die verschiedenen, ohne Türen ineinander übergehenden Räume des Hauses, das sie noch nicht einmal zur Hälfte gesehen hatte. Den meisten Zimmern sah man nicht an, welche Funktion sie erfüllten, denn ihre Ausstattung ähnelte sich zu sehr: riesige Truhen, kleine Tischchen mit Blumen und Gaslampen daneben, ein Bücherbord bestückt mit vergilbten Bänden von Thomas Mann, Christian Morgenstern und anderen Schriftstellern, gelegentlich ein paar Gestecke getrockneter Kräuter, die von der Decke herunterhingen und den konservierten Duft nach frischem Grün verbreiteten. Und überall lagen Flechtmatten auf dem steinernen Fußboden aus. Viel gab es nicht zu sehen, aber das wenige wirkte nicht nur völlig ausreichend, sondern es stellte auch einen angenehmen Kontrast zu der üppigen Fülle außerhalb des Hauses dar. Nur die Küche wirkte europäisch und neben ihr ein kleines Esszimmer, das Ili wahrscheinlich ausschließlich für Gäste nutzte. Auf dem Tisch lag ein Zettel, auf dem stand: »Liebe Evelyn, ich war mir nicht sicher, ob Sie lieber hier oder auf der Veranda frühstücken möchten. Das Tablett mit allem Drum und Dran steht in der Küche. Ich bin in der Plantage, aber suchen Sie mich dort nicht, denn sie ist so groß, dass Unkundige sich schnell verlaufen können. Vielleicht sehen wir uns heute Mittag. Ili.«

Das Tablett war so schwer, dass Evelyn Mühe hatte, es auf die Veranda zu balancieren. Außer einer warm gehaltenen Kanne Tee und einem Krug mit Saft, hatte Ili auch eine Schale mit geschnittenen Mangos und Papayas und eine weitere mit Getreideflocken vorbereitet, aus der Evelyn sich ein reichhaltiges Müsli machte.

Sie saß auf dem gleichen Platz wie gestern Abend, als Ili ihr von Tristan, Tuila und Tupu erzählt hatte. Langsam kamen Evelyn die Details der Geschichte wieder in Erinnerung, die sich in einer fernen Zeit abgespielt hatte und trotzdem mit diesem Haus in Verbindung stand. Leider wusste sie noch nicht, auf welche Weise, denn Ili war bald nach Einbruch der Dunkelheit müde geworden und in ihr Zimmer gegangen. Evelyn hatte die Geschichte bis dahin nicht nur interessant gefunden, die Geschichte hatte sie außerdem von allem abgelenkt, womit ihr Kopf sich sonst beschäftigte. Nachdem Ili gegangen und auch Evelyn zurück in ihrem Zimmer war, hatten alle Gespenster sie wieder eingeholt, und es waren keine fünf Minuten vergangen, bis sie zu der angebrochenen Weinflasche gegriffen hatte. Einmal angefangen, konnte sie nicht mehr aufhören, bis sie so betäubt gewesen war, dass sie nichts mehr fühlte. Erst dann war sie eingeschlafen.

Stimmen hallten über den weiten Rasen bis zur Veranda. Evelyn beobachtete, wie Ane aus dem anderen Flügel des Hauses trat, gefolgt von deren exzentrischer Großmutter Moana und dem Amerikaner – Ray –, der ihr im Aggie Grey’s geholfen hatte. Ane, sehr schick in ihrem körperbetonten Einteiler, der viel Bein freiließ, legte den Arm um Ray, eine Geste, die ihm nicht mehr zu behagen schien, nachdem sie sich von Moana verabschiedet hatten und auf Evelyn zusteuerten.

Ray sah wirklich gut aus, fand sie. Seine Haut war bereits von einer schönen braunen Patina überzogen, die von dem hellen, halb offenen Hemd noch verstärkt wurde. Der Dreitagebart verlieh ihm etwas Kerniges und zugleich Sanftes.

Sie nickte ihnen zu.

»Guten Tag, Ane.«

»Hallo, Evelyn. Geht es Ihnen gut?«

»Ja«, log sie.

»Das ist Raymond Kettner.«

Er fügte hinzu: »Wir haben uns gestern im Hotel getroffen.«

Sie lächelte und zog unmerklich sein Halstuch aus der Hosentasche. »Ich erinnere mich. Guten Tag.«

»Ich hoffe, Sie werden hier besser verpflegt als wir«, sagte er schmunzelnd. »Unsere Suppe war voll mit Kokosfasern, und als ich dachte, in ein saftiges Stück Huhn zu beißen, hatte ich stattdessen eine Schnur im Mund.«

»Das ist doch jetzt nicht wichtig«, unterband Ane eine weitere Konversation. »Evelyn, wissen Sie vielleicht, ob Tante Ili im Haus ist?«

»Sie hat mir einen Zettel geschrieben, dass sie in die Plantage gegangen ist.«

Ein erleichtertes Lächeln legte sich auf Anes Lippen, wie bei jemandem, der einer unangenehmen Aufgabe entledigt wurde. »Siehst du, Ray, ich kann jetzt nicht mit ihr reden.«

»Soll ich ihr etwas ausrichten?«, fragte Evelyn.

»Nein, ich werde später mit ihr sprechen, irgendwann.«

»Sie sollte es so schnell wie möglich erfahren«, wandte Ray ein.

»Aber wenn sie doch nicht da ist.«

»Mir wäre es lieber, wenn ich sie überzeugen könnte. Ich will keinen Streit, verstehst du? Keine Auseinandersetzung. So etwas endet schnell vor Gericht, und das sieht meine Bank gar nicht gern.«

»Sie ist nicht da«, wiederholte Ane eindringlich. »Und wir können nicht warten, bis sie zurückkommt. Der Wald ruft, hast du das vergessen? Wir wollen einen Ausflug machen.«

»Das klappt sowieso nicht. Ich muss die Verträge aufsetzen, mit der Bank telefonieren … Außerdem gehe ich ohnehin nicht gerne spazieren. Lass uns was trinken, ja? Da war doch ein Café an der Fährstation.«

Seufzend gab sie nach. »Und Sie?«, fragte sie, an Evelyn gewandt. »Haben Sie vor, den ganzen Tag hier zu bleiben?«

Das war eine gute Frage, fand Evelyn. Es war nun beinahe zwölf Uhr, und sie musste sich überlegen, wie sie den heutigen Tag verbringen wollte. Seltsamerweise hatte sie sich bis zu diesem Zeitpunkt keine Gedanken darüber gemacht. Von dem Moment an, als sie in Frankfurt ins Flugzeug gestiegen war, war sie darauf konzentriert gewesen, diese Insel, Samoa, überhaupt zu erreichen – einer Schiffbrüchigen ähnlich. Darüber hinaus hatte sie keine Pläne. War sie gestern noch damit beschäftigt gewesen, eine Unterkunft zu finden, stand ihr von nun an alle Zeit des Tages zur Verfügung, und ob sie wollte oder nicht, sie musste diese Stunden ohne ablenkende Fernsehprogramme, ohne Zeitschriften, ohne Beruf und ohne die gewohnte Umgebung ihres Hauses füllen.

»Wenn Sie möchten«, bot Ane an, »nehme ich Sie nachher auf eine Spazierfahrt über die Insel mit. Ohne Auto werden Sie Schwierigkeiten haben, Savaii zu erkunden. Es gibt zwar Busse, aber die sind langsam und ungemütlich. Ich bringe Raymond zur Fährstation und hole Sie anschließend hier ab. Wie wär’s?«

Der Vorschlag gefiel Evelyn. Eine Tour im Jeep mit einer Ortskundigen über die Insel würde sie ablenken, und so sagte sie zu.

Ane hatte die Schlüssel vergessen und ging ins Haus zurück. Kaum war sie verschwunden, setzte Ray sich neben Evelyn auf die Veranda.

»Geht es Ihnen wirklich gut?«

Sie nickte.

»So sehen Sie aber nicht aus«, sagte er. »Entschuldigung, ich bin immer so direkt. Ich sage, was ich denke. Ist manchmal ein Fehler. Ehrlich, Sie sehen aus, als hätten Sie diesen Urlaub dringend nötig.«

Sie senkte die Lider. »Das stimmt auch.«

»Sind Sie allein hier?«

»Mein Mann ist in Deutschland.«

Er kaute auf einem Grashalm herum.

»Ich komme dieser Tage noch mal hier vorbei. Vielleicht sehen wir uns dann.«

»Vielleicht. Da fällt mir ein, dass ich noch etwas von Ihnen habe.« Sie wollte ihm sein Tuch zurückgeben.

»In Wyoming ist das eine Beleidigung für einen Mann«, sagte er. »Wenn Sie mich ein für alle Mal los sein wollen, dann geben Sie es mir jetzt zurück. Ansonsten behalten Sie es.«

Evelyn lächelte. Langsam verstaute sie es wieder in ihrer Hosentasche.

Er warf den Grashalm zur Seite und gab ihr die Hand. »Falls Sie mal in Apia sind, rufen Sie mich im Aggie Grey’s an, ja?«

Weder bejahte noch verneinte sie, und gleich darauf kam Ane mit dem Schlüssel zurück. Gerade als Ane und Ray sich verabschiedet hatten und in den Jeep einstiegen, hörte Evelyn Geräusche aus dem Haus.

»Warten Sie, Ane!«, rief sie. »Ich glaube, Ili ist zurückgekommen.«

Doch das Aufheulen des Jeeps übertönte ihre Rufe, und kurz darauf wirbelten die Reifen so viel Staub auf wie ein Helikopter. Noch ehe Ili auf die Veranda kam, waren Ane und Kettner verschwunden. Die Staubwolke zog über die Rasenfläche, legte sich, und wenige Augenblicke später war alles wie zuvor.

»Das war Ane«, erklärte Evelyn überflüssigerweise.

