10

Ane bog mit quietschenden Reifen in die Einfahrt des Aggie Grey’s ein und blieb irgendwo auf dem Parkplatz stehen.

Es ist ein Wunder, dachte sie bei einem Blick in den Rückspiegel, dass ich bisher niemanden über den Haufen gefahren habe, so verheult, wie ich bin.

Schon auf der Strecke vom Papaya-Palast nach Salelologa hätte sie beinahe ein Auto gerammt, und wenn es nicht im letzten Moment an die Seite gefahren wäre … Sie hatte es durch den Wasserschleier auf ihren Augen einfach nicht kommen sehen, wollte dann aber auch nicht anhalten, um die Fähre nicht zu verpassen. In Salelologa war sie nicht in der Lage gewesen, den Wagen korrekt auf der Autofähre zu parken. Drei Anläufe hatte sie unternommen, war immer wieder vom Kapitän zurückgescheucht und neu eingewiesen worden, bis sie schließlich einem Mann der Besatzung das Einparken überlassen hatte. Zitternd, völlig fertig mit den Nerven, war sie in einen Winkel des Decks gegangen, dorthin, wo die Maschinengeräusche so laut waren, dass niemand der Fahrgäste sich dort aufhalten wollte. Lange war sie jedoch nicht allein geblieben. Ein Tourist hatte sich neben sie gestellt und sie aus dem Augenwinkel beobachtet.

»Was denn, was denn«, hatte er gesagt. »Liebeskummer? So schlimm wird’s schon nicht sein.«

Zuerst ignorierte sie ihn, entfernte sich zwei Schritte, doch er folgte ihr. Als er ihr ein Papiertaschentuch anbot, nahm sie es an.

»Danke«, sagte sie. »Ich muss furchtbar aussehen.«

»Nicht doch, nicht doch«, entgegnete er. »Im Gegenteil.«

Und dann tätschelte er ihren Hintern.

Sie war sofort auf die Damentoilette der Fähre geflohen, wo es heiß war und stank, aber wenigstens herrschte dort so viel Betrieb, dass sie sicher war, nicht belästigt zu werden. Erst als das Schiff sich Apia näherte, hatte sie das Klo verlassen und sich sofort an das Steuer ihres Wagens gesetzt.

Überraschenderweise war es ihr gelungen, sicher die Rampe hinunterzufahren, doch kaum war das geschafft, hatten neue Tränen ihren Blick verschleiert. Außerdem war ein Regenschauer niedergeplatscht und hatte alles nur noch schlimmer gemacht. Sie hatte Kurven genommen, die sie kaum sah, war über einen Bordstein geholpert, hatte zwei lautstarke Flüche von Fahrradfahrern und das kräftige Hupen eines Lieferwagens verursacht, aber irgendwie war sie vorangekommen.

Und jetzt parkte sie auf dem Hotelparkplatz ein und stieg mit zitternden Knien aus. Der Regen war ihr egal, sie dachte nur an Raymond, an das, was Raymond ihr sagen würde.

Die graue Gestalt, die näher kam, bemerkte sie erst, als sie neben ihr stand.

Joacinos Stimme war so leise und weich, dass sie sich mit dem Regen zu vermischen schien. »Scheint so, dass es immer regnet, wenn wir uns begegnen.«

Sie antwortete ihm nicht, sondern sah ihn nur an. Beide waren klatschnass, der warme Regen durchtränkte ihre Kleidung und lief ihnen in dicken Tropfen über das Gesicht.

»Ich wollte dich unbedingt wiedersehen«, bekannte er. »Seit Tagen warte ich jede freie Minute vor dem Hotel auf dich. Meine Freunde halten mich für verrückt, aber ich … Natürlich weiß ich, dass du verlobt bist.«

»Verlobt?« Ihr fiel der kleine Schwindel von neulich wieder ein. »Ach so, ja. Raymond. Weißt du, das mit ihm ist – kompliziert.«

»Heißt das, ich darf dich mal zu Hause besuchen? Ich habe herausgefunden, wo du wohnst. Passt es dir sonntags? Das ist leider der einzige Tag, an dem ich die Austernfarm allein lassen kann.«

Während Ane schon unter dem Baldachin des Hotelportals stand, wartete Joacino im strömenden Regen auf ihre Antwort. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Beinahe kam es ihr vor, als stünden zwei verschiedene Menschen vor ihr. Sie sah Joacinos schlankes Gesicht mit den großen, hoffnungsvollen Augen, die in der Stirn klebenden, kurzen schwarzen Haare und das nasse Hemd, das sich wie eine zweite Haut an seinen Körper schmiegte. Das war der eine Joacino, der, den sie nach Hause einladen wollte.

Der andere Joacino war Perlenzüchter.

Als er ihre Unentschiedenheit bemerkte, bot er an: »Wir können uns natürlich auch in Apia treffen, wenn dir das lieber ist. Vielleicht willst du ins Kino gehen?«

Hinter ihr öffnete der Portier die Tür, und sie fühlte die feierliche Schwere des Luxushotels im Rücken, glaubte das kostbar verarbeitete Holz und die Portweinatmosphäre der Säle zu riechen, hörte leise europäische Konzertmusik, untermalt vom seichten Fünf-Uhr-Tee-Geplänkel der Gäste, sah durch die Gardinen der Lounges die warmen Schwefel- und Rosentöne der Tapeten schimmern … Alles atmete Komfort und Wohlstand.

Dort drinnen, dachte Ane, ist meine Heimat.

»Es hätte keinen Sinn, Joacino. Ich bin Model, und du, du bist nur ein Austernfarmer.«

 

Ray Kettner saß auf einem Stuhl, die Füße auf dem Schreibtisch, und sah gelassen zu, wie Ane schon das zweite Glas Whiskey zitternd einschenkte, runterkippte und das Gesicht verzog. Sie war natürlich keine harten Sachen gewöhnt; er hatte sie nie etwas anderes trinken sehen als Champagner oder Cocktails mit bunten Schirmchen drin. Trotzdem ließ er sie auch das dritte Glas einschenken. Sie schien es nötig zu haben, so verstört und verängstigt wie sie aussah.

Wie billig solche Mädels wirken, wenn es ihnen mal dreckig geht, dachte er.

Wenn er in den letzten Tagen noch einen Rest Gefallen an Ane gefunden hatte, so war dieser Rest vom Regen und von ihrem endlosen Geheule weggespült worden. Klar, sie war ein hübsches Ding, eine Südseeschönheit, wie es sie hier zuhauf gab. Ihre Brüste waren ihm immer zu klein gewesen, dafür duftete sie gut nach einer Kokosseife und trug schicke Kleider. Darüber hinaus hatte er noch irgendetwas an ihr gemocht, ohne zu wissen, was. Vielleicht ihren kalten Egoismus, vielleicht auch den ein wenig unbeholfenen Ehrgeiz. Zumindest war sie keine Neurotikerin wie die meisten Frauen, wie auch diese Evelyn, die einerseits mit ihm ins Bett gegangen war und ihren Mann betrogen hatte, sich andererseits aber wegen ein paar Bäumen aufregte.

»Bevor du umkippst«, sagte er gelassen, »erzählst du mir vielleicht noch, was passiert ist.«

Das nunmehr dritte Glas führte sie mit ruhiger Hand zum Mund. »Was glaubst du wohl, was ich gerade eben getan habe?«, fragte sie aggressiv. Der siebenundvierzigprozentige Alkohol wirkte bereits.

»Mir unzusammenhängendes Zeug erzählt, das hast du getan«, entgegnete er. »Und jetzt noch einmal von vorn. Woher weißt du, dass deine Großmutter nicht mehr verkaufen will? Hat sie es dir gesagt?«

»Nein, das musste sie auch nicht. Ich habe es ihr angesehen.«

»Angesehen«, wiederholte er.

»Ihrem Gesicht!«, rief sie entnervt. »Es stand ihr im Gesicht geschrieben.«

Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Hättest du vielleicht noch andere Hinweise auf ihren Rückzieher zu bieten? Einen gekrümmten Finger womöglich? Ein Hautausschlag? Mundgeruch? Oder stand es nur in ihrem Gesicht geschrieben

Sie knallte das schwere Whiskeyglas auf die Tischplatte und funkelte ihn zornig an. Da riss ihm der Geduldsfaden. Betrunken oder nicht, sie sollte merken, dass man so nicht mit ihm umspringen konnte. Er schnellte hoch, verpasste ihr eine Ohrfeige, fast schon einen Schlag, der sie zu Boden warf, verschloss demonstrativ die Flasche und setzte sich wieder auf den Stuhl zurück.

»So«, sagte er ruhig mit seiner rauchigen, wohlklingenden Stimme. »Steh auf und beantworte meine Fragen.«

Jegliche Aggressivität war von ihr gewichen, und sie war wieder das folgsame kleine Biest, das er kannte. Zufrieden blickte er sie an.

»Schön«, sagte er, als sie endlich stand. »Jetzt mal alles hübsch der Reihe nach. Was ist passiert?«

Sie schluckte und erklärte mit ängstlicher, reuevoller Stimme: »Ili saß auf der Veranda. Moana ging zu ihr hinüber und warf ihr einen Zettel zu – sie spricht ja nicht mit ihr. Ili las den Zettel, guckte verwundert, dann fröhlich, und Moana kam wieder zurück ins Haus. Sie sah mich auf eine Weise an, die – die unmissverständlich war.«

»Was war der Auslöser?«, wollte Ray wissen. »Die Sache mit der Rodung?«

Sie wiegte unentschlossen den Kopf.

»Der Brand?«

Sie wiegte erneut den Kopf.

»Also einfach ein Meinungsumschwung, ja? Eine Laune, wie sie bei alten Leuten manchmal vorkommt?«

Er spürte, dass sie log. Dieses Biest verheimlichte ihm etwas. Aus zuverlässiger Quelle wusste er, dass die Greisin, nachdem sie von der Rodung erfahren hatte, noch immer zum Verkauf bereit war. Er hatte kürzlich einen Lauscher in der Nähe des Hauses postiert, und der hatte deutlich gehört, wie sie über das ganze Gelände hinwegposaunt hatte, das Land herzugeben. Und auch der Brand dürfte sie kaum umgestimmt haben. Der von ihm engagierte Brandstifter hatte, wie von Ray befohlen, zur Warnung lediglich jenen Flügel des Hauses angezündet, in dem die trotzige Ili wohnte – und Evelyn. Beim Wegwerfen der Brandfackel hatte der Trottel zwar versehentlich auch einen Teil der Plantage entzündet, doch auch das dürfte Moana kaum gestört haben.

Irgendetwas stimmte an dieser Sache nicht, das fühlte er in jeder Faser seines Körpers.

Doch eigentlich konnte ihm dieses Geheimnis ebenso egal sein wie das Mädchen, das das Geheimnis bewahrte. Längst war er dabei, Plan B in die Tat umzusetzen, und der funktionierte unabhängig von Ane und diesen beiden Omas.

Aus Anes Handtasche, die sie auf dem Schreibtisch abgestellt hatte, kramte er den Autoschlüssel heraus, griff in die Schublade, zog einen Umschlag hervor und warf ihn quer durch den Raum vor Anes Füße.

»Was ist das?«, fragte sie verdutzt. Sie öffnete den Umschlag, in dem sich zwei Zehn-Dollar-Scheine befanden.

»Der eine Zehner ist dein Taxigeld nach Hause.«

»Taxi? Aber ich habe doch den Jeep.«

»Irrtum, ich habe den Jeep. Meine Unterschrift steht unter dem Leasingvertrag, und die Papiere laufen auf meinen Namen. Der zweite Zehner ist übrigens dein Honorar. Für die Probeaufnahmen, du weißt schon. Mehr kriegst du nicht, und mit dem Shooting brauchst du nicht vor dem – na sagen wir – vor dem nächsten Jahrhundert zu rechnen. Falls du so alt wirst wie die anderen Frauen deiner Familie, wird das ein prima Foto für eine Reportage über Hundertjährige.«

An ihrem Gesichtsausdruck erkannte er, dass sie noch immer nicht verstand.