Ili nickte. »Ich habe sie und ihren Freund durchs Fenster gesehen. Scheint was Ernstes zwischen denen zu sein, jedenfalls ist es das erste Mal, dass Moana einen von Anes Freunden bewirtet.«

»Stellen Sie sich vor: Sie hat eine Suppe mit Kokosfasern und einer Schnur serviert. Ich hoffe, das ist hier kein Nationalgericht.«

Ili verzog die Lippen zu einem belustigten Grinsen: »Moana war immer schon eine miserable Köchin.«

Dann wurde sie wieder ernst. »Er ist Amerikaner, nicht wahr?«

»Ein Geschäftsmann, ja. Ich glaube, er will ein Hotel auf Savaii bauen.«

»Hier jedenfalls nicht«, erwiderte Ili. »Überall bauen sie jetzt Hotels, das ist groß in Mode. Auf Upolu haben sie angefangen, und jetzt wollen sie auch hierher und die Landschaft verschandeln. Chlorwasserpools, bunte Sonnenschirme an den Stränden, Abfallberge. So etwas brauchen wir nicht.«

Evelyn verstand, was sie meinte, war jedoch nicht ganz ihrer Ansicht. »Nun ja, ich finde überfüllte Strände auch nicht gut, aber wenn man den Tourismus nicht übertreibt, kann er sehr nützlich sein. Denken Sie nur daran, wie viele Menschen für die Schönheit der Natur sensibilisiert werden. Die Walschau-Touren zum Beispiel haben schon eine Menge Leute für diese bedrohten Tiere eingenommen. Erst durch den öffentlichen Druck konnte man die Wale schützen.«

Ili seufzte. »Wer weiß, vielleicht haben Sie Recht. Vielleicht bin ich zu alt, um mich neuen Ideen zu öffnen.«

Ili wirkte nach ihrem Rundgang durch die Plantage erschöpft. Sie ging gebeugter als sonst, und ihre Augen sehnten sich nach Schlaf. Evelyn brachte das Tablett in die Küche und beschloss kurzerhand, den Abwasch zu erledigen. Ilis Protest ließ sie nicht gelten.

»Sie brauchen sich wirklich nicht rund um die Uhr um mich zu kümmern«, sagte Evelyn. »Es macht mir überhaupt nichts aus, meinen eigenen Kram aufzuräumen.«

»Aber Sie sind doch nicht den weiten Weg nach Samoa gekommen, um zu spülen, Evelyn.«

»Bis Ane mich zur Spazierfahrt abholt, habe ich ohnehin nichts zu tun. Machen Sie sich keine Gedanken.«

Ili schmunzelte und wurde wieder etwas wacher. »Spazierfahrt mit Ane? Das hört sich an, als würde da für Sie wieder eine Gebühr fällig werden. Lassen Sie mich raten: zwanzig Dollar?«

Daran hatte Evelyn überhaupt noch nicht gedacht. »Über Geld haben wir nicht gesprochen. Das wäre auch kein Problem.«

»Trotzdem sollten Sie sich bald in Salelologa einen Mietwagen nehmen, es sei denn, Sie haben vor, Ane in der Zeit, in der Sie hier sind, eine Krokodilledertasche zu finanzieren.«

»Ich wusste überhaupt nicht, dass es einen Autoverleiher auf Savaii gibt.«

Ili lachte. »Das hat Ane Ihnen natürlich verschwiegen. Sie hat nur von den Bussen erzählt, wie? Das sieht ihr ähnlich. Eines muss man ihr lassen, sie ist geschäftstüchtig. Aus der Plantage könnte sie etwas machen, da bin ich sicher. Wirklich schade, dass sie sich so wenig dafür interessiert.«

»Wofür interessiert sie sich denn?«

»Für Krokodilledertaschen.«

Beide lachten, und Ili setzte sich an den Küchentisch, während sie mit einem Tuch die Teller und das Besteck trocknete, die Evelyn ihr reichte. Eine Menge Gedanken schienen ihr durch den Kopf zu gehen, denn ihr Gesicht wurde mit jeder Sekunde ernster.

»Ane hat vor einigen Jahren mal eine Banklehre angefangen«, berichtete Ili, »doch die hat sie bald abgebrochen. Es wäre nichts für sie, hat sie gesagt. Solange sie bei Moana lebt, braucht sie nicht viel Geld, und die Kleider finanzieren ihre Männerbekanntschaften – oder Touristen, die ihr eine ›Gebühr‹ für alles Mögliche zahlen. Doch auch das stellt sie nicht zufrieden. Sie will einfach nur weg, und damit ist sie nicht allein. Eine Reihe junger Samoaner träumt davon, das Leben, das meine Generation führte, hinter sich zu lassen. Von der Welt da draußen erwarten sie sich Reichtum, Ansehen, Ruhm und alle diese Dinge, die in Samoa nicht wachsen. Wir haben nur Früchte. Die Geborgenheit eines vertrauten Zuhauses, der Rhythmus der Arbeit mit der Natur, die Einfachheit, das zählt nicht mehr.«

Ili öffnete eine knarrende Schranktür nach der anderen und räumte das Geschirr ein, bewegte sich mit der Sicherheit eines Menschen, der jeden Handgriff und jede Drehung schon eine Million Mal gemacht hat. Dann hielt sie inne, blieb am Fenster stehen und blickte nach draußen, wo einige Loris umherflatterten.

»Aber ich will nicht ungerecht sein«, sagte sie. »Ane kann überhaupt nicht dasselbe Verhältnis zum Papaya-Palast haben wie ich. Niemand kann das. Wer diese einundneunzig Jahre nicht miterlebt hat, wer nicht weiß, was davor geschehen ist …« Ilis Nachdenklichkeit wurde zur Freude, als sie sich zu Evelyn umwandte und sagte: »Ich habe unsere gestrige Unterhaltung genossen, Evelyn. Es tut mir gut, mich zu erinnern, vor allem, weil mir dabei Dinge einfallen, die ich längst vergessen hatte. Ich war ja noch sehr jung, als meine Mutter mir alles erzählte.«

»Ich hätte Ihnen gestern stundenlang zuhören können.«

»Das haben Sie auch. Ich fürchte, ich habe mich verplaudert. Sie müssen es mir sagen, wenn ich Sie langweile.«

Evelyn räumte den letzten Teller zu den anderen im Küchenschrank. »Davon kann keine Rede sein.«

»Fa’afetai«, sagte Ili lächelnd. »Danke für das Kompliment. Und für Ihre Hilfe.«

»Nicht der Rede wert. Also, wie ging es weiter mit Tuila und Tristan?«

»Immer langsam. Vorher sollte ich noch erwähnen, dass Tupu, Tuilas Bruder, sich den Mau anschloss.«

»Der Widerstandsgruppe gegen die Deutschen.«

Ili nickte. »Er war tief in seinem Stolz getroffen. Die Demütigung durch Oberst Rassnitz war eine frische Wunde, und in ebendieser Zeit geriet er unter falschen Einfluss. Verletzte Menschen denken nicht viel nach. Sie suchen jeden Rückhalt, den sie kriegen können. Da Tupus Familie und der Freundeskreis ihm außer Mitleid nicht viel geben konnten, ging er zu denen, die ihn noch als vollwertigen Mann ansahen, die ihm noch etwas zutrauten. Die Mau trafen sich an geheimen Plätzen im Wald. Niemand wusste genau, wer zu ihnen gehörte, aber auf ganz Savaii waren es nicht mehr als zehn Männer, auf Upolu noch einmal so viele. Sie besaßen zu jener Zeit kein großes Ansehen in der samoanischen Bevölkerung, denn sie konnten weder verständlich machen, was nach einem – natürlich unwahrscheinlichen  – Abzug der Deutschen besser werden sollte, noch bewiesen sie durch ihre Taten besonderen Mut. Ihre Anschläge zeichneten sich durch Hinterhältigkeit aus oder richteten sich gegen Schwache. Trotzdem verlangten sie von jedem neuen Mitglied eine Mutprobe, einen selbst geplanten und durchgeführten Anschlag zum Einstand.«

»Sie sagten doch, die Anschläge seien harmlos gewesen.«

»Das, was Tupu vorhatte, und das, was dann daraus wurde, waren zwei verschiedene Dinge. Manchmal ist es nur ein winziger Zufall, der aus einem Streich ein Verbrechen macht.«

 

Samoa, 24. Februar 1914

 

Tristan hatte bei der Idee der Gouverneursgattin, ein Damenpicknick auf Savaii zu veranstalten, gleich ein schlechtes Gefühl gehabt. Aber an Tote hatte er dabei natürlich nicht gedacht.

Der Brief von Frau Schultz war am Tag zuvor gekommen, zusammen mit einem anderen, der Tristans Aufmerksamkeit in viel stärkerem Maße erregte. Das gräfliche Wappen der Arnsbergs auf dem Briefumschlag hätte bei ihm Heimweh, Stolz oder Freude auslösen sollen, doch er spürte nur eine seltsame Beklemmung. Das Gefühl legte sich, als er den Brief entfaltete und die Handschrift seiner Mutter sah. Er war froh, dass sie es war, die ihm schrieb, nicht sein Vater, trotzdem kamen ihm diese Zeilen wie Eindringlinge aus einer Welt vor, die mit jedem Tag, den er auf Savaii verbrachte, weiter wegzurücken schien.

Mein lieber Tristan!

Seit Deinem ersten Brief, den Du kurz nach Deiner Ankunft in Deutsch-Samoa geschrieben hast, haben wir nichts mehr von Dir gehört. Sicher hast Du viel zu tun. Aber gelegentlich könntest Du uns ein paar Sätze schreiben. Sieh, wenn ein Kind so weit fort ist wie Du, mehr als sechs Wochen Reise entfernt und ohne telegraphischen Anschluss, fühlt eine Mutter sich ohnmächtig. Jeden Tag frage ich mich, wie es Dir wohl ergeht, was Du gerade tust etc.

Hier auf Arnsberg hat es einige Aufregung gegeben. Denk Dir, von den Fotografien, die wir von Dir und uns am Tag vor Deiner Abreise haben machen lassen, ist nicht viel geblieben. Ein Missgeschick des Gesellen des Fotografen führte dazu, dass von den drei Bildern nur eines etwas taugt. Unser Familienbild sowie das Porträt von Dir in Deiner schönen weißen Leutnantsuniform des Überseekorps sind unbrauchbar. Geblieben ist lediglich das Bild, welches Du aus einer seltsamen Laune heraus hast machen lassen, das Porträt von Dir ohne Uniform. Dein Vater ist sehr enttäuscht darüber, denn wo immer er hinkommt, erzählt er, dass sein Sohn in Übersee dient und sogar eine ganze Insel kommandiert. Jüngst, als wir zur Kur in Wiesbaden waren, sind wir zufällig auf Reichskanzler von Bethmann Hollweg getroffen, und der wollte nach den Berichten Deines Vaters ein Bild von Dir sehen, doch Dein Vater fand das Zivilporträt unangemessen und konnte dem Reichskanzler also keines zeigen. Das hat Deinen Vater hinterher schon sehr geärgert. Vielleicht hätte es ja Deinem Fortkommen genutzt.

Ich hätte es Dir gerne erspart, aber nun muss ich Dir doch noch berichten, dass es Deinem Vater nicht allzu gut geht. Die Gicht macht ihm zu schaffen, so dass er manche Tage nicht aus dem Schloss kann, und dann ist er unleidlich und macht mir den Tag schwer.

Mein lieber Tristan, ich hoffe ehrlichen Herzens, dass Du uns bald schreiben wirst und gute Nachrichten bringst. Das würde Deinen Vater aufrichten und mich glücklich machen.

Du bist alles, was ich habe. Passe auf Dich auf.

 

Herzlich

Deine Dich liebende Mama

Mit einem unguten Gefühl las er den Brief ein zweites Mal. Seine Mutter war eine zaghafte, stille Frau, die immer ein wenig mutlos wirkte. Ein wenig von ihrer Melancholie hatte sie an ihn vererbt, die Vorliebe für Morgenspaziergänge im Nebel, der wie Pfützen zwischen den westfälischen Hügeln ruhte, für die Oktoberbäume in ihrer unermesslichen Pracht, für Klaviermusik, knackendes Kaminholz und die kristallene Schönheit der weiß gepuderten Winterwiesen. Und für Literatur. Ihrem Paket lagen sieben Bücher bei: die neueste Novelle eines gewissen Thomas Mann, ein Band Gedichte von Christian Morgenstern, ein Band Hauptmann, Keyserling, D. H. Lawrence, Balzac … Sie hatte immer viel Verständnis für seine literarischen Neigungen und die Liebe zur Natur gehabt, anders als der Graf, und sie hätte ihn gerne als Literaten oder Weinbauern gesehen. Zugleich aber war sie zu schwach, als dass ihre Stimme auf Schloss Arnsberg etwas gegolten hätte. Sie litt unter dem Grafen, es war ein schweigsames, ergebenes Leiden; je grimmiger er war, desto stärker wurde auch sie in Mitleidenschaft gezogen, und anstatt dass sie also Tristans heimliche Wünsche unterstützte, war ihre Zerbrechlichkeit sogar zu einem der Gründe für ihn geworden, sich dem Willen seines Vaters zu fügen und Soldat zu werden.

Wie sollte er diesen Eltern jemals von Tuila erzählen können, ohne dass es zur Katastrophe kam?

Er legte den Brief zur Seite und öffnete den zweiten, in dem Gertrude Schultz ihr Erscheinen noch für diesen Vormittag ankündigte. Sie und sechs andere Damen beabsichtigten eine Kutschfahrt über Savaii. Zwei offene Kutschen samt Kutscher und Diener brächten sie mit, auch Verpflegung sei vorhanden, für eine Eskorte sei allerdings zu sorgen, ebenso für die Festlegung einer Route samt geeignetem Picknickplatz, und selbstverständlich wünsche man die Teilnahme Tristans.

Ihm war klar, worauf dieser geplante Ausflug hinauslief. Wenn sieben Damen auf zwei offene Kutschen verteilt saßen, blieb ein Platz übrig, und das würde für ihn – da musste er kein Prophet sein – rein zufällig der neben Clara Hanssen sein. Die Kupplerinnen waren also weit davon entfernt aufzugeben.

Da das Schreiben der Gouverneursgattin in einem unmissverständlichen Ton gehalten war und Tristan davon ausgehen musste, dass Dr. Schultz oder Oberst Rassnitz zugestimmt hatten, blieb ihm nichts anderes übrig, als sich sofort um die Organisation zu kümmern. Er bestimmte einen Mann der Fita-Fita als berittene Begleitung, wählte eine Route und steckte sich zusätzlich zum obligatorischen Säbel noch eine Pistole ins Halfter – ein wenig widerstrebend. Es hatte seit vielen Jahren keinen Übergriff auf Deutsche gegeben, auf Frauen überhaupt noch nie, und diese offensichtliche Demonstration von Überlegenheit missfiel ihm. Doch die Vorschriften waren eindeutig. Er war nun einmal deutscher Offizier, und solange er es blieb, musste er auch als solcher auftreten.

»Wie reizend von Ihnen, sich unserem Picknick anzuschließen!« , rief die Gouverneursgattin zur Begrüßung, so als habe sie nicht darauf bestanden, dass er sie bei dem Ausflug begleite.

»Dieses Wetter verlangt nach einer Speise unter freiem Himmel, jetzt, wo das Ende der Regenzeit naht, nicht wahr, Herr Leutnant? Die Idee kam übrigens von Fräulein Hanssen, als sie vorgestern Abend mit ihren Eltern bei uns zu Gast war. Sie sagte wörtlich, wie nett es doch wäre, einmal nach Savaii zum Leutnant von Arnsberg zu fahren, nachdem wir Upolu ja nun schon in- und auswendig kennen. Ja, es war ganz allein ihre Idee. Ich habe nichts damit zu tun, nein, wirklich nicht, außer natürlich, dass ich diesen Vorschlag auf der Stelle in die Tat umzusetzen bereit war. Und da sind wir nun. Fräulein Hanssen, bitte kommen Sie doch näher, damit der Herr Leutnant seine Schüchternheit ablegen und Sie begrüßen kann.«

Frau Schultz beobachtete sichtlich zufrieden, wie Tristan die Hand Clara Hanssens küsste.

»Wie reizend von Ihnen, dass Sie uns begleiten«, wiederholte Clara Hanssen die Worte der Gouverneursgattin und blickte ihn ein wenig naiv an. Tristan konnte ihr keinen Vorwurf machen. Sie war ebenso unschuldig wie er an den Kräften, die auf sie beide wirkten.

Die Gouverneursgattin klopfte mit der Schirmspitze auf den Boden. »So, meine Damen, auf in die Kutschen. Die Wildnis ruft.«

Siebenfaches Kichern brach aus und ebenso viele weiße Sonnenschirme klappten auf, und nachdem Tristan die Verladung des Proviants beaufsichtigt und dem Untergebenen der Fita-Fita das Aufsitzen befohlen hatte, stellte er sich an die Kutsche, in der die Gouverneursgattin und Clara Hanssen Platz genommen und wie erwartet einen für ihn freigehalten hatten. Er lächelte, als er sagte: »Ich werde dann also neben Ihnen reiten.«

Frau Schultz klappte die Kinnlade herunter. »Aber Herr Leutnant, wir hofften, Sie gesellen sich in unsere Mitte.«

»Oh, das hofften Sie? Und wie gern hätte ich das auch getan! Aber es tut mir Leid, meine Damen. Vorschrift. Ich muss das Gelände im Blick behalten, schließlich wollen wir keine Störung unseres schönen Ausflugs. Wenn Sie einen Wunsch haben, zögern Sie nicht, mich zu rufen.« Er schloss die Tür etwas lauter, als es hätte sein müssen. »Ganz Ihr Diener«, fügte er noch hinzu, bevor er sich abwandte und auf seinen Rappen aufsaß.

Mit einem zufriedenen Grinsen gab Tristan das Zeichen zur Abfahrt und genoss insgeheim die langen Gesichter in der Kutsche.

Seine Route führte die Gesellschaft nicht nach Norden, wo es viele flache Strandabschnitte mit geeigneten Picknickplätzen gab, sondern nach Süden in Richtung der Palauli Bay, hauptsächlich deshalb, weil er auf diese Weise nachher auf dem Rückweg noch schnell bei Tuila vorbeischauen konnte. Heute Abend würde er es nicht schaffen, zu ihr zu kommen, denn dank der Gouverneursgattin blieb seine ganze Arbeit liegen und musste später nachgeholt werden. Ein Tag ohne Tuila war jedoch kein guter Tag. Er musste wenigstens ein paar Worte mit ihr wechseln.