»Ich brauche dich nicht mehr«, verdeutlichte er ihr. »Du bist für mich so überflüssig wie ein Blinddarm – und für die Modewelt sowieso. Kapierst du noch immer nicht? Du bist raus, mein Schatz. Von jetzt an ziehe ich die Sache auf meine Weise durch.«

Ane sah ihn mit großen Augen an, und er hielt ihrem Blick stand. Ein paar Sekunden bewegte sich keiner von ihnen, dann, plötzlich, packte sie ihre Tasche und rannte zur Tür. Als sie sie aufriss, lief sie einem Mann in die Arme.

»Entschuldigung«, sagte er überrascht. »Ich wollte zu Mr. …«

Sie rannte fort, ohne ihn zu beachten.

Er wunderte sich kurz und pochte mit dem Finger gegen die offene Tür. »Mr. Kettner?«, fragte er. »Wir haben einen Termin. Mein Name ist Braams, Carsten Braams.«

Verdammt, dachte Ray, sie haben mir einen Europäer geschickt.

 

Er konnte Europäer nicht ausstehen, gleichgültig, welche. Alle Europäer waren entweder Aristokraten, Baguettefresser, Pazifisten oder – was am schlimmsten war – Katholiken. Sie stanken allesamt nach Knoblauch, tranken fast nur Rotwein und waren im Grunde nichts anderes als Bewohner etwas besserer Entwicklungsländer, denn sie übernahmen mit fünfjähriger Verspätung alles, was zuvor in den Vereinigten Staaten erfunden und erprobt worden war.

»Herein, immer herein«, rief er und klopfte Carsten zur Begrüßung auf die Schulter. »Braams, ja? Sind Sie Schwede?«

»Deutscher.«

»Deutscher, ja? Na, dann wissen Sie wenigstens, was kämpfen heißt.« Er lachte. Dann fiel ihm etwas ein. »Hier scheint’s eine Menge Deutscher zu geben, und Braams ist wohl ein häufiger Name in Ihrem Land, wie? In dem Haus, um das es bei unserer Besprechung gehen wird, lebt eine Frau, die …«

»Das ist meine Ehefrau«, erklärte Carsten.

Ray stutzte. »Ihre … Moment, da muss ich nachfragen, damit ich das richtig verstehe. Ihre Frau will mir das Geschäft verderben, und Sie helfen mir, damit ihr das nicht gelingt?«

Ray brach innerlich in Gelächter aus. Das war ja grandios, fast filmreif. Nicht nur, dass die Eheleute auf verschiedenen Seiten fochten, der ahnungslose Carsten unterstützte sogar den Mann, mit dem Evelyn ihn betrogen hatte. Herrlich!

Ray stellte sich Carstens Gesicht vor, wenn er ihm nach erfolgreichem Abschluss des Geschäfts mitteilen würde, dass seine Frau mit ihm im Bett gewesen war, mit einem richtigen Mann statt diesem Abziehbild.

»Kommen Sie, Carsty«, sagte er grinsend. »Setzen Sie sich. Was wollen Sie trinken? Ich habe einen hervorragenden Whiskey da, einen amerikanischen. Nicht dieses schottische Zeug, das schmeckt immer irgendwie nach Fisch und Algen, finden Sie nicht?«

»Für mich nichts, danke«, sagte Carsten, schlug die Beine übereinander und legte den Aktenkoffer darauf. »Also, Mr. Kettner, ich komme gerade …«

»Warum so förmlich?«, unterbrach er den Deutschen. »Nennen Sie mich Ray. Immerhin haben wir so einiges gemeinsam.«

Carsten verzog die Lippen zu einem bemühten Lächeln. »Gerne – Ray. Wie ich also bereits andeutete, komme ich soeben vom zuständigen Regierungsbeamten.«

»Bringen Sie’s auf den Punkt«, sagte Ray. »Hat der Kerl zugesagt?«

»Ja.«

Ray goss zwei Gläser Whiskey ein und drückte Carsten eines davon in die Hand. »Sie haben mir und Ihrer Bank verdammte zwölf Millionen gerettet, Carsty. Gute Arbeit. Aber was wird Ihre Frau dazu sagen?«

»Es wird ihr nicht gefallen«, seufzte Carsten. »Zum ersten Mal seit langem schenkt sie einer Aufgabe wieder Beachtung, engagiert sich. Und jetzt …« Mehr schien er einem Fremden darüber nicht erzählen zu wollen.

Ray gefiel dieses Thema aber viel zu gut, um es schon wieder fallen zu lassen. »Engagement«, sagte er, »ist gar kein Ausdruck für die Art und Weise, mit der Evelyn sich hineinsteigert  – Entschuldigung, ich nenne sie einfach Evelyn, weil wir uns schnell beim Vornamen genannt haben.«

Carsten nickte. »Sie erwähnte, dass Sie sich begegnet sind.«

»Mehrere Male. Wir haben uns einen ziemlich heißen – Austausch geliefert.«

»Tatsächlich?«

»Sie hätten dabei sein sollen. Es war atemberaubend, wie Ihre Frau sich geschlagen hat. Evelyn hat Temperament, keine Frage.«

»Im Grunde ist es schön zu hören, dass sie wieder aus sich herausgeht. In den letzten Jahren war sie etwas verschlossen.«

Ray grinste in sein Whiskeyglas hinein. »Tja, Evelyns plötzliche Veränderung hat wohl mit mir zu tun. Ich habe etwas an mir, das – reizt. Diese Erfahrung habe ich schon oft gemacht. Sehr oft sogar.«

Er stand auf und klopfte Carsten kameradschaftlich auf die Schulter. »Wie auch immer. Sosehr ich Ihrer Frau die neue Leidenschaft gönne: Am Ende zählt das, was für mich dabei herausspringt. Am Ende zählt mein Erfolg. Ich hoffe, ich kann auch weiterhin auf Sie zählen, Carsty.«

»Selbstverständlich«, sagte Carsten, wieder ganz Geschäftsmann. »Sie, Ray, und meine Frau – das hat nichts miteinander zu tun.«

Ray lachte kurz auf und hob das Glas. »Das haben Sie schön gesagt. Darauf trinken wir.«

 

Evelyn saß im Ananas vor einem alkoholfreien Cocktail und wartete auf Carsten. Er war schon über die Zeit, doch das störte sie nicht, denn das Treiben in der gemütlichen, von Fackeln erhellten Bar war bunt und stimmungsvoll. Eine Hand voll junger Einheimischer feierte eine fiafia, das samoanische Wort für Party, bei dem Blumenketten, ölgesalbte Körper und abwechselnder Tanz von Männern und Frauen ebenso dazugehörten wie zärtliche Blicke und viel Gelächter. Evelyn wiegte sich leicht im Takt der Musik. Sie musste wohl derart amüsiert die Tänzerinnen beobachtet haben, dass eine von ihnen zu ihrem Tisch kam und sie aufforderte mitzutanzen.

»Ich? Oh, nein, nein«, wehrte sie lachend ab, doch die Samoanerin ließ nicht locker und zog Evelyn in die Mitte der Bar, wo sie in einem Kreis anderer Frauen versuchte, deren Schritte und Bewegungen nachzuahmen. Nach anfänglichen Mühen gelang ihr das sogar recht gut, und nach ein paar Minuten fühlte sie sich ausgesprochen wohl. Sie dachte an das, was Ili neulich zu ihr gesagt hatte, dass sie keine Fremde auf Samoa war. Nicht nur die Menschen hier schienen das zu spüren, sondern auch sie selbst – ein ungewohntes, willkommenes Gefühl.

Erst als die Männer wieder an der Reihe waren, verabschiedete Evelyn sich von den anderen und ging an ihren Tisch zurück. Erhitzt vom Tanz, nahm sie einen Schluck des erfrischenden Cocktails und ließ ihn langsam die Kehle hinunterrinnen. Sie genoss den Geschmack nach Mango, Kokos und Noni-Früchten, genoss die Wärme und Musik, die farbige Fröhlichkeit um sie herum.

Dieser Abend, dachte sie, soll ein Aufbruch werden.

Sie wusste noch nicht, wohin der Aufbruch gehen sollte, wie lange der Weg sich erstrecken und welche Mühen er mit sich bringen würde, aber sie spürte, dass einige Dinge in ihr sich geändert hatten. Mit Ili über Julia zu sprechen, war ein überraschend intensives Erlebnis gewesen, und noch intensiver war es, mit Julia zu sprechen, Gedanken mit ihr zu teilen, einen Brief zu schreiben. Das hatte Evelyn geholfen. Anfangs zweifelnd, ob dieser Vorschlag Ilis nicht bloß halb polynesischer, halb esoterischer Hokuspokus war, hatte sie sich schnell in das Schreiben des Briefes vertieft. Sie formulierte Dinge, die sie noch nie ausgesprochen, gestand sich Gefühle ein, die sie sich noch nie eingestanden hatte. Die Worte strömten aus ihrer Feder. Zwei Stunden schrieb sie, zu Beginn völlig durcheinander, jedem einzelnen Gedanken folgend, doch dann immer geordneter. Und schließlich, mitten im Brief, mitten in einem Satz, ließ sie den Stift sinken und spürte den Wunsch, Carsten anzurufen.

»Gut, dass du mir das Handy gegeben hast«, sagte sie. »Ich habe gerade an dich gedacht und dass wir uns noch mal zusammensetzen wollten.«

»Und ich denke andauernd an dich«, erwiderte er mit hoffnungsvoller Stimme.

Sie lächelte am Telefon. »Dann komme ich jetzt nach Apia, ja?«

Er zog die Luft durch die Zähne. »So ein Mist, ich habe gleich eine Besprechung mit – mit einigen Herren. Die wird bestimmt drei Stunden dauern.«

Carsten hatte offensichtlich Probleme damit, Ray Kettners Namen ihr gegenüber auszusprechen, und sie hatte diese Probleme aus ganz anderen Gründen ebenfalls. Ihm war es einfach unangenehm, dass sie in dieser Sache verschiedene Ansichten vertraten – ein unglücklicher Umstand, der allerdings bald beendet wäre, denn der Verkauf des Landes würde nicht stattfinden und die dadurch entstandene Rivalität zwischen ihnen beendet sein. Ihre eigenen Gründe dagegen würden fortbestehen, auch wenn sie sie am liebsten ungeschehen gemacht hätte.

Der heutige Abend sollte ein Stück Nähe und Vertrauen zwischen ihnen zurückbringen, auch wenn sie nicht wusste, wie so etwas vor sich gehen könnte. Aber sie wollte den Versuch dazu machen.

»Das macht nichts«, sagte sie gut gelaunt. »Wie wäre es dann mit heute Abend, sieben Uhr?«

»Prima«, rief er. »Das Aggie Grey’s hat ein vorzügliches Restaurant.«

Ihr war nicht nach Pianogeklimper und gediegenem Ambiente, nach Romantik und Melancholie zumute. Sie war – fast schämte sie sich dieses Gefühls – in Feierlaune. Sie wollte etwas tun, was sie schon sehr lange nicht mehr mit Carsten getan hatte: lachen.

»Ich möchte lieber in eine Bar«, sagte sie. »Ili hat das Ananas empfohlen, dort gehen vor allem Einheimische hin. Um acht Uhr? Dann kann jeder von uns vorher noch etwas essen.«

»Eine Bar?«, fragte er zögernd. »Ich weiß nicht recht, Evelyn.«

»Also abgemacht! Um acht Uhr im Ananas. Ich zahle. Ciao.«

Natürlich hatte sie sich zunächst gefragt, was Carsten gegen eine Bar einzuwenden gehabt hatte, aber jetzt, umgeben von den fast betäubenden Gerüchen des Gins, Rums und Mangolikörs, verstand sie seine Besorgnis – die allerdings unbegründet war. Der Alkohol, der stets nur den Zweck gehabt hatte, das Grau in ihrem Kopf zu färben, lockte sie nicht mehr, und der kühle Saftcocktail schmeckte ihr ausgezeichnet. Trotzdem war Evelyn nach Champagner zumute oder nach irgendetwas, das den besonderen Charakter dieses Tages unterstrich, des Tages von Ilis Sieg – und ein wenig auch von ihrem eigenen Sieg.