Seit einigen Wochen, seit dem Geburtstag des Kaisers, schien ihm ihre Liebe noch größer geworden zu sein. Tuila hatte seither ein wenig ihrer früheren Unbefangenheit verloren, dieser Leichtigkeit, die über alle Bedenken hinwegflog und sich leistete, Dinge unausgesprochen zu lassen. Sie fragte nun gelegentlich, was er für sie empfinde, das hatte sie früher nie getan. Danach schien sie immer selig und beruhigt zu sein, doch es dauerte nur wenige Tage, dann stellte sie die Frage erneut. Wenn er auf ihr lag, wenn er die Blumengirlande sacht von ihren Brüsten schob, wenn er sie am ganzen Körper küsste und in sie eindringen wollte, dann fragte sie ihn: »Liebst du mich, Tristan?« – »Ja.« – »Wirst du immer bei mir bleiben?« – »Nichts ist stark genug, mich von dir zu trennen.«

Ihm machten ihre Fragen nichts aus, im Gegenteil. Er sprach gerne über seine Liebe, über sie beide und ihre gemeinsame Zukunft, das gab ihm Kraft und Selbstvertrauen, und er nutzte diese Minuten, um alle seine Gefühle nach außen zu kehren. Tuila sollte nie den Eindruck bekommen, er liebe sie nur halb, bloß weil er im Dienst auf Haltung und Form achtete und seine Offizierspflichten ernst nahm. Er zeigte sich mit ihr. Sie gingen gemeinsam auf ein abendliches Fest in Tuilas Dorf Palauli. Die jungen Männer hatten drei Wildschweine und ein Dutzend Tauben gejagt, die nun von Bananenblättern umhüllt im umu, dem Erdofen, schmorten und zusammen mit den Brotfrüchten und Ananas einen verführerischen Duft erzeugten. Tuila hatte mit anderen Frauen Gräser, Blumen und Palmzweige gesammelt, die sie mit geschickten Fingern zu kunstvollen Halsketten aus Blüten und getrockneten Acerolakirschen flocht. Einen der duftenden Kränze, den schönsten, aus blassblauem und gelbem Flor, schenkte sie ihm. Sie saßen auf Essmatten, und die Bananenblätter waren ihr Tischtuch. Junge Männer und Frauen führten erotische Tänze auf, und einmal tanzte Tuila selbst. Ihre Hüften waren mit einem titi, einem Rock aus wohlriechenden Gräsern und Bast bekleidet, ansonsten war sie nackt, mit Öl gesalbt und blumengeschmückt. Das Haar floss ihr wie Pech in glatten Strähnen über den Rücken. Ein Mann stimmte einen Gesang an, in den alle einfielen, und angespornt durch das rhythmische Trommeln auf aufgerollten Matten, begannen die Frauen und Männer mit dem Sitztanz, fremdartig wirkende Bewegungen der Hände und Arme, unterstützt durch das Wiegen des ganzen Oberkörpers. Immer feuriger und schneller wurde der Takt, bis zum Schluss die ganze Gesellschaft aufsprang und stehend, hüpfend und springend weitertanzte.

Erst mit der Erschöpfung aller und als der Mond hinter den Palmkronen verschwunden war, erloschen die Feuer, und es kehrte Stille in das Dorf zurück.

Nach diesem Abend war Tristan zwar noch immer ein papalagi, ein Weißer, aber kein Fremder mehr für die Bewohner von Palauli. Und er fühlte, dass er hierher gehörte.

Die Konversation in der Kutsche schleppte sich, soweit er sie von seinem Pferd aus verfolgen konnte, mühsam dahin. Ab und zu zeigte eine der Damen auf eine Blume am Wegesrand oder einen Schmetterling und rief so etwas wie: »Ist das nicht reizend?«, woraufhin eine andere antwortete: »O ja, tatsächlich, meine Liebe.« Die größte Aufregung bestand darin, dass Fräulein Hanssen ihren Sonnenschirm im Fahrtwind verlor, so dass Tristan anhalten ließ, den Schirm aufhob und zurückbrachte. Die Gouverneursgattin überhöhte diese selbstverständliche Tat zu einem Gipfel der Galanterie, Clara Hanssen wurde rot, und die anderen wechselten vielsagend verschämte Blicke. Tristan verdrehte bloß die Augen.

Erst als sie durch Palauli kamen, belebte sich das Gespräch der Damen plötzlich.

»Oh, diese grässlichen Hütten!«, rief die Gouverneursgattin mit gallenbitterer Miene. »Wie schamlos von den Eingeborenen, sie offen zu bauen. An diesen Anblick werde ich mich nie gewöhnen können, nicht in hundert Jahren.«

»Ich dachte«, sagte Clara Hanssen, »die Eingeborenen seien zu Christen bekehrt worden.«

»Ein Großteil von ihnen, ja, meine Liebe. Aber Sie sehen ja selbst. Grässlich! Man wird einmal ein Wörtchen mit den Missionaren reden müssen. So geht das doch nicht weiter.«

»Stellen Sie sich vor«, fiel eine andere ein, »ich habe gehört, dass die Eingeborenen verlangen, dass man bei ihnen anklopft, bevor man die Hütte betritt. Nun frage ich Sie: Wozu werden offene Hütten gebaut, die man jederzeit betreten kann, wenn man dann doch anklopfen muss?«

Die Damen schüttelten den Kopf, und Clara Hanssen wusste zu berichten: »Mein Vater sagt zu diesem Thema stets: Niemand erwartet von diesen primitiven Menschen, dass sie logisch denken. Dafür sind wir ja hier.«

Die Damen lachten.

»Bravo, meine Liebe!«, rief die Gouverneursgattin. »Ihr Vater ist ein weiser Mann, und Sie sind klug, weil Sie sich merken, was er sagt.« Sie blickte schräg hinter sich, wo Tristan ritt. »Nicht wahr, Herr Leutnant?«

Tristan, der jedes Wort gehört hatte, starrte sie von seinem Pferd aus an, sein Kopf rot wie ein Sonnenuntergang.

»Wissen Sie, Herr Leutnant«, plapperte die Gouverneursgattin munter weiter, »Fräulein Hanssen ist schon ganz unruhig, weil sie Ihnen einen selbst gemachten Gurkensalat zum Kosten geben möchte. Sie waren heute den ganzen Tag so nett zu ihr. Nein, widersprechen Sie nicht. Nein, nein. Eine alte Schrapnelle wie ich merkt genau, wenn ein Mann ein Fräulein auf diese spezielle Art ansieht.«

Er spürte, wie ihm die Hitze zu Kopf stieg. Er trieb sein Pferd zum Galopp an und ritt ein Stück voraus.

Er musste diesem unerträglichen Spiel ein Ende machen. Noch heute.

 

Der Platz, den er den Damen für das Picknick ausgesucht hatte, gehörte zum schönsten Fleck an Savaiis Südküste, wie er fand. Von der leicht abfallenden Lichtung hatte man durch Palmen und Muskatbäume hindurch einen herrlichen Ausblick auf die Palauli Bay. Von dort wehte der kühlende Wind herauf und spielte mit den Gräsern, und gelegentlich leuchtete eine Orchidee wie ein weißer oder gelber Farbtupfer zwischen dem grünen Einerlei.

Die Damen jedoch hatten dafür keinen Sinn. Der Gouverneursgattin stachen die Gräser zu sehr durch die Decken in ihr Hinterteil, einer zweiten Dame kam die Atmosphäre irgendwie unheimlich vor, da sie nirgendwo mehr ein Haus sehe, eine dritte meinte, sie habe das Gefühl, beobachtet zu werden, und Clara Hanssen störte sich am Südwind, der es ihr erschwerte, den Sonnenschirm in der Hand zu halten.

»Vielleicht, Herr Leutnant, könnten Sie den Schirm für mich halten?«

»Aber nicht doch!«, rief die Gouverneursgattin, die, obwohl sie auf einer anderen Decke saß, jedes Wort mitbekam. »Wie umständlich wäre das! Sie und der Leutnant gehen dort hinüber, wo der Wind nicht so stark bläst. Ja, nach dort hinten, ans Ende der Lichtung.«

Sie würde doch keine Ruhe geben, bevor er nicht das tat, was sie wollte, dachte Tristan. Vielleicht war es sogar besser so, denn an einem abgelegenen Platz konnte er endlich mit Clara Hanssen das klärende Gespräch führen, das längst überfällig war. Also packte er ihre Sachen zusammen und zog ans Ende der Lichtung um, gerade noch in Rufweite der anderen. Dort angekommen, breitete er erneut die Decke aus, während Clara die Schale mit dem Gurkensalat, ein paar Brote, Gebäck und eine Flasche Champagner auf einem kleinen Klapptisch anordnete. Wie sie in ihrem weißen Brokatkleid so auf der Wiese saß, mit steifem Rücken und bleichen Wangen, kam sie ihm vor wie eine Wasserlilie inmitten eines grünen Teiches, prächtig und inhaltslos.

Sie reichte ihm ein Glas. »Verdient haben Sie den Champagner nicht«, sagte sie. »Dieser Ort, den Sie ausgesucht haben, eignet sich nicht für ein Picknick.«

»So?«, entgegnete er trocken. »Mir gefällt er. Er hat alles, was ein Platz zum Verweilen haben muss: Stille, gute Luft und den Wechsel von Licht und Schatten.«

»Aber keine Noblesse. Hier ist es wild und ungepflegt.«

»So ist die Natur. Noblesse ist eine Erfindung des Menschen.«

Sein Satz schien sie geistig anzustrengen, denn sie runzelte die Stirn und rang einige Augenblicke lang um eine geeignete Antwort. »Nur gut«, sagte sie schließlich, »dass ich in Apia lebe, wo man hübsche Parks angelegt hat.«

Er nickte. »Es ist wirklich gut, dass Sie in Apia leben. Dort gehören Sie hin.«

Ein geschmeicheltes Lächeln glitt über ihre schmalen Lippen. Da sie ihr Glas hob, stieß er mit ihr an, woraufhin vom anderen Ende der Lichtung ein flötendes »Juhu« von der Gouverneursgattin zu hören war. Clara Hanssen winkte ihr zu.

Tristan nippte nur an dem Champagner und stellte sein Glas ab. Es war Zeit, etwas gegen diese ärgerliche Farce zu tun.

»Mir ist nicht verborgen geblieben«, begann er, »wie sehr sich manche wünschen, dass wir Zeit miteinander verbringen.«

Sie schien hochkonzentriert, als sie für Tristan einige Zutaten auf einem Teller zusammenstellte, war dann aber doch noch in der Lage zu antworten.

»Diese Menschen, von denen Sie sprechen, meinen es nur gut.«

»Ich bin sicher, dass Frau Schultz keine schlechten Absichten verfolgt. Trotzdem hat sie nicht immer eine glückliche Hand.«

Clara platzierte sorgfältig drei Stücke Gebäck auf dem Teller. »Oder noch eins?«

»Wie bitte?«

»Das Gebäck. Möchten Sie noch ein viertes?«

»Ach so. Nein, danke.«

»Wirklich nicht?«

Er atmete tief ein. »Im Moment nicht. Danke.« Tristan nahm den Teller entgegen und stellte ihn sofort beiseite. »Frau Schultz hat die Angewohnheit, bestimmte Dinge ohne Rücksicht auf die Meinung der Beteiligten zu forcieren.«

Clara Hanssen benötigte bei der Auswahl der Kekse für ihren Teller außerordentlich viel Zeit. »Die Frau Gouverneur«, sagte sie langsam und gedehnt, »hat gewiss nicht die Absicht, irgendjemanden zu bedrängen.«

»Wenn das tatsächlich so ist, hat sie eine seltsame Art, uns nicht zu bedrängen.«

Da Clara noch immer mit der Auswahl ihres dritten Kekses beschäftigt war und er das Gefühl hatte, so nicht weiterzukommen, ergänzte er: »Wie dem auch sei, es geht ja auch überhaupt nicht um andere. Es geht um Sie und mich.«

»Ja, das ist wahr«, bestätigte sie, ohne ihn anzusehen. »Es geht um uns.«

»Sehen Sie, Fräulein Hanssen, das ist der Punkt. Es gibt kein ›uns‹.«

Eine Wolke schob sich vor die Sonne, und Clara Hanssen klappte sofort den Sonnenschirm zu. Hinterher schien sie seine Bemerkung vergessen zu haben, denn sie nahm einen Keks zwischen Daumen und Zeigefinger und knabberte ihn so zaghaft an wie eine Spitzmaus.

»Sehen Sie das anders?«, wollte Tristan ungeduldig wissen.

Gerade so, als hätte sie in eine Gänsekeule gebissen, kaute sie auf dem lächerlichen Kekskrümel herum, weshalb eine weitere Weile verging. Mit leicht gerunzelter Stirn, die ihre Anstrengung verriet, erwiderte sie endlich: »Zu dumm aber auch, dass Sie auf dieser Insel festsitzen, Herr Leutnant. Wären Sie auf Upolu, würde alles viel unkomplizierter sein.«

»Was? Was würde unkomplizierter sein?«

Erneut winkte sie lächelnd der Gouverneursgattin zu, während Tristan den Blick nicht von ihr wandte.

»Was würde unkomplizierter sein?«, fragte er, jedes Wort betonend.

»Nun ja, Sie könnten meine Eltern und mich in unserem Haus besuchen, zum Beispiel. Oder mich spazieren führen.«

Tristan stutzte. Er hatte es stets für wahrscheinlicher gehalten, dass Clara Hanssen ebenso unfreiwillig wie er selbst in diese Sache hineingestoßen worden war.

»Heißt das, Sie würden das wollen?«

»Nun ja … gewiss.«

»Sie bringen mir Gefühle entgegen?«

Sie blickte schamhaft auf ihren Keksteller. »Aber das können Sie mich doch nicht so direkt fragen, Herr Leutnant.«

»Doch, das kann ich.«

»Sie bringen mich in Verlegenheit.«

»Es tut mir Leid, aber das müssen Sie jetzt verkraften. Ich habe nie den Anschein erweckt, um Sie zu werben.«

»Oh, Ihr Verhalten war hochanständig.«

»Es war deswegen hochanständig, weil ich nie Gefahr lief, nicht hochanständig zu sein, Fräulein Hanssen. Ich habe nämlich nicht um Sie geworben.«

Die Wolke gab die Sonne wieder frei, und Clara Hanssen versuchte, ihren Schirm aufzuklappen. Da sie damit einige Mühe hatte, bat sie Tristan um Hilfe. Er nahm ihr den Schirm ab und öffnete ihn mit einem festen, gereizten Ruck.

»Wie reizend von Ihnen«, sagte sie und blickte ihn zum ersten Mal während des Gesprächs an. Ihre hellbraunen Rehaugen wirkten nie geheimnisvoll, und doch war es für Tristan schwierig, in ihnen zu lesen, vielleicht einfach, weil sie wenig auszudrücken hatten. Falls Clara Hanssen über Gefühle verfügte, die tiefer gingen als das Entzücken über ein leckeres Stück Gebäck oder den Ärger über eine zu intensive Sonne, waren diese unter einer dicken Schicht aus Interesselosigkeit, Haltung und Zurückhaltung verborgen, Eigenschaften, wie sie üblich und von vielen Männern gern gesehen waren bei Frauen ihres gesellschaftlichen Ranges.

»Sie haben ja noch gar nichts gegessen«, stellte sie fest.

»Ich habe keinen Appetit.«

»Etwas von meinem Salat?«, fragte sie.

Er ignorierte ihre Bemerkung, ohne die Miene zu verziehen. »Ich möchte«, nahm er unbeirrt den Faden wieder auf, »dass Sie mit Frau Schultz sprechen. Die Angelegenheit sollte diskret behandelt …«

Ein gellender Schrei unterbrach die Mittagsstille.

Tristan fuhr hoch. Die Gouverneursgattin war aufgestanden und taumelte über die Grasbüschel, das weiße Kleid auf der Brust rot von Blut. Die anderen Frauen liefen durcheinander und schrien, wobei sie nur unverständliche, hysterische Laute ausstießen.

Tristan rief nach seinem Polizisten: »Tamaseu, was ist da los?«

Er erhielt keine Antwort.

Tristan sah irgendetwas geräuschlos durch die Luft fliegen, das eine der Damen traf. Ihr Kleid färbte sich rot, sie fiel hin.

Er zog seine Pistole und rannte quer über die Lichtung. Mitten im Lauf rief er weiter nach dem Polizisten der Fita-Fita, doch er war nicht zu sehen.

Ein maskierter Samoaner tauchte hinter einem Baumstamm auf und warf etwas nach den flüchtenden Frauen. Tristan, noch ein gutes Stück entfernt, feuerte einen Warnschuss ab.

Der Maskierte ließ sich nicht einschüchtern, rannte hinter einer der Frauen her. Sie stolperte und fiel hin. Er setzte sich auf sie und drückte ihr etwas in den Rücken, stand wieder auf und versuchte, in den Wald oberhalb der Lichtung zu entkommen.

Tristan hielt aus vollem Lauf inne, feuerte scharf, verfehlte beim ersten Schuss sein Ziel, traf den Samoaner aber beim zweiten Mal offenbar in den Oberarm, denn er presste die Hand auf die Wunde.

Doch der Unbekannte war schnell, seine Beine stampften im gleich bleibenden Rhythmus über den moosigen Waldboden, er übersprang quer liegende Stämme, tauchte unter Ästen hindurch, wich Erdlöchern und Gräben aus. Irgendetwas an den Bewegungen des Mannes kam Tristan bekannt vor, sie hatten etwas Kraftvolles und zugleich Tänzerisches.

Tristan rannte noch ein Stück hinter ihm her, ohne die Distanz verringern zu können.

Er musste an die Frauen denken, die schutzlos waren, solange er den Maskierten verfolgte. Vielleicht hatte der Attentäter einen Komplizen.

Schließlich blieb Tristan abrupt stehen und lief wieder zur Lichtung zurück.

Sieben, acht keuchende Atemzüge starrte er auf das Bild, das sich ihm bot: blutverschmierte Kleider, Hüte, die der Wind wie Reifen über die Lichtung trieb, stöhnende, hinkende, weinende Frauen. Tristan befürchtete das Schlimmste.

Mittlerweile waren auch die samoanischen Kutscher und Diener herbeigeeilt. Sie, Clara Hanssen und er waren die Einzigen, die nicht in Mitleidenschaft gezogen worden waren.

Und noch immer keine Spur seines Polizisten.

Nichts in seiner Ausbildung hatte ihn auf diese Situation vorbereitet. Er hatte gelernt, zu fechten und zu schießen, hatte Angriffs- und Rückzugsstrategien gepaukt, Lagerbau, Verteidigung von Stellungen, Bau von Schützengräben, Militärrecht, Kommandostrukturen, Disziplin, Meldewesen, Einsatz von Pferden und Geschützen im Feld, Umgang mit fremdländischen Hilfs- und Polizeitruppen wie der Fita-Fita … Dass er aber allein gegen einen aus dem Hinterhalt angreifenden und feige fliehenden Feind ankämpfen und dabei sieben verletzte Frauen versorgen und beschützen musste, das war etwas, das er noch nie geübt, geschweige denn in Betracht gezogen hatte.

Zunächst musste er wissen, wie schlimm es um die Damen stand. Er wies die Kutscher und Diener an, sich der weinenden und am Boden liegenden Frauen anzunehmen, während er selbst zur Gouverneursgattin eilte, die sich auf Clara Hanssen stützte und immerzu schimpfte: »O, diese Verbrecher, diese undankbaren Bestien.«

»Sie müssen sich hinlegen«, sagte Tristan. »Sie sind verletzt.« Ihr Kleid war über der Brust blutgetränkt.

Er wollte sie mit Hilfe von Clara Hanssen auf eine Decke legen, aber die Gouverneursgattin weigerte sich.

»Lassen Sie mich! Ich muss zu meinem Mann, damit er eine Strafkompanie auf diese Horde barbarischer Wilder loslässt. Die gehören ausgerottet.«

»Wir werden den Gouverneur so schnell wie möglich benachrichtigen«, sagte Tristan geduldig. »Erst müssen wir uns um Ihre Wunde kümmern. Sie sind verletzt und stehen noch unter dem Eindruck …«

Frau Schultz riss sich von ihm und Clara los. »Es geht mir gut!«, schrie sie.

»Aber … das Blut …«, stammelte er verwundert. Er konnte es nicht wagen, das Kleid der Gouverneursgattin an der Brust anzufassen, daher bat er Clara Hanssen. Doch sie verzog nur den Mund und trat einen Schritt zurück.