»Wollen Sie nicht doch mitkommen?«, hatte sie Ili vor ihrem Aufbruch nach Apia ein weiteres Mal gefragt. Sie hatten beide vor dem umu gesessen, dem Erdofen. Da die Küche nicht mehr funktionstüchtig war, hatte Ili ein kleines Feuer entzündet, Lavagestein erhitzt und in eine Mulde gelegt, anschließend Früchte, Taros und zwei im Netz gefangene Fische in Bananenblätter gewickelt und ein wenig Erde darauf geschichtet. Ein dünner Rauchfaden und der Duft der schmorenden Brotfrüchte und Bananen stieg in die Höhe.

»Ihr Mann wird sich bedanken, wenn Sie eine Einundneunzigjährige zu Ihrer Aussprache mitbringen«, sagte Ili lachend.

Evelyn widersprach: »Es wird keine Aussprache. Heute sollten wir es uns einfach mal gut gehen lassen, wir drei. Er ist sehr charmant, Sie werden ihn mögen. In unserer Frankfurter Nachbarschaft war er der Schwarm aller Rentnerinnen. Na ja, ich weiß, dass er auf der falschen Seite stand, aber das ist ja nun vorbei.«

»Darum geht es doch gar nicht«, wandte Ili ein. »Ich bin sicher, dass Carsten ein netter Mensch ist, und ich freue mich, dass es Ihnen so gut geht, Evelyn, ja wirklich. Und dass Sie ein wenig feiern wollen, ist der schönste Beweis dafür. Aber warum, in aller Welt, mit einer alten Schachtel wie mir?«

»Jetzt hören Sie sich fast schon an wie die Frau des deutschen Gouverneurs, diese Gertrude Schultz«, scherzte Evelyn, und auch Ili musste schmunzeln.

»Dass es mir so gut geht, ist auch Ihr Verdienst«, erklärte Evelyn. »Abgesehen davon haben Sie selbst auch etwas zu feiern. Ich will nicht, dass Sie an einem solchen Abend allein in Ihr Feuer starren. Ich dachte, die Samoaner feiern, was das Zeug hält.«

Ili lächelte. »Mit neunzig hören sie damit auf.«

Evelyn wollte etwas sagen, doch Ili kam ihr zuvor.

»Außerdem müsste ich über Nacht in Apia bleiben, denn nach Einbruch der Dunkelheit geht keine Fähre mehr. Sie können bei Ihrem Mann im Hotelzimmer schlafen, doch ich zweifle daran, dass er mich in der Bettritze liegen haben möchte. Mir wird das alles zu anstrengend, Evelyn. Lassen Sie uns hier feiern, im Papaya-Palast, irgendwann in den nächsten Tagen.«

Evelyn hatte sich damit abgefunden, dass Ili nicht mitkommen wollte, aber über die Motive hatte sie ihre eigenen Vermutungen angestellt. Moanas Streit mit Ane, Moanas plötzlicher Sinneswandel, Anes Verschwinden – über das alles war Ili ihr eine genauere Erklärung schuldig geblieben.

Auch jetzt noch, in der ausgelassenen Atmosphäre des Ananas, dachte sie darüber nach. Ili hatte sich zwar den ganzen Tag über Moanas Entscheidung gefreut, trotzdem war sie zwischendurch seltsam gedankenverloren gewesen, so als zögen Wolken über eine helle Landschaft. Natürlich hatte Evelyn versucht, mehr aus ihr herauszubekommen, doch Ili war verschlossen geblieben und hatte ausweichend geantwortet. Trotz des Erfolges schien sie definitiv nicht zum Feiern aufgelegt zu sein.

Jemand beugte sich von hinten über sie und küsste sie auf die Wange.

»Da bin ich, Schatz«, sagte Carsten. »Tut mir Leid, ich bin zu spät. Das Essen hat sich hingezogen. Was trinkst du da?«

»Etwas Alkoholfreies mit viel Kokos.«

»Dann nehme ich das auch«, erwiderte er.

Er trank sonst nie alkoholfreie Getränke, nicht umsonst war der Weinkeller in Frankfurt immer gut gefüllt gewesen. Dass er es heute doch tat, war ein Beweis dafür, wie ernst er neuerdings ihre Probleme nahm. Er sah den Dingen ins Auge, das war ein Anfang, ein vielversprechender Anfang.

»Es gibt ein chinesisches Sprichwort«, sagte sie. »Auch ein Weg von tausend Meilen beginnt mit dem ersten Schritt. Ich hoffe, wir tun ihn heute Abend.«

Carsten legte seine Hand auf ihre. »Ich bin froh, dass du das sagst. Du weißt gar nicht, wie froh.«

Er sah sehr gut aus, in diesem schmeichelnden Licht noch besser als sonst. Offenbar hatte er sich nach dem Essen frisch rasiert, denn Wangen und Kinn waren nur von einem kaum sichtbaren blauen Schatten bedeckt, und der Geruch seines Rasierwassers stieg ihr in die Nase. Sie war froh, sich für den Abend einigermaßen schick angezogen zu haben, da sie schon vermutete, dass er seinen Anzug anbehalten und nur die Krawatte ausziehen würde. Trotzdem kam sie mit ihrer feuerroten Seidenbluse über den weißen Jeans nicht gegen seine förmliche Eleganz an – das Kostüm, das sie beim Ray-Kettner-Abend getragen hatte, hatte sie längst weggeworfen.

»Wie wäre es, wenn du dein Sakko auszögst«, schlug sie vor. »Und dann tanzen wir.«

»Zu dieser Musik?«

»Ich habe es vorhin versucht – es macht Spaß. Schau, jetzt tanzen gerade Männer und Frauen gemischt. Wir könnten uns doch einreihen. Und anschließend bestellen wir Champagner.«

»Champagner«, wiederholte er.

»Nun zieh nicht so ein Gesicht«, sagte sie. »Ich habe dir doch versprochen, dass ich zahle. Und ich werde mich auch nicht betrinken. Nur ein Glas, ein einziges.«

Nach kurzem Staunen lachte er. »Du bist ja richtig guter Laune. Kaum zu glauben, was so ein paar Tage Urlaub ausmachen!«

Sie stützte ihr Kinn auf die gefalteten Hände und sah ihn verträumt an. »Ja, ich glaube, dass Samoa einen Teil dazu beigetragen hat, dass ich mich besser fühle. Diese Welt ist so anders, Carsten. Hier in Apia merkt man es vielleicht nicht so deutlich, aber drüben auf Savaii, in den Dörfern und vor allem im Papaya-Palast und an der Palauli Bay, da sind viele Dinge, die uns Europäer sonst beschäftigen, plötzlich nicht mehr so wichtig. Natürlich kann man nicht ganz aus seiner Haut heraus – das ist vielleicht auch gut so –, alle Probleme werden jedoch auf ein normales Maß zurechtgerückt, und Kleidung, Möbel, Computer, Handys haben nur noch geringen Stellenwert. Da man nicht mehr das Bedürfnis hat, ständig nur zu kaufen, hat man auch nicht mehr das Bedürfnis, ständig nur Geld zu verdienen. Dazu die Wärme, der Wald, die neugierigen Geckos, die überall herumf litzen, die frechen Loris, die unkomplizierten Menschen, das besondere Licht … Du solltest mal einen Sonnenuntergang an der Palauli Bay erleben. Das ist ein Erlebnis, das man nie vergisst.«

»Ich glaube«, unterbrach er ihre Schwärmerei, »dass man überall auf der Welt diese speziellen Erlebnisse und Empfindungen haben kann, wenn man sich nur auf sie einlässt.«

Sie nickte. »Selbstverständlich. Manchmal muss man aber aus der bekannten Welt heraustreten – und damit auch aus sich selbst –, um sich neu zu entdecken und das eigene Leben neu zu definieren. Mir ist es jedenfalls so ergangen. Was ich in der letzten Woche erlebt habe, sowohl an Tief- wie auch an Höhepunkten, hat mich aufgerüttelt. Ich habe angefangen, über ganz andere Dinge nachzudenken als in den letzten Jahren, als überhaupt in meinem bisherigen Leben.«

Ein kleines Mädchen kam vorbei, wahrscheinlich die Tochter des Barbesitzers, und verteilte scheu lächelnd Blumenketten an die Gäste. Evelyn bedankte sich, legte die Kette um den Hals und steckte eine der Blüten hinter das linke Ohr.

»Zum Zeichen, dass mein Herz vergeben ist«, erläuterte sie Carsten den Brauch. »Hat mir Ili erzählt.«

»Ich hoffe, ich muss das nicht nachmachen – obwohl mein Herz auch vergeben ist.«

Sie lachte. »Nein, es reicht, wenn du endlich das Sakko ausziehst und dir die Blumenkette umhängst.«

Während er ihrer Aufforderung folgte, bemerkte sie, dass der gemischte Tanz aufgehört hatte.

»Da du mich schon um den Tanz gebracht hast, könntest du jetzt wenigstens den Champagner bestellen.«

»Zu Befehl«, sagte er schmunzelnd, ging an die Bar und war gleich darauf wieder bei ihr. »Kommt in wenigen Minuten.«

»Zeit spielt hier angeblich keine Rolle«, entgegnete sie. »Allerdings ist das die einzige der samoanischen Weisheiten, die ich bisher nicht bestätigen kann. Ständig muss man ganz schnell irgendeine Fähre kriegen, um von A nach B zu gelangen, und gestern wäre ich beinahe von Ane über den Haufen gefahren worden, Moanas Enkelin. Tja, der geplatzte Verkauf bringt sie um ihren Lebenstraum. Aber sie ist anpassungsfähig, denke ich. Sie wird ein paar Tage weinen und sich dann wieder damit begnügen, Touristen irgendwelche Vermittlungsgebühren abzunötigen. Ane wird’s verkraften, glaube ich.«

»Ich finde, du beschäftigst dich viel zu sehr mit dieser Familie, obwohl du sie kaum kennst. Lass uns über andere Dinge sprechen.«

Schelmisch grinsend schob er ihr einen Umschlag über den Tisch. »Für dich.«

Sie öffnete ihn, und heraus fiel – ein Flugticket.

»Ich habe gekämpft wie ein Löwe«, berichtete er stolz, »und tatsächlich zwei Wochen Urlaub bekommen. Zuerst ein paar Tage Sydney, habe ich mir gedacht, da waren wir noch nie. Und dann mit einem Cabrio die Küste entlang. Romantische kleine Hafenstädte, vielleicht ein Tauchkurs. Du fliegst morgen schon nach Sydney vor, damit du dir ein paar Sachen kaufen kannst. Und ich komme in drei Tagen nach, wenn hier alles erledigt ist. Na, wie hört sich das an?«

Sie hielt das Ticket in der Hand und wusste nicht, was sie sagen sollte. Er hatte sich solche Mühe gegeben, sie zu überraschen.

»Carsten, ich … es ist … mir fehlen die Worte.«

Er lachte. »Ist man gar nicht von dir gewohnt. Aber du freust dich, ja?«

»Ich freue mich über diese Geste von dir. Sie bedeutet mir sehr viel. Bloß – ich kann hier nicht weg.«

Er sah sie an wie ein Hund, der die Launen seines Herrn nicht versteht. »Wie, du kannst nicht?«

»Besser gesagt, ich will nicht. Noch nicht. Ich fühle mich hier wohl, sogar mehr als das, und ich spüre, dass es noch nicht an der Zeit ist abzureisen.«

»Und wann wird es an der Zeit sein?«, fragte er irritiert.

»Ich weiß nicht. Auf jeden Fall werde ich bis zu Ilis Geburtstag im Dezember bleiben. Natürlich will ich, dass du auch bleibst. Wir nehmen uns das Cabrio, das du eigentlich für Australien gedacht hattest, und fahren damit über die Inseln. Du wirst staunen, was es hier alles zu sehen gibt: Lavafelder, Pyramiden, alte Kirchen, Traumstrände, Tauchriffe, Wildbäche und Wasserfälle. Robert Louis Stevenson ist auf Upolu begraben, du weißt schon, der mit der ›Schatzinsel‹, und sein Haus Vailima kann man besichtigen. Wir können uns auch ein Kricketspiel ansehen, wenn du magst – Kricket ist, zusammen mit Rudern, der Nationalsport in Samoa. Du wirst sehen, zwei Wochen gehen hier vorbei wie nichts.«

»Aber das Ticket!«

»Das ist nun wirklich kein Problem. Du wirst es stornieren.«

»Ich habe mich auf Australien gefreut.«

»Das verstehe ich ja. Aber Australien läuft uns nicht weg.«

»Samoa auch nicht.«

»Wir sind nun mal auf Samoa, Carsten, und ich habe dir erklärt, wie wichtig es mir ist, noch eine Weile bei Ili zu bleiben.«

»Ili hier, Ane da – und was ist mit mir?«

Sie rieb sich die Stirn.