Einige Tropfen Blut waren auch auf den Schal getropft. Tristan nahm ihn in die Hand, befühlte die feuchtrote Stelle, roch daran.

»Das ist …« Er glaubte seiner Vermutung noch nicht, roch erneut. »Schweineblut«, sagte er. »Kein Zweifel. Sie sind gar nicht verletzt.«

»Das sagte ich doch«, erwiderte sie scharf. »Dieser Wilde hat mit Beuteln nach uns geworfen.«

Tristan blickte sich um. Zwischen den Gräsern entdeckte er eine geplatzte Schweinsblase. Auch die anderen Damen hatten sich inzwischen aufgerappelt und schienen, bis auf die verschmutzten Kleider und einige verstauchte Knöchel, die sie sich beim Laufen in dem ungeeigneten Schuhwerk zugezogen hatten, wohlauf zu sein. »Gott sei Dank.« Tristan atmete erleichtert auf. »Dann sind Sie also alle nur mit Blasen beworfen worden, nicht mit Speeren und Dolchen.«

Frau Schultz schnaufte erbost: »Was heißt hier ›nur‹! Wir sind voller Blut! Unsere Kleider sind hinüber! Und dazu der Schreck!«

»Ich will ja gar nicht verharmlosen, was Ihnen zugestoßen ist. Doch verglichen mit dem, was Ihnen hätte zustoßen können, hatten Sie noch einmal Glück.«

»Ich will«, posaunte die Gouverneursgattin aus voller Kehle, »dass Sie diesen Schuft fangen und erschießen. Haben Sie gehört!«

»Ich …«

»Sie werden nicht eher ruhen, bis Sie uns gerächt haben, Herr Leutnant! So etwas können wir doch nicht auf sich beruhen lassen.«

»Ich werde selbstverständ…«

»Kein Pardon für den Übeltäter. Keine Milde. Er gehört öffentlich hingerichtet, als Exempel für die anderen. Wo gehen Sie denn hin, Herr Leutnant?«

Tristan hatte sich abgewandt, weil einer der Kutscher ihn zu einem Muskatbaum rief. Hinter dem mächtigen Stamm, mitten im Gras, lag Tamaseu, der Polizist. Aus seinem Mund rann ein dünner Faden Blut, und er war ohne Bewusstsein.

»Schwacher Puls«, murmelte Tristan. »Keine äußere Verletzung. Er ist vermutlich von hinten mit einem stumpfen Gegenstand geschlagen worden. Wenn er nicht schnell versorgt wird, stirbt er womöglich.«

Gemeinsam mit dem Kutscher hievte er den Verletzten in eine der Kutschen.

»Was machen Sie denn da?«, fragte Frau Schultz.

»Er muss liegen. Wir bringen ihn ins nächste Dorf, nach Palauli.«

»Und wir?«

»Sie kommen selbstverständlich mit.«

»Mit einem blutenden Samoaner zwischen uns? Wie stellen Sie sich das denn vor? Unmöglich so etwas.«

Tristans Wangenknochen mahlten, und sein schmales Gesicht bekam einen Anflug von Härte. »Sie werden sich jetzt in die Kutsche begeben, gnädige Frau, in welche, das ist mir egal. Und dann rücken Sie alle ein wenig zusammen, davon geht die Welt nicht unter.«

Sie blies die Backen auf.

»Wir machen es haargenau so, wie ich es eben beschrieben habe«, kam er ihrem Protest zuvor. »Fräulein Hanssen, bitte helfen Sie den Damen beim Einsteigen. Ich hole die Pferde.«

Am liebsten hätte er die blasierten Weiber zurückgelassen, wäre er nicht verantwortlich für sie gewesen. Doch sein Ärger über das Verhalten der Gouverneursgattin trat schnell in den Hintergrund. Ihn beschäftigte etwas ganz anderes, ein Verdacht.

Und er musste diesem Verdacht, von dem er aus tiefstem Herzen hoffte, dass er falsch war, nachgehen.

Noch heute.

 

Palauli war ein typisch savaiianisches Dorf. Entlang des Weges, dessen Erde hart und von Unkraut befreit war, reihten sich die bunt angemalten Häuser vor der Kulisse des Tropenwaldes auf wie Farbtupfer auf einem impressionistischen Gemälde. Im safranfarbenen Licht des Mittags wirkte der Ort unwirklich und verlassen. Nichts rührte sich. Nicht einmal der Wind bewegte die Palmblätter, in deren Schatten Hunde jeder Rasse und Größe friedlich schlummerten. Das Leben schien stillzustehen. Nur im fono, im Versammlungshaus des Dorfes, saßen einige Männer beisammen, ohne miteinander zu sprechen. In offenen fale oder hinter Matten schliefen die Bewohner, auch die Kinder.

Tristan steuerte auf das Haus von Tuilas Eltern zu. Er hatte die Damen bei einem der wenigen deutschen Siedler in dieser Gegend abgesetzt. Der Mann verfügte über einige medizinische Kenntnisse, da er sein Land weitgehend selbst bewirtschaftete und oft mit kleineren Wunden und Verstauchungen zu tun hatte. Bei ihm waren sie gut aufgehoben, bis nachher eine Polizeieskorte, nach der er geschickt hatte, sie nach Upolu begleiten würde.

Den verletzten Polizisten wollte er in samoanische Pflege geben. Die Verwundungen waren zu schwer, als dass eine bloße Bandage geholfen hätte, und Tuila und ihre Mutter verstanden sich hervorragend auf die Heilung von Kranken. Doch er hatte noch einen weiteren Grund, weshalb er ausgerechnet zu Tuila wollte. Wenn – wie er vermutete  – Tupu der maskierte Täter gewesen war, musste er verwundet sein, und vielleicht würde er sich von seiner Mutter behandeln lassen.

Das fale lag am Rand des Dorfes, umstanden von Flamboyantsträuchern mit riesigen roten Blüten und von grünen Palmenfächern beschattet wie eine Laube. Die Bastmatten waren heruntergelassen, doch dahinter schien im Gegensatz zu den anderen Häusern reges Treiben zu herrschen. Der Geruch von Kokosseife und bitteren Kräutern hing in der Luft. Tristan wurde misstrauisch.

Er pochte mit der Faust an einen Pfosten. »Tuila! Tuila, bist du da?«

Nur einen Augenblick später schob sie die Matte zur Seite. In seinem Gesicht las sie sofort, dass etwas nicht stimmte.

»Was ist passiert?«

»Lange Geschichte. Ich habe einen verletzten Polizisten bei mir. Kannst du ihm helfen?«

Tuila trat aus dem Haus und betrachtete ihren Landsmann genau. Sie tastete seinen Hinterkopf ab, legte ihre linke Hand auf den Hals, die andere auf den Mund. Nach einer Weile sagte sie: »Ja, wir können ihm helfen.«

»Wird er überleben?«

»Wenn wir schnell sind. Bringe ihn rein. Ich rufe nach meiner Mutter.«

Ein Teil im Innern des fale war mit Tüchern verhängt, was unüblich war.

Tuilas Mutter kam sofort hinter den Tüchern hervor. Sie war klein und korpulent. Ihre Mandelaugen zwinkerten fröhlich, doch wenn sie die Arme in die breiten Hüften stemmte, was sie gern tat, wirkte sie durchaus Respekt einflößend. Tristan befolgte ihren Wunsch, er möge sie mit dem Verwundeten allein lassen. Er vertraute niemandem mehr als ihr – in medizinischen Dingen. Denn wenn es um ihren Sohn ging, würde jede Mutter lügen, auch sie.

Er nahm den Geruch von Blut wahr. Lag Tupu hinter diesen Tüchern?

Er entschloss sich, nicht hinter den Vorhang zu lugen. In samoanischen Augen wäre das ein unerhörter Vertrauensbruch gewesen.

Vor dem fale, im Schatten eines Flamboyantstrauches, wartete er auf Tuila. Die feuchte Glut des Tages hatte ihren Höhepunkt erreicht, und Tristan knöpfte seine Uniformjacke am steifen Kragen auf. Einige Dorfbewohner hatten mitbekommen, dass irgendetwas Ungewöhnliches geschehen war, doch sie waren zu gelassen, um zum Haus der Valaisis zu kommen. Stattdessen stützten sie sich nur auf den Ellenbogen auf und blickten im Halbschlaf herüber, und einige Kinder reckten die Köpfe zwischen den Matten hindurch wie Erdhörnchen.

Die Sonne stand schon lange nicht mehr im Zenit, als Tuila herauskam und sich neben ihn in den Schatten setzte. Ihre Wangen schimmerten wie Satin. Selbst jetzt, gezeichnet von Anstrengungen und nachdenklich, sah sie wie das blühende Leben aus.

»Er wird bestimmt gesund«, sagte sie. »Meine Mutter behandelt ihn mit geriebenen Wurzeln, um die Blutung zu stoppen.«

Tristan nickte dankbar. »Gut.«

Ein beängstigender Gedanke ergriff ihn: Wenn derjenige hinter dem Vorhang Tupu war, musste Tuila davon wissen. Würde auch sie ihn belügen, um ihren Bruder vor ihm zu schützen? Er konnte Tuila plötzlich nicht mehr in die Augen sehen, zu groß war seine Angst, sie könnten seine Gefühle offenbaren. Tuila hatte damals, als sie sich kennen lernten, die Liebe in ihnen gespürt, die Zärtlichkeit, die Zuneigung für ihr ganzes Volk. Er hatte auf dem Dorfplatz gestanden, sich als neuer Kommandant von Savaii vorgestellt und anschließend eine Schale kava mit dem Dorfersten getrunken. Tuila hatte ihn bewirtet. Danach waren sie ins Gespräch gekommen, hatten gelacht, hatten sich ineinander verliebt, und noch am gleichen Abend hatte sie es ihm gesagt, drüben im Kokoshain, bei einem Spaziergang: Ich spüre Zärtlichkeit in deinen Augen.

Sie würde auch das Misstrauen spüren.

»Was ist bei euch los?«, fragte er so harmlos wie möglich, glaubte jedoch, schon seine Stimme verriete alles.

»Was war bei euch los?«, fragte sie zurück.

Er nahm einen trockenen Zweig vom Boden und spielte mit ihm herum. »Ein Überfall. Die Mau wahrscheinlich.«

Tuila schüttelte fassungslos den Kopf. »So weit sind sie noch nie gegangen.«

»Es hätte auch mich erwischen können«, sagte er und konnte den Vorwurf in der Stimme nicht verbergen.

»Du musst in Zukunft mehr auf dich Acht geben«, bat Tuila.

»Ich kann nicht auf mich Acht geben, denn ich muss auf andere achten. Ich bin Offizier. Und wenn du etwas weißt, musst du es mir sagen.«

Über ihrer Nasenwurzel bildete sich eine winzige Falte. »Was könnte ich schon darüber wissen?«

»Keine Ahnung. Möglich, dass du oder deine Eltern hier oder da etwas aufschnappen. Dann muss ich davon erfahren. Mein Leben und das von anderen könnte davon abhängen. Nach dem heutigen Tag ist der Kampf gegen die Mau kein Spiel mehr.«

Die Falte wurde tiefer. »Denkst du denn, ich würde mit deinem Leben spielen?«

Der trockene Zweig brach in seinen Händen. Missgelaunt und unzufrieden mit sich selbst schleuderte er ihn fort und sagte: »Nein. Natürlich nicht.«

Tuilas Blicke aus schwarz glänzenden Augen tasteten sein Profil ab. Mit ihrer rechten Hand streichelte sie ihm über die Wange und drehte sein Gesicht sanft in ihre Richtung.

»Sieh mich an«, bat sie. »Du denkst, ich könnte etwas vor dir verbergen? Dir wehtun?« Plötzlich begriff sie. »Es ist der Vorhang, nicht wahr? Die Tücher im fale. Der Geruch von Blut.«

Ihre weichen, von Kokosöl schimmernden Finger ruhten noch immer auf seiner Wange, doch sie streichelten ihn nicht mehr. »Sag mir ganz offen, ob du glaubst, dass wir einen Mau bei uns verbergen.«

Er schluckte, zögerte. »Ich …« Jetzt spürte auch er, wie viel von dieser Frage abhing, mehr noch von der Antwort. Seit dem Überfall am Vormittag war er in seine Rolle als Deutscher zurückgefallen, ohne es zu merken. Es gab die Samoaner, von denen einige wenige Mau waren, und es gab ihn, der sie plötzlich alle verdächtigte. Sogar Tuila hatte er nicht freigesprochen, sie, der er gestern noch sein Leben anvertraut hätte. Das Attentat war nicht nur gegen die Deutschen gerichtet, es war auch ein Anschlag gegen die friedlichen Beziehungen zwischen Deutschen und Samoanern, gegen die Liebe zwischen Tuila und ihm. Und er hätte in seiner Verblendung – nachdem er den ersten Anschlag schon nicht hatte verhindern können – beinahe dem zweiten sogar höchstselbst zum Erfolg verholfen, indem er sich von seiner Nationalität und vom Argwohn beherrschen ließ.

»Nein«, sagte er, und dieses Wort brach wie der Stoßseufzer der Erleichterung aus ihm heraus. »Nein, das glaube ich nicht. Einen Moment lang war ich dumm genug, es für möglich zu halten, das gebe ich zu. Aber jetzt … Nein«, bekräftigte er noch einmal.

Tuilas Blick tanzte über sein Gesicht, als lese sie ein Buch. Dann, mit einem Mal, fiel sie ihm in die Arme. Sie schmiegte ihren Kopf an seinen.

»Tristan, lass uns nie wieder an uns zweifeln, ich bitte dich. Zweifel sind wie Ameisen, sie zerfressen alles. Nur wenn wir offen über unsere Ängste reden, können wir sie besiegen.«

Er küsste sie. »Du bist ja richtig weise.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ängstlich bin ich, das ist alles. Ich liebe dich, und ich will dich nicht verlieren.«

»Ich liebe dich, und ich verspreche dir, du wirst mich nicht verlieren. »

Sie lächelte zufrieden, aber er wusste, es könnte noch ein harter Kampf werden, eine Zerreißprobe für sie beide, wenn Tupu sich tatsächlich als der Täter herausstellte. Die ganze Welt schien gegen sie zu sein, doch wenn er Tuila im Arm hielt, ging etwas von ihrer Gelassenheit auf ihn über – wenn auch nur für Augenblicke.

Tuilas Mutter kam aus dem Haus. In den Armen trug sie einen schlafenden Säugling, eingewickelt in ein meerfarbenes Tuch.

»Susu mai, hört zu. Sie werden beide leben«, sagte sie abwechselnd an Tuila und Tristan gewandt. »Ich habe den Polizisten mit geriebenen Wurzeln behandelt, die Blutungen stillen. Er wird wohl wieder gesund, soweit ich das jetzt sehe. Zum Glück für ihn hatte ich alles schon griffbereit. Wegen der Kleinen hier. Sie hat’s auch geschafft.«

Tuila erklärte Tristan die Zusammenhänge. »Du musst wissen, dass Tupus Frau, Ivana, kurz bevor du kamst, ein Kind zur Welt gebracht hat. Zu früh eigentlich. Wir waren überrascht, es gab Komplikationen. Also ging meine Mutter in den Wald, um Wurzeln für Ivana zu besorgen.«

Tristan wunderte sich. »Ich habe gar nicht mitbekommen, dass sie schwanger war.«

»Sie hatte einen ziemlich flachen Bauch, außerdem trug sie weite Tücher. Aber ich habe dir von ihrer Schwangerschaft erzählt.«

Tristan rieb sich die Augen. »Ich muss es vergessen haben. Und ich habe tatsächlich einen Moment lang geglaubt …«

»Was geglaubt?«, fragte Tuilas Mutter.

»Das ist alles geklärt«, wiegelte Tuila ab. »Jedenfalls ist das Komische daran, dass Tupu es nicht erwarten konnte, sein erstes Kind endlich in den Armen zu halten, und nun, wo es da ist, ist er nicht da. Heute Morgen ist er weggegangen und bisher nicht zurückgekommen.«

»Er treibt sich zu viel rum«, zeterte Tuilas Mutter. »Aber jetzt, mit dem Kind, wird sich alles ändern.«

Das änderte wirklich alles, dachte Tristan. Tupu war heute Vater geworden. Er würde sich jetzt ein eigenes Haus bauen wollen, eine Plantage bewirtschaften, Kinder aufziehen, eine Familie gründen. Gesetzt den Fall, dass Tamaseu, der Polizist, wieder völlig gesund würde, war im Grunde nichts passiert, weshalb er Tupus Glück zerstören musste. Tuila und ihre Eltern, Ivana und ihr Kind, sie alle würden in Trauer und in Schande versinken, falls Tupu als Mau eingesperrt oder gar hingerichtet würde. Die schmutzigen Kleider aufgeplusterter Damen, die noch hundert andere Kleider besaßen, rechtfertigten seiner Meinung nach nicht die Zerstörung so vieler Existenzen. Und auch nicht die Gefährdung seiner Liebe und seiner Zukunft mit Tuila.

Aber eine Warnung, eine Lektion, die musste schon sein.

»Was hast du?«, fragte Tuila, die eine Veränderung in seinem Gesicht bemerkte.

»Nichts Besonderes. Mir ist nur durch den Kopf gegangen, was ich heute noch unbedingt erledigen muss. Kann Tamaseu bis morgen bei euch zur Pflege bleiben?«

Tuilas Mutter nickte. »Natürlich. Wir werden ein wenig feiern, aber das wird ihn eher aufmuntern als stören.«

Er stand auf, zog Tuila an den Händen zu sich hoch und verabschiedete sich zärtlich nach samoanischem Brauch, indem er seine Nase langsam an ihrer rieb. Dann roch er an der Blüte hinter ihrem linken Ohr, rupfte sich eine Flammentulpe vom Strauch ab, steckte sie hinter das seine und sagte: »Ich komme wieder vorbei, sobald ich kann.«

Tuila und ihre Mutter winkten ihm lächelnd nach, und als er schon auf dem Pferd saß und ein Stück fort war, wandte er sich noch einmal um. »Ach ja«, rief er, »ich habe ganz vergessen zu fragen, wie das Mädchen nun eigentlich heißen wird.«

Tuila formte die Hände zu einem Trichter um den Mund und antwortete, so laut sie konnte: »In eurer Sprache bedeutet ihr Name so viel wie ›Tochter des Landes‹. Bei uns heißt sie einfach Moana.«

 

Tristan verbrachte einige Stunden im Halbschlaf inmitten der Geräusche der Nacht. Flughunde schaukelten von Ast zu Ast, und von ferne grollte das Meer; Grillen zirpten, etwas pfiff andauernd in einem Unkrautbüschel, und die Moskitos summten und stachen. Auf den glänzenden Blättern der Palmen spielte das Mondlicht.

Er wartete am Rand des Weges, nahe bei Palauli. Irgendwann würde Tupu hier vorbeikommen, wenn er in das Haus seiner Eltern zurückkehrte. Die Sache musste so schnell wie möglich bereinigt werden. Tristan war bereit zu verzeihen, was Tupu getan hatte, und er würde gegenüber dem Gouverneur und Oberst Rassnitz vorgeben, den Täter nicht ermitteln zu können. Schon das war eine ausgestreckte Hand, eine Geste der Freundschaft. Aber mehr noch, er würde auch gegenüber seiner Familie schweigen, was Tupu Demütigung und Tadel durch seinen Vater ersparte. Er rettete ihm Freiheit und Ehre, womöglich das Leben. Dafür konnte er eine Gegenleistung verlangen.

Endlich sah er die schlanke, athletische Gestalt zwischen dem silbrigen Blattwerk auftauchen. Tristan gab seine Deckung auf. Als Tupu ihn erkannte, erschrak er.