»Ich erwarte ja nicht, dass du Ili in dein Herz schließen sollst, sondern nur, mir ein paar Tage Zeit zu lassen. Ist das denn zu viel verlangt, nach allem, was passiert ist? Ich habe dir gesagt, wie schön es wäre, wenn wir gemeinsam auf Samoa blieben, vielleicht sogar im Papaya-Palast. Weihnachten können wir schon wieder in Frankfurt …«

»In ein paar Tagen«, platzte es aus ihm heraus, »wird es den Papaya-Palast nicht mehr geben.«

Lauter Applaus ertönte. Die Männer hatten soeben einen furiosen Tanz unter Trommelbegleitung beendet und wurden von den begeisterten Einheimischen belohnt. Danach wurde es für einige Augenblicke ungewohnt still in der Bar. Die Musik schwieg. Ein paar Gäste murmelten, ein paar Gläser klirrten, und der keuchende Atem der Tänzer drang bis zu Carsten und Evelyn herüber.

Sie sah ihn ungläubig an. »Wie bitte?«

»Die Regierung wird das betreffende Stück Land enteignen  – falls es nicht innerhalb von drei Tagen freiwillig verkauft wird. Natürlich kann man den beiden alten Damen nur zu Letzterem raten, denn die Entschädigung bei einer Enteignung dürfte wesentlich geringer ausfallen, als wenn Kettner ihnen das Land direkt abkauft.«

Evelyn glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen. »Wie … ?« Ihr Mund war so trocken, dass sie kaum ein Wort herausbrachte.

Carsten glaubte, ihre Frage zu kennen. »Wie das möglich ist? Die United Trade and Commerce Bank hat einen nicht geringen Einfluss auf die Regierungen so kleiner Staaten wie Samoa. Wir haben diverse Investitionen getätigt, da ist es nicht ungewöhnlich, dass man uns bei einer solch nebensächlichen Sache entgegenkommt – zumal das Land auch noch etwas davon hat, in Form von Arbeitsplätzen zum Beispiel. Und die gerodeten Hänge können später für Kaffeeanbau und Rinderzucht verwendet werden.«

Sie starrte ihn noch immer entsetzt und ungläubig an. »Wie kannst du nur so etwas tun?«

Er schien verärgert und fühlte sich in die Ecke gedrängt. »Was tue ich denn schon? Nur meine Arbeit«, entgegnete er, wobei er versuchte, sachlich zu klingen, doch seine Stimme zitterte leicht. »Weißt du, wie viele Menschen Kettner in seiner Firma beschäftigt? Vierzehn Dauerangestellte, dazu fünfmal so viele Saisonarbeiter. Und hier in Samoa wird er weitere …«

»Du wolltest mich aus Samoa wegschaffen«, unterbrach sie ihn, Tränen in den Augen. »Du wolltest hinter meinem Rücken das Land enteignen.«

»Nicht ich enteigne das Land, sondern …«

»Du wolltest vor mir verheimlichen, dass du Ili aus dem Haus wirfst«, fuhr sie ungeachtet seines Einwands fort. »Du hast so ziemlich das Perfideste getan, was jemand in unserer Situation tun konnte: mich angelogen.«

»Nein«, widersprach er entschieden. »Nein, das ist nicht wahr. Ich wollte dich nur beschützen, weil ich fürchtete, dass dich diese Sache zu sehr aufregen würde. Und das mit der Reise meine ich ehrlich. Wir wollen doch neu anfangen, das hast du selbst gesagt.«

»Du lügst mich an und nennst das einen Anfang?«, schrie sie derart laut, dass die Gäste an den Nachbartischen herüberschauten.

»Evelyn, bitte …«

»Jahrelang«, sagte sie eisig, »hatte ich Depressionen. Unsere gemeinsamen Freunde haben mich nicht mehr besucht, und ich hatte keinen Menschen, der mir wirklich nahe war, dich eingeschlossen. Ich habe angefangen zu trinken. Ich wollte mich umbringen, weil du es nicht für nötig befunden hast, unsere Tochter an ihrem Geburtstag zu besuchen. Und nun, wo es mir etwas besser geht, wo ich anfange, dir, mir und unserem gemeinsamen Leben wieder näher zu kommen und den Aschehaufen, unter dem wir begraben waren, mühsam wegzuschaufeln, bestrafst du das Land und die Menschen, die diesen ersten kleinen Erfolg erst möglich gemacht haben.«

Ihre Stimme bebte, so als halte sie sich nur mühsam zurück.

»Carsten, ich möchte nicht direkt aussprechen, wie ich ein solches Verhalten nenne und was ich in diesem Moment über dich denke. Darum bitte ich dich: Geh jetzt. Wir sind am Ende. Es ist aus.«

»Evelyn …«

»Endgültig aus!«, rief sie, wandte sich von ihm ab und hielt sich ihre zitternde Hand vor den Mund.

»Ich liebe dich doch«, sagte er hilflos. Er wartete noch einen Moment auf eine Reaktion, streckte die Hand nach ihr aus, ließ sie dann aber wieder sinken.

Schließlich stand er auf.

»Nur eines noch«, sagte er leise, fast flüsternd, während sie noch immer wegsah. »Am Tag, als ich nach Lubumbashi flog …« Er schluckte und korrigierte sich: »An Julias viertem Todestag ging ich vorher noch zu ihr. Ich habe vier Rosen auf ihr Grab gelegt, für jedes Jahr, das sie mir fehlt, das sie uns fehlt, eine. Ich habe Julia nicht vergessen. Sie fehlt mir. Ihr Tod hat … hat ein gewaltiges Loch in mein Leben gerissen.«

Eine Minute verging, und als Evelyn sich wieder umdrehte, war er fort.

Ihr schien der Kopf zu platzen. Gedankenfetzen trieben vorbei: Julias Grab; der Novembersturm, der Carstens Rosen vermutlich weggeweht hatte, so dass sie sie am nächsten Tag nicht gesehen hatte; Ili, die ihr Haus verlieren würde; das Papayaland. Sogar den Tod meinte sie zu spüren. Er war irgendwo in der Nähe, lauerte …

Der Wirt erschien mit einer Flasche Champagner und zwei Gläsern. »Möchten Sie die Bestellung rückgängig machen?« , fragte er höflich.

Sie fühlte plötzlich, wie die seltsame Leere der letzten Jahre zurückkehrte, und sie spürte jene Verzweiflung in sich aufsteigen, die sich am Vorabend der Flucht nach Samoa ihrer bemächtigt hatte.

Irgendwo lachten Gäste, verstummten kurz und lachten erneut.

Sie sah den Wirt ausdruckslos an. »Nein«, antwortete sie. »Im Gegenteil.«

 

Der Gesang der Insekten färbte die Nacht, und Ili, die wach lag, lauschte ihm, als höre sie das Geräusch zum ersten Mal. Bisweilen tauchte der Schatten eines Falters am Fliegengitter des Fensters auf und verschwand wieder, oder sie hörte das dunkle Summen eines Käfers, der vorbeiflog, ansonsten jedoch blieb das rhythmische, gleich bleibende Zirpen die einzige Musik.

Plötzlich jedoch hörte sie das Geräusch von Schritten, zunächst schmatzend auf der feuchten Erde, dann leise auf der Veranda.

»Evelyn?«, rief Ili in das Schwarz um sie herum.

Nein, Evelyn kann es nicht sein, dachte Ili. Es fahren keine Fähren mehr, und sie liegt vermutlich mit ihrem Mann in einem weichen Doppelbett des Aggie Grey’s.

Jedenfalls hoffte Ili das.

Sie raffte das weiße Betttuch um den Körper und öffnete die Tür. Das Innere des Hauses lag starr und schemenhaft vor ihr, nur wo sich der Mond durch das Loch im Dach stahl, zog er eine matte, silbrige Bahn und zeichnete die schrägen Schatten der Pfosten auf den Fußboden. Leise schlich sie über den steinernen Boden von Raum zu Raum, blickte durch die Fenster in den Garten oder zur Plantage hin, doch sie konnte niemanden entdecken.

Dumme alte Frau, sagte sie sich. Huschst in deinem Betttuch wie ein Gespenst durch die Nacht.

Kopfschüttelnd wollte sie sich wieder ins Bett legen, als unvermittelt eine Kerze zwischen dem Türrahmen des Hauseingangs aufleuchtete.

»Wer ist da?«, fragte sie.

Schon am Umriss des Körpers und am Schritt, als er näher kam, erkannte Ili, wer es war, konnte es jedoch kaum glauben. Erst als die Gestalt unmittelbar vor ihr stand, wisperte Ili: »Du?«

Die schwachen, zuckenden Strahlen der Kerze spielten unruhig auf Moanas altem Gesicht. Ihre Augen, in dunklen Höhlen liegend, wurden von dem Schein nicht berührt.

Zum letzten Mal hatte Moana vor achtzig Jahren diesen Teil des Papaya-Palastes betreten – damals waren sie beide noch Kinder gewesen, Menschen einer anderen Zeit. So gesehen kam sie Ili wie ein Phantom vor und die Begegnung wie ein Traum, ein schlimmer Traum. Alles, was seither passiert war, alle bösen Worte, all der Hass und die Verletzungen stürzten innerhalb einer Sekunde auf Ili ein.

Moana ließ die Kerze sinken. Ihr Kopf zitterte. »Das habe ich nicht gewollt.«

 

Ili wusste, wovon sie sprach. Am frühen Abend, kurz nachdem Evelyn gegangen war, hatte der alte Ben sie besucht. Sie hatte gerade den Erdofen gesäubert und wollte die wartenden Vögel mit den Speiseresten versorgen, als das bedrohliche Gerassel von Bens Lieferwagen die friedliche Dämmerung unterbrach und alle Loris, Kakadus und Stare aufscheuchte. Er wuchtete seinen Körper vom Fahrersitz und stapfte schneller, als man es von ihm kannte, auf Ili zu.

Das Geschwätz, das er aufgeschnappt hatte, betraf diesmal sie. Jemand in der Regierung hatte – wie bei Samoanern nicht anders zu erwarten – nicht dichtgehalten und die geplante Enteignung ausgeplaudert, bevor sie bekannt gemacht werden sollte.

»Jetzt bleibt dir und Moana nur noch die Möglichkeit, an den Amerikaner zu verkaufen«, stellte Ben abschließend fest. »Alles andere wäre dumm.«

Ili reinigte weiter den Erdofen.

»Hörst du nicht, Ili?«, beharrte Ben. »Ihr müsst gleich morgen verkaufen. Wenn du willst, rufe ich den Amerikaner von Salelologa aus an.«

»Das wird nicht nötig sein, Ben«, sagte sie, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen. »Und nun setz dich zu mir oder fahr wieder ab. Solange du da herumstehst, machst du den Vögeln Angst.«

»Verdammt, Ili, was kümmern dich denn jetzt noch die Vögel? Du musst retten, was zu retten ist.«

Gelassen sah sie ihn an. »Glaubst du denn wirklich, dass ich jemals meinen Namen unter ein Dokument setzen würde, welches vorsieht, dass alles, was mein Leben reich gemacht hat, verschwindet?«

»Mit dem Geld von dem Verkauf kannst du dir bequem ein anderes Haus kaufen, drüben auf der Nordseite.«

»Nein, das wäre nicht dasselbe, Ben, und das weißt du auch. Ich danke dir, dass du hergekommen bist, um mich zu warnen. Geh zu Moana und erzähle ihr alles, aber rede bitte nicht länger auf mich ein. Das wäre sinnlos.«

»Verdammt, bist du stur«, schimpfte er.

Und sie erwiderte: »Ich war nie anders, Ben.«

 

Ili hatte so etwas schon geahnt. Irgendwie hatte sie dem Sieg von Anfang an nicht getraut und gespürt, dass sie das Land trotz Moanas geändertem Entschluss verlieren würde. Es hatte in der Luft gelegen, im Wind, in den Wellen. Sie konnte es selbst nicht erklären. Es war, als hätte das Land mit ihr gesprochen.

Nicht nur deshalb war sie nicht mit Evelyn nach Apia gefahren. Da war auch noch der Streit zwischen Ane und Moana.

Sogar jetzt noch, in der Dunkelheit des Hauses, hing dieses Thema unausgesprochen zwischen Ili und ihrer Cousine.

Sie standen da, schweigend, und doch spielte sich etwas zwischen ihnen ab. Alles, was jemals im Papaya-Palast vorgefallen war, holte die beiden Frauen in dieser Nacht ein, und jede von ihnen ließ diese gewaltige Anzahl von Jahren an sich vorüberziehen.

Minuten vergingen.

»All die Jahre«, sagte Moana nach einer Weile. »All die vielen Jahre. Wie sind wir nur an diesen Punkt gekommen?«

Ili ließ nachdenklich einige Sekunden verstreichen. »Wir haben einen Schritt nach dem anderen gemacht, Moana.«

Moana schluckte. »Einen Schritt zu viel«, sagte sie.

Ili antwortete nicht.

»Wir hatten schlechte Voraussetzungen, oder?«, ergänzte Moana. »Alle diese alten Geschichten über Tupu und Tristan, die Feindschaft … Wir hatten von Anfang an keine Chance.«

Ili schüttelte den Kopf. »Das lasse ich nicht gelten, Moana. Das ist mir zu einfach.«

Moanas Kopf zitterte. Sie gab Ili die Kerze in die Hand und wandte sich zum Gehen. An der Tür zur Veranda blieb sie noch einmal stehen. »Übrigens, deine deutsche Freundin sitzt unten an der Bucht.«

Ili runzelte die Stirn. »Evelyn?«

»Es scheint ihr nicht gut zu gehen. Besser, du siehst nach ihr.«

 

Ili war nach dieser Begegnung mit Moana – einer Moana, wie sie sie nicht kannte – aufgewühlt, aber sie ging sofort zur Palauli Bay. Evelyn saß mit ausgestreckten Beinen am Strand, so dicht am Wasser, dass die Wellen ihre Fußspitzen berührten. Neben ihr stand eine Flasche Champagner im Sand, und die Bluse lag zusammengeknüllt auf ihrem Schoß.

Ili setzte sich neben sie. Obwohl Evelyn sie bemerkt haben musste, blickte sie starr über das Meer, oder das, was im matten Licht davon zu sehen war, und Ili tat es ihr nach. Sie saßen beisammen und schwiegen. Ab und zu hob Evelyn die Flasche zum Mund, trank einen Schluck und stellte sie wieder in den Sand, ohne auch nur ein einziges Mal den Blick vom dunklen Horizont zu lösen.

Ili hätte sie einiges fragen können, um ein Gespräch zu beginnen, was zum Beispiel in der Bar vorgefallen war oder wie Evelyn es geschafft hatte, mitten in der Nacht von Upolu nach Savaii zu kommen. Doch Ili konnte sich diese Dinge ohnehin denken. Evelyns Zustand ließ ahnen, was geschehen war, und für hundert Dollar fand man immer einen Fischer, der selbst mitten in der Nacht Wassertaxi spielte. Alles das bedeutete nichts.

»Ist das Ihre erste Flasche?«, fragte Ili stattdessen.

Evelyn brauchte eine Weile für ihre Antwort. »Die zweite.«

»Na, dann haben Sie ja schon genügend abbekommen«, sagte Ili, griff nach der Flasche und gönnte sich auch einen Schluck. Das letzte Mal hatte sie vor mehr als sechzig Jahren Alkohol getrunken, eine Schale Reiswein mit Senji, und der Geschmack des Champagners war derart ungewohnt, dass sie das Gesicht verzog. Trotzdem trank sie einen weiteren Schluck.

Endlich sah Evelyn zu ihr herüber. »Warum trinken Sie ihn, wenn er – wenn er Ihnen nicht schmeckt?« Evelyn hatte bereits Mühe, einen klaren Satz zu sprechen.

»Wie ich schon sagte: Ich finde, Sie haben genug. Und da ich nichts davon halte, den Champagner wegzukippen, als seien Sie ein vierzehnjähriges Mädchen und ich Ihre abstinente Gouvernante, trinke ich das Zeug lieber selbst. Eine elegante Lösung, finden Sie nicht?«

Ili lächelte, was aber anscheinend nicht ansteckend war.

»Oh, Evelyn, ziehen Sie nicht so ein Gesicht, als würde morgen die Welt untergehen. Wenn Sie sich gerade überlegen, wie Sie mir eine schlimme Nachricht beibringen können, kann ich Sie beruhigen: Ich weiß schon Bescheid.«

»Sie … woher denn?«

»Der alte Ben«, erwiderte Ili, was ihrer Ansicht nach alles erklärte.

Evelyn brach plötzlich in Tränen aus. Sie beugte sich nach vorn und schluchzte. »Er hat … Er hat mich angelogen …, hat mir wehgetan … Gerade als ich dachte, dass er und ich … Ich will nichts mehr von ihm wissen, wir sind am Ende. Ich lasse mich scheiden. Er ist ein elender Wurm, schiebt seine Bank vor, Wirtschaftsinteressen, Arbeitsplätze, Brutto … Bruttosozialprodukte und was weiß ich. Aber ich weiß, dass er mich im Grunde nur bestrafen will. Nur darum tut er das.«

Ili fuhr Evelyn über die weichen Haare. »Bestrafen wofür?«

»Ich weiß nicht. Für alles. Dafür, dass ich früher stärker war als er … für die letzten Jahre … für das, was er durch meine Schuld verpasst hat … für meine Flucht … für … für Julia.«

Ili streichelte sie weiter. »Glauben Sie das wirklich, Evelyn? Sie kennen Ihren Mann. Halten Sie ihn für jemanden, der so etwas tut?«

Evelyn schwieg.

»Und selbst wenn«, fuhr Ili fort, »ist das der Hauptgrund, weshalb Sie so zornig sind?«

»Ich bin nicht zornig. Ich bin verletzt.«

»Sie sind verletzt und zornig.«

»Ich habe alles Recht dazu, oder nicht? Er trifft sich mit mir, schenkt mir ein Ticket, eine Traumreise … Wie ein Rattenfänger wollte er mich von hier weglocken.«

»Nun, es hat anscheinend nicht geklappt. Also, warum sitzen Sie hier und trinken wieder, obwohl es Ihnen bereits besser ging?«

»Weil …« Evelyn rang, schluchzend und schwer atmend, um eine Antwort. »Weil er …«

»Weil was? Er hat Sie enttäuscht, na schön, aber das hat er – wenn ich Sie neulich richtig verstanden habe – seit Jahren getan. Was war heute Abend anders? Was?«

»Das … das fragen Sie noch? Kettner, das Land, Ihr Land … Die haben gewonnen, Ili.«

Sie nickte. »Er hat gewonnen. Das ist es, nicht wahr? Carsten hat gewonnen. Deswegen trinken Sie wieder, weil Sie glauben, schon wieder etwas verloren zu haben, diesmal nicht Ihr Kind, sondern Ihren Stolz. Aber wenn Sie Ihren Stolz tatsächlich vorübergehend verloren haben, dann nicht wegen Ihres Mannes, sondern wegen Ray Kettner.«

Evelyn ließ ihren Kopf auf Ilis Schulter sinken, und die Tränen liefen über ihr Gesicht.

»Sie haben es genossen«, stellte Ili ohne Vorwurf fest und berührte mit ihrer Wange Evelyns Scheitel. »Als Sie Ihren Mann mit Ray Kettner betrogen, da fühlten Sie sich ihm zum ersten Mal seit Jahren überlegen, und nachdem der vermeintliche Supermann sich als Schwindler entpuppte, waren Sie wütend auf sich selbst. Carstens plötzliches Auftauchen mag Sie vielleicht überrascht haben, aber im Grunde war es Ihnen recht. An ihm konnten Sie alles abreagieren, und damit fühlten Sie sich erneut überlegen – nach unserem kurzzeitigen ›Sieg‹ ohnehin. Vielleicht nicht absichtlich, doch etwas in Ihnen genoss Carstens Lage als unterlegener Kontrahent. Überlegen Sie: Erst als sich unser Blatt wendete und Carsten und Kettner vermeintlich auf der Verliererseite standen, haben Sie sich entgegenkommend gezeigt, bereit zur Versöhnung. Ich schätze also, der Abend in der Bar sollte nicht nur einfach zum Friedensschluss werden, sondern auch – klammheimlich – zu Ihrem Triumphzug. Habe ich Recht?«

Ili atmete tief durch, nachdem Evelyns Blick beschämt Zustimmung ausgedrückt hatte. »Machen Sie sich nichts draus, Ihr Verhalten ist nur zu verständlich. Doch dann kam alles anders, als gedacht, nicht wahr? Nun sind wir die Verlierer. Ich – aber auch Sie, Evelyn, denn Sie haben ebenso gekämpft.«

»Ich fühle mich schwach«, murmelte Evelyn. »Schwächer noch als vorher. Nicht körperlich, sondern …«

»Ich weiß«, seufzte Ili. »Ich kenne das Gefühl sehr gut. Aber machen Sie jetzt um Himmels willen nicht den gleichen Fehler wie ich.«

Evelyn richtete sich auf und wischte sich einige Tränen von der Wange. »Welchen Fehler meinen Sie?«

Ili presste die Lippen zusammen, überlegte einen Moment und sagte: »Sagen Sie, lieben Sie Ihren Mann noch.«

Evelyn schluckte. »Ja«, erwiderte sie intuitiv. »Ich glaube, ja.«

»Dann kommen Sie, Evelyn, wir laufen ein Stück zusammen.«

Ili ließ die Kerze zurück und spazierte mit Evelyn den Strand entlang. Unter ihren bloßen Füßen schmatzte der Sand, und zwischen den Wolken schien der Mond wie in Watte verpackt und überzog die Dinge mit einem weißlichen, unwirklichen Licht.

Es fiel Ili nicht leicht, darüber zu reden, und selbst als die Flamme hinter ihnen nur noch ein winziger gelber Lichtpunkt war, fand sie noch immer nicht den richtigen Anfang. Sie hatte Evelyn in den vergangenen Tagen viel erzählt, aber das jetzt war etwas anderes. Die Liebe ihrer Eltern und der Kampf zwischen Tupu und Tristan waren nur Geschichten. Gewiss, wahre und lebendige Geschichten, weil das Haus, die Plantage, die Wälder und die Bucht die Vergangenheit in die Gegenwart trugen und die Toten auf eine gewisse Art weiterleben ließen, da man sich an sie erinnerte. Immer wieder meinte sie, die Stimme ihrer Mutter zu hören, die ihren Namen in die Bucht rief: »Ili, komm ins Haus, es wird dunkel.« Manchmal glaubte sie, die schwere Hand ihrer Großmutter Vaonila auf ihrem Hinterkopf zu spüren, und in seltenen Momenten war ihr sogar Tristan gegenwärtig, und sie stellte sich vor, wie er die Veranda gebaut, wie er aufs Meer gesehen oder den Mafane erklommen hatte. Ivana und Moana jedoch, und natürlich Senji, hatten viele Jahre mit ihr verbracht, und ihre Gegenwart im Papaya-Palast war für Ili an jedem einzelnen Tag unmittelbar fühlbar, auf die eine oder andere Weise. Sie waren keine romanhaften Schatten oder ferne, verschwommene Kindheitserinnerungen, sondern fester Bestandteil eines neunzigjährigen Lebens – nicht eine Geschichte, ihre Geschichte, nicht die Fehler, Niederlagen und dunklen Seiten anderer, sondern die ihren.