»Was willst du?«, fragte er unsicher. »Warum verbirgst du dich, schleichst dich an?«

Tristan verzog seine Lippen zu einem frostigen Grinsen. »Ich mache nichts anderes, als du vorhin gemacht hast.«

»Ich weiß nicht, was du meinst. Ich war den ganzen Tag auf der Jagd.«

»Erfolg gehabt?«

Tupu schüttelte stumm mit dem Kopf.

»Du bist verletzt«, sagte Tristan mit einem Blick auf seinen Oberarm.

Tupu zögerte. Seine Augen flackerten im Mondlicht. »Das ist nur ein Ast gewesen.«

»Ziemlich tief für einen Ast. Sieht mir eher aus wie ein Streifschuss.«

Tupu fletschte seine weißen Zähne und machte einen Satz nach vorn, wie ein Tiger, um Tristan zu Boden zu reißen. Doch der war auf einen Angriff gefasst.

Nun machten sich Tristans zahlreiche, spielerische Raufereien der Jugendzeit mit den Söhnen der Pächter bezahlt, die Stürze im Heuhaufen. Er ließ sich zurückfallen, zog Tupu an den Armen mit sich und schleuderte ihn über sich, so dass sein Kontrahent in hohem Bogen auf dem Rücken landete. Tupu ächzte, und Tristan hockte sich blitzschnell auf ihn und hielt ihn am Boden.

»Du Dummkopf«, zischte Tristan. »Du hättest beinahe einen Polizisten umgebracht.«

»Das wollte ich nicht«, stieß Tupu jammernd hervor. »Susu mai, hör mir zu, ich habe ihn nur betäuben wollen. Mit einem Ast. In den Nacken. Das musst du mir glauben. Mein Schlag war fester, als ich dachte.«

»Und das Schweineblut, war das auch ein Versehen, hm? Du hast Frauen gejagt, Tupu. Wie ein Tier bist du hinter ihnen hergerannt. Was wolltest du damit bezwecken? Bist du einer von den Mau

»Ich verrate keinen.«

»Das verlange ich auch nicht.« Tristan lockerte seinen Griff etwas. »Herrgott, Tupu, wenn dir künftig etwas nicht passt, dann komm zu mir, tritt mir vor die Augen und sprich es aus. Meinetwegen schlage dich mit mir, wenn du wütend bist. Aber um Himmels willen, greife niemanden mehr an. Du bringst dich sonst um Kopf und Kragen.«

Tupu schluckte. In seiner Stimme vibrierte Hoffnung. »Heißt das, du lässt mich laufen?«

Tristan seufzte. »Dieses Mal noch, ja.« Er stand auf, reichte Tupu die Hand und half ihm auf die Beine. »Du hast Glück, dass der Polizist durchkommt, übrigens dank deiner Mutter. Sie pflegt ihn in eurem Haus. Du wirst die Nacht neben ihm schlafen, neben dem Mann, den du in deiner Torheit fast getötet hättest. Und neben deinem Kind, für das du ab heute eine große Verantwortung trägst.«

Tupus Augen weiteten sich. »Ivana hat mir einen Sohn geboren?«

»Eine Tochter«, korrigierte Tristan. »Sie heißt Moana. Und sie verdient einen Vater, der sie mit ehrlicher Arbeit ernährt und nicht vor dem Exekutionskommando endet. Werde endlich erwachsen, Tupu. Ich kann verstehen, dass du nicht gut auf Rassnitz zu sprechen bist, aber wir sind nicht alle so. Ich liebe deine Schwester, ehrlich und ohne Einschränkung, und ich will loyal zu ihrer Familie sein. Darum lass uns nicht zu Feinden werden, Tupu. Löse dich von den Mau

Tupu dachte nach, ging ein paar Schritte. Mondlicht und Schatten veränderten sein Gesicht zu fließenden Bewegungen wie ein Meer bei Nacht. Sein Körper, jung und voller Spannung, glänzte, eine Kette aus winzigen Muscheln hing um seinen Hals, die Tätowierungen an den Beinen leuchteten in kräftigem Blau. Alles an ihm drückte Jugend und Lebenskraft aus, einen Willen zur Zukunft, und Tristan schauderte bei dem Gedanken, dass Tupu diese Schätze des Lebens achtlos vergeuden könnte.

»Einverstanden«, sagte Tupu. »Ich sehe ein, dass ich falsch gehandelt habe.«

»Du wirst dich von den Mau trennen?«

»Ja.«

»Gibst du mir dein Wort?«

»Ja.«

»Dann lass uns die Sache vergessen. Ich werde nichts sagen, zu niemandem.«

Tristan reichte ihm die Hand, zog ihn an sich und klopfte ihm mit der flachen Hand auf den Rücken. »Lass uns von jetzt an Freunde sein, Tupu.«

Tupu nickte, und nach einer kurzen Verabschiedung ritt Tristan in die Nacht davon.

Was für ein Tag, dachte er. Aber er war erfolgreich gewesen. Clara Hanssen wusste nun, woran sie mit ihm war, die Damen würden ihn so schnell nicht mehr belästigen, er hatte sich mit Tuila ausgesprochen und Tupu vor einer Katastrophe bewahrt. Verglichen mit der Situation vor achtzehn Stunden ging es Tristan hervorragend.

 

Tupus Hände zitterten.

Er stand noch immer dort, wo er Tristan verabschiedet hatte. Das Haus der Eltern lag keine hundert Schritte entfernt, verheißungsvoll zeichneten sich die Lichter in der silbrigen Nacht ab. Seine Frau lag dort, wartete auf ihn. Alle warteten. Moana, das Kind, das den Vater noch nicht gesehen hatte. Die Eltern, die ihn beglückwünschen wollten. Ein paar Freunde und Nachbarn vielleicht. Der Dorferste womöglich.

Vergeblich versuchte er, das Zittern seiner Hände zu unterdrücken.

Er hatte einen Menschen überfallen, beinahe getötet. Sein Plan hatte einfach nur vorgesehen, die deutschen Frauen mit Schweineblut zu bewerfen. Die Mau hatten von dem Picknick der Gouverneursgattin erfahren, und sie hatten ihm die Aufgabe gestellt, es irgendwie zu stören. Von Begleitschutz hatte niemand gesprochen, schon gar nicht von Tristan. Erst als er sich anschlich, bemerkte Tupu den Polizisten. Da war es zu spät, einen Rückzieher zu machen. Also suchte er sich in der Nähe einen starken Ast, um die Wache damit bewusstlos zu schlagen.

Doch dann, als er sich anschlich, passierte es, Tupu wusste selbst nicht, woher es kam und warum. Er sah plötzlich nicht einfach einen Menschen, den er überwinden musste, er sah nur noch eine Uniform, das weiße Kleid der Fita-Fita, das Symbol für die Fremdherrschaft. Wenn es keine Samoaner gäbe, die mit den Deutschen gemeinsame Sache machten, wären die Besatzer hilflos. Dann könnte das alte Samoa wiedererstehen, das stolze Volk, das es noch vor einem halben Jahrhundert gewesen war, bevor die Briten, Amerikaner und Deutschen mit ihrem Gin, ihrem Hochmut und der heuchlerischen Religion gekommen waren. Sein ganzer Hass auf diese Uniform und die ganze Anspannung wegen der ihm gestellten Aufgabe entlud sich in einem einzigen gewaltigen Schlag.

Seither zitterten seine Hände.

Er lief jetzt in den finsteren Wald, obwohl er sich dort fürchtete. Hier wohnten die Geister der unbetrauerten Toten, die sich immer dort aufhielten, wo sie bei Zweikämpfen oder Schlachten gestorben waren und danach unentdeckt verwesten. Am Tage hatten sie die Gestalt von Schweinen, Vögeln oder Insekten, aber nachts nahmen sie ihr altes menschliches Aussehen an und überfielen einsame, unvorsichtige Wanderer, um sie zu ihresgleichen zu machen. Auch der Christengott hatte niemandem die Angst vor ihnen nehmen können, sie blieben gefürchtet, aber als Teil der alten Religion auch geachtet.

Tupu rannte. Er lief vor den Geistern weg, aber auch vor sich selbst, vor dem, was in ihm vorging, genauso wie er am Mittag nach dem Überfall in den Wald gelaufen war. Er war erschrocken gewesen, nicht nur darüber, dass Tristan auf ihn schoss, sondern vor seinen eigenen Gefühlen. Den ganzen Tag hatte er sich versteckt gehalten, so dass ihn niemand finden konnte, nicht die Deutschen, nicht die Mau.

Er rannte weiter durch den dunklen Wald, fast geräuschlos über Moose und Flechten. Sein Atem ging schnell. Ja, der Schreck steckte noch immer in ihm, aber dazugekommen war der Stolz, etwas bewirkt zu haben. Er hatte ein Zeichen gesetzt.

Nein, die heutige Tat durfte nicht das Ende sein. In ihm brannte ein Feuer, loderte höher und immer höher, und selbst wenn er es hätte löschen wollen – er konnte es nicht.

Er schob ein paar Blätter zur Seite. Vor ihm, mitten im Wald, erhob sich die Pulemelei-Pyramide, von den Vorfahren erbaut in ferner Vergangenheit, so fern, dass niemand mehr wusste, wozu sie gedient hatte. Heute jedoch erfüllte sie wieder einen Zweck. Hier trafen sich bei jedem Vollmond und jedem Neumond die Mau zu ihren geheimen Besprechungen. Sie beteten die Geister an und erbaten für sich Mut und Kraft.

Die Mau: Sie würden stolz auf ihn sein, seine Mannhaftigkeit loben. Sie würden ihm Eigenschaften zugestehen wie noch keinem vor ihm, Worte aussprechen, die ihn aufrichteten.

Er ging auf den geheimnisvollen, steinernen Bau zu.

Ein paar Gestalten näherten sich ihm wie Geister.