»Es gibt immer drei Möglichkeiten, auf eine Niederlage zu reagieren«, begann sie. »Mit Beharrlichkeit, mit Resignation  – und mit Rache. Ich habe mir diese Möglichkeiten immer als Pfade vorgestellt, die einen, je nachdem, welchen man einschlägt, an einen völlig anderen Punkt des Lebens führen. Zwei davon – die beiden letzten – scheinen eben zu verlaufen, der dritte geht bergan, und die Verführung, ihn zu meiden und die anderen einzuschlagen, ist immens. Wir finden immer Gründe dafür, nicht beharrlich bergan zu schreiten: Wir halten uns für zu schwach und zu müde, haben es zu eilig, fühlen uns übergangen oder betrogen oder missverstanden, sind bequem oder zornig oder gekränkt … Ach, was denken wir uns nicht alles aus! Und dann wählen wir einfach einen anderen Pfad. Es ist leicht, aufzugeben oder andere verantwortlich zu machen und zu bestrafen. Sogar uns selbst bestrafen wir oft lieber, als ungewisse Mühen auf uns zu nehmen. Und aufzugeben ist eine Selbstbestrafung.«

»Ich hatte mich aufgegeben, das stimmt«, sagte Evelyn, bemüht, deutlich zu sprechen. »Ich war ziemlich unerträglich  – bin unerträglich –, am meisten für mich selbst. Aber Sie, Ili … das kann ich mir bei Ihnen nicht vorstellen.«

Ili blieb stehen und blickte in die Dunkelheit des Meeres. »Auch ich bin nicht immer nur einen Pfad gegangen.«

Sie spürte Evelyns Blick auf sich gerichtet, sah jedoch weiterhin auf den blauschwarzen Horizont. Der Moment war gekommen, vor dem sie immer schon Angst gehabt hatte, der Moment, wenn jemand anderer ein Urteil fällen würde über das, was sie getan hatte. Nur zwei Menschen außer ihr wussten noch davon: Moana, die auf ihre Weise beteiligt und befangen war, und der alte Ben, der nie Stellung beziehen wollte. Zum ersten Mal gab es nun die Situation, dass sie einer anderen Frau genug vertraute, um sie in ihre eigene Vergangenheit einzuweihen.

 

Samoa, 1919 bis 1925

 

Als im Juli 1919 die erste Papayaernte erfolgreich abgeschlossen war und als Ili Hand in Hand mit ihrer Cousine Moana zum ersten Mal in die neue Missionsschule in Palauli ging, glaubte Tuila wirklich, dass von nun an alles besser würde.

Die Jahre des Weltkrieges waren schwer gewesen; sie hatten mit einer Tragödie begonnen und waren mit einer Tragödie zu Ende gegangen. Tristans Tod hatte sie in ein tiefes Loch gestürzt, und an die Monate bis zu Ilis Geburt hatte sie bis heute kaum eine Erinnerung. Sie wusste buchstäblich nicht, wie sie die Zeit überstanden hatte, eine Zeit, in der sie irgendwie funktioniert, nicht aber gelebt hatte. Dann, am 21. Dezember 1914, hatte sie ihr Mädchen im Arm gehalten, oder besser gesagt, sich an ihrem Mädchen festgehalten, an Tristans Tochter. Ili war der einzige Sonnenstrahl in einer ansonsten vollkommen dunklen Zeit gewesen.

Von Kampfhandlungen waren sie natürlich verschont geblieben; der eigentliche Krieg fand ganz woanders statt. Die Auswirkungen dieses Krieges jedoch spürte auch Tuila. Samoas neue Herren, die Neuseeländer, kamen bald nach Ilis Geburt vorbei, weil sie erfahren hatten, dass ein Deutscher Eigentümer des Hauses und der Plantage war. Da sie sahen, dass seine Witwe eine Einheimische war, beschlagnahmten sie das Eigentum nicht, doch es vergingen nur drei Tage, bis sie erneut auftauchten und Fragen stellten. Jemand hatte ihnen einen Wink gegeben, dass der frühere Eigentümer, Tristan von Arnsberg, derjenige war, dem sie bei der Landung die vier Toten auf Savaii zuzuschreiben hatten. Sie durchsuchten das Haus nach Waffen oder Flugblättern, nach irgendetwas, das ihnen eine Handhabe verschaffen würde, den Besitz zu konfiszieren. Allerdings fanden sie nicht das Geringste, nicht einmal ein Bild oder Foto des verstorbenen Offiziers. Ein neuseeländischer Beamter, ein Mann, dessen Gesicht Tuila an einen Hai erinnerte, warnte sie: Sollte sie irgendwelche Sympathien für die Deutschen hegen, würde sie alles verlieren.

In Samoa gab es diese Sympathien tatsächlich. Natürlich war die deutschsprachige »Samoanische Zeitung« von den neuen Besatzern verboten worden, dafür kursierten gelegentlich einzelne Exemplare anderer deutscher Zeitungen auf den Inseln, Zeitungen aus dem Deutschen Reich. Man fand sie in Mülltonnen, in Obstkisten und an Stränden, manchmal nur wenige Seiten, manchmal vollständige Ausgaben, und niemand konnte sich erklären, wie sie nach Samoa gelangt waren. Insulaner kamen mit den Zeitungen zu Tuila, weil sie wussten, dass sie mit einem deutschen Offizier und Kriegshelden zusammengelebt hatte, und sie dachten, die junge Frau könnte ihnen helfen, das Geschriebene besser zu verstehen. Nun, Tuila verstand die Worte, aber nicht, was sie bedeuteten. Die meisten dieser Zeitungen waren älteren Datums, und sie berichteten von deutschen Siegen, von gewaltigen Schlachten, von Offensiven und Gegenoffensiven und Luftkämpfen, von Ortsnamen und von Begriffen, mit denen weder sie noch irgendein anderer Samoaner etwas anfangen konnte.

Eines Tages, wieder einmal war jemand mit ein paar zerf ledderten Seiten zu ihr gekommen, entdeckte sie eine Todesanzeige: Graf Lothar von Arnsberg war gestorben, am 17. Februar des Jahres 1915. Seine beiden Söhne, stand da, Siegfried und Tristan, die sein Stolz gewesen waren, seien in der Erfüllung ihrer Pflicht für das Reich schon vor längerer Zeit in den Kolonien gefallen, ohne Frau und Kinder zu hinterlassen.

An diesem Tag beschloss Tuila, nach dem Krieg als Witwe Tristans vor ihre Schwiegermutter zu treten. Und sie wollte ihr Ili zeigen.

Von da an drängte sie den Kummer zurück und arbeitete jede freie Minute in der Plantage. Sie wollte, dass die Gräfin sich nicht schämen müsste, sondern einer erfolgreichen Plantagenbesitzerin gegenüberstehen würde, einer Frau, die Geld verdiente – was den papalagi ja so wichtig war – und allein und ohne Hilfe den Lebensunterhalt für sich und ihre Tochter bestritt. Ili sollte anerkannt werden als eine Arnsberg.

Die Papayabäume, die bisher mehr schlecht als recht gediehen waren, wurden fortan gepflegt und gehegt und wuchsen schnell über Tuilas Kopf hinaus. In den ersten Jahren, in denen es noch nichts zu ernten gab, brauchte sie keine Hilfe von Arbeitern, sondern sie machte alles selbst.

»Du arbeitest dich noch zu Tode«, sagte Vaonila manchmal. Sie kam ein- oder zweimal in der Woche und jeden Sonntag vorbei, und dann saßen sie auf der Veranda bei einer Schale kava und blickten in den noch von Tristan angelegten Garten, der gemächlich zuwucherte.

»Um den werde ich mich nächsten Monat kümmern«, kündigte Tuila an.

»Ich sage es immer wieder: Du wirst dich noch zu Tode arbeiten.«

Besser, als sich zu Tode langweilen, dachte Tuila im Hinblick auf ihre Schwägerin Ivana, die wenig zu tun hatte und deren Hilfe sie ab und an gerne in Anspruch genommen hätte.

»Warum besucht sie mich nie?«, fragte Tuila.

Vaonila wusste, wen sie meinte. »Sie ist nicht gut auf dich zu sprechen. Dein Mann hat ihren Mann erschossen.«

»Ich habe ihm vergeben, du hast ihm vergeben, warum kann sie es nicht?«

Sie tauschten einen kurzen Blick.

Tuila fragte: »Du hast ihm doch vergeben, oder nicht?«

Vaonila trank den letzten Schluck der kava und ließ sie sich lange auf der Zunge zergehen.

»Ich habe ihn verstanden«, korrigierte sie.

»Das ist nicht dasselbe wie vergeben, richtig?«

Vaonila seufzte. »Ach, lass nur, Kind. Es wird sich alles mit der Zeit von ganz allein geben.«

Was Ivana betraf, gab sich nichts von allein. Je höher die Papayas wuchsen, desto neidischer wurde sie, wenn sie am Haus vorbei hinunter zur Bucht ging. Es war die Zeit, in der die ersten Savaiianer begannen, vom faletele papaia zu reden, vom Papaya-Palast, und von Tuila als der maamusa papaia, der Freundin der Papayas. Im Mai 1918 wuchsen die ersten Früchte an den Stämmen. Zwar blieben sie noch grün und unreif, doch es zeichnete sich ab, dass die nächste Ernte eine der größten Obsternten Savaiis würde, und ein australischer Kaufmann bekundete bereits sein Interesse. Gleichzeitig wurde für alle auf Samoa deutlich, dass nach dem Kriegseintritt der Amerikaner kaum noch eine Möglichkeit für die Deutschen bestand, den Krieg zu gewinnen und die verlorenen Kolonien zurückzubekommen. Da beschloss Ivana zu handeln.

Sie ging zur neuseeländischen Verwaltung nach Apia. Der Beamte mit dem Haigesicht, der für Vermögen der früheren deutschen Eigentümer zuständig war, sah sie wenig interessiert an, als sie ihm gegenüber Platz nahm. Er störte sich an dem Mädchen, das im Raum umherlief und an allem zerrte, das auf dem Boden stand und sich nicht bewegen wollte, einschließlich dem Sockel seines Schreibtisches. Er nahm kaum wahr, was Ivana ihm zu erzählen hatte, aber als der Name Arnsberg fiel, horchte er auf.

»Habe ich dich richtig verstanden, Frau? Sagtest du Arnsberg.«

»Ja, Arnsberg. Meine Schwägerin Tuila hat ein Kind mit diesem papalagi

»Könntest du dich bitte in einer zivilisierten Sprache mit mir unterhalten.«

»Mit einem Deutschen«, berichtigte sie.

»Oh, jetzt erinnere ich mich an dich. Du warst doch schon einmal da, vor ein oder zwei Jahren, und hast uns auf diesen Arnsberg aufmerksam gemacht, der unsere Jungs erschossen hat. Ich habe damals deine Schwägerin gewarnt, gegen uns zu arbeiten, mehr konnte ich nicht tun. Sie ist die Erbin seines Vermögens, andererseits ist sie keine Deutsche. Da sind mir die Hände gebunden. Passt mir auch nicht, doch was soll ich machen?«

»Wieso ist sie die Erbin?«, fragte Ivana. »Wenn sie doch nicht verheiratet waren …«

Moana warf einen Schirmständer um, aber der Beamte achtete kaum darauf. »Was sagst du? Nicht verheiratet?«

»Sie behauptet, mit ihm verheiratet gewesen zu sein, aber dafür gibt es keinen Beweis. Das Dokument, das die Ehe beweist, ist bei der Zerstörung der Polizeistation verbrannt, das sagt Tuila selbst. Und keiner der Zeugen lebt noch.«

»Ja, wenn das so ist …« Der Beamte schlug ein Buch auf. »In diesem Fall wäre eine Konfiszierung möglich.«

»Das heißt, ich bekomme einen Teil des Hauses?«

»Wieso das denn?«

»Ich bin hier, weil ich finde, dass mir auch etwas von dem Land und dem Haus zusteht.«

»Hast du keinen Verstand im Kopf? Wenn deine Schwägerin keine Erbin ist, hast du erst recht keinen Anspruch darauf. Also, was ist nun? Waren sie verheiratet oder nicht?«

Ivana biss sich auf die Lippe und überlegte. »Also gut, sie waren verheiratet. Aber dieser Arnsberg hat meinen Mann umgebracht, einen Widerstandskämpfer. Ich verlange Sühne.«

Die Augen des Beamten leuchteten, und er ignorierte, dass Moana einen Garderobenständer quer durch den Raum schleifte. »Ein Widerstandskämpfer, sagst du?«

»Ja.«

»Gegen die Deutschen?«

»Ja.«

»Er wurde exekutiert?«

»Ja.«

»Sehr sympathisch. Na, das ist doch mal was. Da hast du als Witwe Anspruch auf Entschädigung – durch die Deutschen, selbstverständlich. Wenn wir jetzt noch beweisen könnten, dass deine Schwägerin mit den Feinden sympathisiert, dann …«

»Geht in das Haus.«

»Dort waren wir schon.«

»Geht noch einmal hin. Dort findet ihr, was ihr sucht.«

Sie fanden die einzelne Seite einer deutschen Zeitung. Außer Todesanzeigen, der Werbung eines Bestatters und Ankündigungen zum Gottesdienst stand nichts darauf, aber auf der Rückseite prangte ein großes Bild der deutschen Kaiserin Auguste Viktoria, die Krankenschwestern eines westfälischen Lazaretts besuchte. Dass Tuila das Blatt nur wegen der Todesanzeige Graf Arnsbergs aufgehoben hatte, wurde von dem Beamten zwar zur Kenntnis genommen, entlastete sie jedoch nicht. Sie wurde als Sympathisantin der Deutschen eingestuft, und Ivana erhielt als direkte Wiedergutmachung für die Hinrichtung ihres Mannes die Hälfte des Hauses und Landes zugesprochen.

Vielleicht hätte Vaonila diesen heimtückischen Plan ihrer Schwiegertochter noch vereiteln können, denn sie besaß die größte Autorität innerhalb der Familie, war im Dorf sehr beliebt und auch bei den neuseeländischen Soldaten auf Savaii geachtet, weil sie sich nicht an den abgeschnittenen Hosen störte und für jeden einen freundlichen Gruß hatte. Außerdem hätte ihr als Mutter des Exekutierten wohl ebenso eine Entschädigung zugestanden, die wurde jedoch nicht von ihr gefordert, da sie der Meinung war, Tupu sei kein Widerstandskämpfer gewesen, sondern ein Krimineller. Diese eindeutige Position hätte Ivanas Anspruch untergraben können. Doch schon im August 1918, fast genau vier Jahre nach Tristans Tod und kurz vor Kriegsende, breitete sich die berüchtigte spanische Grippe auf Samoa aus, die aufgrund der schlampig durchgeführten Quarantänemaßnahmen der neuseeländischen Verwaltung besonders schlimm wütete. Mehr als ein Viertel der einheimischen Bevölkerung fiel binnen weniger Monate der Krankheit zum Opfer.

Vaonila gehörte zu den ersten Toten.

Seither war Tuila völlig auf sich allein gestellt, ohne einen vertrauten Menschen und der Hälfte dessen beraubt, was Tristan und sie geschaffen hatten. Ivana hatte bei der Rekordernte des Jahres 1919 keinen Finger gerührt, nahm aber bedenkenlos die Hälfte des Gewinnes an sich, sie, die dem Geld der papalagi bisher nur Verachtung entgegengebracht hatte. Darüber hinaus weigerte sie sich, auch nur eine Münze für die Pflege oder die Erweiterung der Plantage herzugeben. Sie verließ das fale in Palauli und zog wieder in jenen Teil des Papaya-Palastes ein, den sie früher schon einmal mit Tupu bewohnt hatte. Wie eine Häuptlingsfrau stolzierte sie durch den Garten, kaufte für sich und Moana schöne Tücher und weiche Matten und zog Tuila, die alles in die Erhaltung der Pflanzung investierte und schuftete wie ein Chinese, mit der Ärmlichkeit ihres Äußeren auf. Tuila war klug genug, sich nicht provozieren zu lassen und sich das Leben nicht mit Streitereien schwer zu machen, die ohnehin zu nichts geführt hätten. Sie kam aus einem dunklen Tal und wollte von nun an das Gute, das Positive, das Helle in den Dingen sehen. Sie hatte, gemessen an der kurzen Zeit seit Tristans Tod, viel erreicht, hatte ein schönes Heim, eine liebe Tochter und viele Erinnerungen an glückliche Tage.

An einem Adventstag des Jahres 1920 ging sie nach Salelologa und gab dort einen Brief auf, mit dem sie sich große Mühe gegeben hatte. Für das Briefpapier und das Porto hatte sie viel Geld hergeben müssen, obwohl sie sparen musste. Siebenmal hatte sie von vorn angefangen, dreimal alles in der schönsten Schrift abgeschrieben, und jedes einzelne Wort hatte sie auf seine korrekte deutsche Schreibweise überprüft, bis sie zufrieden damit war. Der Brief war adressiert an Gräfin Sophie von Arnsberg, Schloss Arnsberg, Deutsches Reich.

Eine Antwort erhielt sie nie.

 

Ili, die bisher abgeschieden vom Dorf aufgewachsen war und nur wenige gleichaltrige Kinder kannte, fand in Moana eine Spielgefährtin. Moana mit ihrem ungeheuren Bewegungsdrang zog Ili mit. Sie kletterten auf die Papayas, ärgerten die Krebse an der Bucht und spürten Schweine im Wald auf. Bei den anderen Mädchen in der Missionsschule galten sie schon bald als die Palastschwestern, weil sie ständig zusammen waren. Wenn sie eine Aufgabe bekommen hatten, mit der eine von ihnen Schwierigkeiten hatte, half die andere, und wenn eine von ihnen krank wurde, wollte die andere nicht zur Schule.

Ein wenig überraschend war diese Anhänglichkeit schon, am meisten für Ili selbst, denn Moana war nicht einfach; es war schwierig, ihr alles recht zu machen. Entweder war man ihr zu langsam oder man redete zu viel oder man war zu artig oder zu feige. Der Tag hatte nicht genug Stunden für sie, die Schule fand sie überflüssig, die Missionare langweilig. Sie war ständig dabei, irgendetwas zu tun, und wenn sie stillsitzen musste, zupfte sie an ihrem Kleid herum oder an den Lippen. Ihre Vorschläge, was man als Nächstes spielen könnte, hatten stets Vorrang vor denen Ilis, und sie wurde nicht müde zu betonen, dass sie die Ältere von ihnen war. Mit Tuila sprach Moana wenig, und Ili verstand nicht, warum das so war. Doch was Ili am meisten störte, waren die Fragen, die Moana ihr oft stellte. Es waren immer dieselben Fragen:

»Du magst mich doch, Ili?«

»Ja, natürlich.«

»Du magst mich wirklich, ja?«

»Ja.«

»Ich bin deine beste Freundin?«

»Wer sonst?«

»Eine von den Mädchen aus der Schule vielleicht? Silia? Oder Tauvaa oder …«

»Nein, du bist meine beste Freundin.«

»Ich, ja?«

»Ja, du!«

Ili war immer froh, wenn sie diese Gespräche hinter sich gebracht und ihre Ruhe hatte – für die nächsten vier Wochen. Dann ging alles wieder von vorn los, und manchmal war ihr danach, Moana eine Antwort zu geben, die ihr nicht gefallen würde.

Trotzdem verbrachten die beiden Mädchen jeden Tag mehrere Stunden miteinander. Einen einzigen Bereich durften sie allerdings nicht teilen: Wenn Ili mit zu Moana ins Haus wollte, wurde sie von Ivana energisch weggeschickt.

Einmal, als Ivana nicht zu Hause war, wurde Ili von ihrer Cousine ins Haus gelockt. »Nun komm schon, was soll schon passieren, sie ist nicht da. Komm, ich will dir zeigen, was ich gestern geschenkt bekommen habe.«

Moana zeigte ihr ohnehin mindestens dreimal in der Woche, was sie Neues geschenkt bekommen hatte, also warum sollte Ili deswegen ein Tabu brechen? Doch Moana quengelte solange herum, bis Ili nachgab und zum ersten Mal jenen Flügel des Hauses betrat, der für sie verboten war. Im Grunde gab es nichts Besonderes zu sehen, außer dass es viel mehr Matten und Stoffe gab, dafür weniger Arbeitsgeräte. Moana zeigte ihr eine gekaufte Halskette aus schönen Muscheln, die man sich mit etwas Mühe auch an der Bucht hätte zusammensuchen können, sowie ein Tuch in einem wirklich atemberaubenden Blau. Als Ili es sich an den Körper hielt, sagte Moana: »Nein. Nein. Das steht dir nicht. Deine Haut, weißt du?«

»Was ist mit meiner Haut?«

»Sie ist zu hell. Du siehst beinahe aus wie eine papalagi

»Bin ich aber nicht.«

»Das sagst du! Meine Mutter sagt, du bist keine von uns.«

»Ich lebe hier, ich esse hier, ich gehe hier zur Schule und ich spiele mit dir. Also bin ich eine von euch.«

»Wie du meinst«, sagte Moana und zuckte mit den Schultern. »Trotzdem. Das Tuch steht dir nicht.«

»Was steht mir denn?«

»Die ausgebleichten Dinger, die du immer trägst. Irgendwie passen sie zu dir.«

Ili hielt sich der Höflichkeit halber noch eine Weile mit der Betrachtung von Moanas Perlmuttketten und Haarspangen auf, bis plötzlich Ivana vor ihr stand. Noch nie zuvor waren ihr bei Moanas Mutter die tiefen Falten zu beiden Seiten der Nase aufgefallen und die hohen, hervorstehenden Wangenknochen. Wie ein Geist blickte die Frau auf sie hinunter.

»Warum bist du hier? Habe ich dir nicht verboten, mein Haus zu betreten? Keiner von denen, die zu Tristan von Arnsberg gehören, darf mein Haus betreten. Weißt du, was er getan hat, dein Vater? Was er Moanas Vater angetan hat?«

Sie hielt einen Fisch hoch, den sie an der Bucht gefangen hatte, und schleuderte ihn gegen einen Türrahmen, wieder und wieder, bis das Blut spritzte und Ili traf.

»Das«, sagte Ivana, »das hat er ihm angetan.«

Ili rannte hinaus. Sie fiel hin und schlug sich das Knie auf, stand auf und lief weiter, als sei ein Ungeheuer hinter ihr her.

Moana befürchtete, von ihrer Mutter getadelt zu werden oder, noch schlimmer, eine Ohrfeige zu bekommen. Das war zwar noch nie der Fall gewesen, aber so wie jetzt hatte sie ihre Mutter auch noch nie erlebt, mit aufgerissenen Augen und einer Brust, die sich hob und senkte wie schwerer Wellengang.

Glücklicherweise geschah ihr nichts dergleichen. Ivana beruhigte sich schnell wieder und drückte Moanas Kopf gegen ihren Unterleib.

»Es tut mir Leid, dass ich sie hier hereingebracht habe«, sagte Moana. »Aber sie ist doch meine einzige Freundin.«

Ivana grinste. »Ja, das denkst du jetzt, meine Tochter. Aber warte ab. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann sie dich verrät. Nicht, dass sie es absichtlich täte. Nein, sie trägt ihn in sich, den Verrat, sie kann gar nicht anders, als ihn auszuleben. Noch ist sie klein, und die Falschheit gedeiht langsam. Irgendwann, im nächsten Jahr vielleicht oder auch erst in drei Jahren, wird Ili sich gegen dich wenden. Du wirst merken, wenn es so weit ist.«

»Wie?«, fragte Moana ängstlich.

»Du wirst wissen, wenn der Tag gekommen ist. Du wirst die Wahrheit erkennen.«

 

Moana wartete von da an auf den Tag, der die Wahrheit ans Licht bringen würde; sie wartete darauf, dass Ili sie verriet. Noch häufiger als zuvor versicherte sie sich der Freundschaft und Gefolgschaft ihrer jüngeren Spielgefährten und ahnte doch, dass all dies nichts nützen würde. Sie versuchte, sich auch mit anderen Mädchen anzufreunden, die auf die gleiche Missionsschule gingen, doch die meisten Mädchen wollten entweder nichts von ihr wissen oder beachteten die schönen Dinge nicht, die sie ihnen zeigte, und einige wenige waren Mischlinge wie Ili, in denen vermutlich auch schon die Falschheit gedieh, wie ihre Mutter das ausgedrückt hatte.

Ivana war nicht so dumm, ihrer Tochter den weiteren Umgang mit Ili zu verbieten, auch wenn ihr diese Entscheidung schwer fiel, ja, auch schon früher schwer gefallen war. Immer wenn sie Moana mit Ili sah, krampfte sich ihr Herz zusammen, und sie wünschte, Ili wäre nie geboren worden. Bitterkeit ergriff sie, wenn sie dieses Kind beobachtete, körperliche Schmerzen und schließlich sogar Hass, denn in Ili lebte Tristan weiter. Doch sie begriff, dass ein Verbot wahrscheinlich nur zu Trauer und Unverständnis bei Moana geführt hätte, und das Letzte, was Ivana wollte, war, dass ihre Tochter Ili nachtrauerte. So ließ sie die Kinder gewähren und wartete geduldig auf das Aufkeimen der Saat.

Ein einziges Mal in diesen Jahren hatte sie Anlass zur Hoffnung, dass die Freundschaft der Cousinen zerbrechen könnte.

Die beiden waren auf dem Nachhauseweg von Palauli zum Papaya-Palast, wo Moana eine Überraschung für Ili vorbereitet hatte. Ein klägliches Piepen unter einem Hibiskus hielt sie auf, und sie entdeckten einen verletzten Vogel. Er war wenig farbenprächtig, so dass Moana schnell das Interesse an ihm verlor.

»Komm weiter«, sagte sie.

»Wir können ihn doch hier nicht so liegen lassen.«

Moana hob das Bein, doch Ili konnte im letzten Moment verhindern, dass der Vogel zertrampelt wurde.

»Er leidet«, erklärte Moana ungeduldig. »Wir tun ihm einen Gefallen, wenn wir ihn töten.«

»Wenn man jeden, der verletzt ist und ein wenig leidet, sofort umbringen würde, wäre die Welt bald menschenleer.«

Moana verdrehte die Augen. »Was du wieder daherredest! Der Vogel hält uns nur auf. Und ich habe doch eine Überraschung für dich, ein Geschenk.«

Ili wickelte ihn in ein kleines Tuch, so dass nur noch sein Kopf herausragte, und schob ihn vorsichtig zwischen die Falten ihres Kleides. Die Mädchen gingen wieder weiter und sprachen nur noch von dem Geschenk, denn Moana bestand darauf, dass Ili erriet, was es war.

Im Garten des Papaya-Palastes lüftete Moana das Geheimnis und überreichte Ili einen Ring. Fassung und Reif waren aus biegsamen Zweigen geformt, und in der Mitte klemmte der Splitter einer Glasmurmel. Gemessen daran, wie ungern und selten Moana handwerkliche Tätigkeiten ausübte, hatte sie viel Mühe und Zeit auf das kindliche Schmuckstück verwendet, und Ili bedankte sich herzlich. Dann fiel ihr jedoch der Vogel wieder ein.

»Ich muss mich um ihn kümmern«, sagte Ili.

»Das kannst du doch später machen.«

»Nein, das kann nicht warten. Er muss vielleicht geschient werden, und das kann nur meine Mutter.«

»Du hast noch gar nichts zu dem Ring gesagt.«

»Er ist wunderschön.«

»Ja? Was findest du schön an ihm?«

»Wir reden später noch einmal über den Ring. Jetzt suche ich erst meine Mutter. Möchtest du mitkommen?«

»Nein.«

»Vielen Dank noch mal, Moana. Bis nachher.«

Als Moana ins Haus zu ihrer Mutter ging, verdrängte sie ihre Enttäuschung, die mit Wut gepaart war. Ihr Ring war kaum gewürdigt worden, und der Vogel hatte alle Beachtung bekommen. Ivana spürte, dass etwas nicht stimmte. Sie ließ sich von ihrer Tochter den Vorfall berichten, lächelte kurz und seufzte dann: »Was soll ich dazu sagen, Moana? Es hat angefangen.«

 

Misstrauisch verfolgte Moana von da an, was Ili sagte und tat und was sie nicht sagte und tat. Und tatsächlich: Je genauer sie das Verhalten ihrer Freundin in Augenschein nahm, umso deutlicher stellte sie fest, dass Ili überhaupt nicht ihre Freundin war: Von sich aus beteuerte Ili nie ihre Freundschaft, das musste Moana stets aus ihr herauspressen, Ilis Geschenke an sie – Vogelfedern, eine Schale mit Blütenblättern – waren lächerlich, und dass sie mit anderen Mädchen während der Schulpausen lachte und spielte, Mädchen, die Moana nicht leiden konnte, war geradezu beleidigend. Nach und nach überprüfte sie die Vorwürfe, die Ivana gegen Ili erhob, auf ihre Richtigkeit: Ili war in der Tat undankbar, und sie war ungehorsam gegen sie als Ältere.

»So fing es auch bei Tristan an«, berichtete Ivana. »Er dankte uns die Freundlichkeit, mit der wir ihn in der Familie aufnahmen, indem er Tuila verführte und deinen Vater verriet. Er akzeptierte Tupu nie als Familienoberhaupt, sondern machte, was er wollte.«

Immer wieder, bei jeder kleinen Geste, die ihr an Ili nicht passte, begann dieser Satz ihrer Mutter in Moana zu arbeiten: Heute lässt sie sich mit ein paar Schülerinnen ein, die gegen dich sind, und morgen lässt sie sich mit deinen Todfeinden ein.

Als in Palauli eine fiafia für zwölfjährige Jungen und Mädchen gegeben wurde, damit sie ihre Tanzkünste üben könnten, war Moana Feuer und Flamme. Ihre unruhige Art passte gut zum Tanzen, und nicht von ungefähr zählte sie zu den besten jugendlichen Tänzerinnen der Gegend. Ihr Ziel war es, eines Tages eine taupou zu werden, eine Dorfjungfrau, der höchste Bedeutung in der Dorfhierarchie und im Ritus bei Festen und Feiern zukam. Taupous blieben ein paar Jahre im Amt und wurden auch danach hoch geehrt. Glücklicherweise mussten sie nicht dauerhaft Jungfrauen bleiben, denn Moana genoss die bewundernden Blicke der Jungen zu sehr, als dass sie ihnen lange widerstanden hätte.

Ein Junge hatte es ihr besonders angetan. Er war der beste Fischfänger seines Alters und hatte bereits eine Riesenschildkröte erlegt, eine Herausforderung, der sich sonst nur Jungmänner stellten.

Auf dem Fest umtanzte sie ihn wie ein balzender Paradiesvogel und warf ihm ihre ola-ola um den Hals. Er jedoch sah immerzu Ili an, die sich bei weitem nicht so kunstfertig bewegen konnte wie Moana. Er ging zu ihr, sprach sie an, und während sie in einem großen Bogen um das Feuer herumschlenderten und sich unter dem Klang der Trommeln unterhielten, folgte Moana ihnen mit den Blicken.

Irgendwann hielt sie es nicht mehr aus. Sie stürzte auf Ili zu und gab ihr einen Stoß gegen die Brust, so dass sie zu Boden fiel.

»Das ist nicht zu glauben!«, schrie Moana. »Die ola-ola, die er trägt, ist von mir. Du darfst dich nicht mit ihm unterhalten.«

Der Junge nahm die Blumenkette ab und gab sie ihr zurück. Moana presste die Lippen aufeinander.

»Meine Mutter hatte Recht«, schleuderte sie Ili entgegen. »Du bist eine Verräterin. Ich hasse dich, Ili von Arnsberg, und ich hoffe, dass es dir ergeht wie deinem Vater.«

Ili unternahm am nächsten Tag einen erfolglosen Versuch, sich mit Moana zu versöhnen, doch danach ließ sie es auf sich beruhen. Moana war anstrengend, und Ili glaubte, die Zeit würde alles wieder in Ordnung bringen.

 

Vier Wochen vor Ilis zwanzigstem Geburtstag, im November 1934, lag Tuila im Sterben. Sie atmete schwer. Keine Salbe und kein Wildkräutertee aus den Bergen konnten ihr noch helfen.

»Vor zwanzig Jahren habe ich deinen Vater verloren«, keuchte sie. »Eine Ewigkeit. Ich sollte ihn nicht mehr lange warten lassen.«

Sie hatte sich, wie Vaonila es prophezeit hatte, zu Tode geschuftet. Jeden Tag war sie in die Plantage gegangen, hatte ungenutzte Flächen von Gestrüpp befreit, hatte gegraben und gepflanzt und geschnitten und geerntet, hatte gepackt und verladen und war jedem Problem sofort nachgegangen. Obwohl Ili ihr in den letzten Jahren tüchtig zur Hand gegangen war, lag die Hauptlast immer auf Tuilas Schultern. Manchmal war es Ili so vorgekommen, als wolle ihre Mutter es nicht anders, als brauche sie diese vom frühen Morgen bis späten Abend ausgefüllten Stunden voller Papayas. Wenn sie ihre Arbeit einmal unterbrach, dann nur, um Ili Geschichten aus der Vergangenheit zu erzählen.

»Sieh mal«, sagte sie, »du hattest mich zwei Jahrzehnte lang für dich und er nur ein paar Monate. Es ist gut so, wie es jetzt kommt.«

Sie starb still und mit einem Lächeln auf den Lippen.

Ili wollte sie natürlich in Tristans Grab bestatten, aber Ivana benutzte ein weiteres Mal ihren Einfluss auf die Neuseeländer und erwirkte, dass Tuila nicht auf dem Friedhof der Europäer zur letzten Ruhe gebettet werden durfte.

 

Es stellte sich heraus, dass Tuilas eiserne und sparsame Bewirtschaftung der Plantage Früchte getragen hatte, und zwar nicht nur in Form von Papayas, sondern auch in Form von Münzen. Trotz der Tatsache, dass Ivana jedes Jahr die Hälfte der Ernteeinnahmen erhielt und Tuila die Aufwendungen für die Plantage allein bezahlen musste, war es ihr in den vergangenen fünfzehn Jahren gelungen, eintausend Pfund zusammenzutragen.

Ili weinte eine ganze Woche, nicht nur um ihre Mutter, sondern auch ein wenig aus Angst vor dem, was auf sie zukommen würde, und aus Angst vor Ivana. Diese Frau hatte ihr nie direkt etwas angetan, hatte sie noch nicht einmal berührt, geschweige denn Tuilas und ihre Wohnung betreten. Dennoch lag der Schatten Ivanas über dem Papaya-Palast. Wenn sie sich begegneten, sprachen sie kaum miteinander, aber wenn Ivana merkte, dass Ili in der Nähe war, sagte sie übertrieben laut zu ihrer Tochter: »Tuila würde sich im Grabe umdrehen, wenn sie sähe, wie der Garten verkommt.« Oder: »Bald jährt sich der Tag, an dem dein Vater ermordet wurde.«

Nur einmal im Jahr kam es zu einer kurzen Unterhaltung, immer dann, wenn die Gewinne aus der Plantage zu verteilen waren. Genau am letzten Sonntag im Oktober breitete Ivana eine Matte im Garten aus und erwartete Ili mit der Abrechnung. Sie prüfte die Zahlen, so weit ihr Begriffsvermögen das zuließ, beanstandete dies und jenes, beklagte sich auch nach Rekordernten über die, wie sie es nannte, schäbigen paar Pfund, und kehrte in ihr Haus zurück, um genau ein Jahr später wiederzukommen.

Mit Moana war es anders. Seit dem Vorfall bei der fiafia vor einigen Jahren hatten sie nie wieder wie Freundinnen miteinander gesprochen, gingen sich jedoch auch nicht aus dem Weg. Moana fand gelegentlich ein paar Worte über belanglose Dinge. Sie sprach immer kühl und ein wenig von oben herab mit Ili, und empfahl ihr zum Beispiel dringend, eine Salbe aus Aloe gegen ihre von der Arbeit rissigen Hände zu nehmen, und als sie für zwei Jahre zur taupou von Palauli gewählt wurde, hatte Moana ihr Lieblingsthema gefunden. Von Jahr zu Jahr jedoch war für Ili stärker spürbar, auf welch fruchtbaren Boden Ivanas giftige Bemerkungen bei ihrer Tochter fielen, und Moana wurde ihrer Mutter immer ähnlicher.

Im Jahr 1938 starb Ivana. Ili war erleichtert, auch wenn ihr dieses Gefühl ein schlechtes Gewissen bereitete. Sie ging am nächsten Tag nicht in die Plantage, sondern zog ein schönes dunkelblaues Tuch an, bastelte sich eine ola-ola aus lila Blüten, steckte ihr langes schwarzes Haar zu einem lockeren Knoten zusammen, verteilte einen Tropfen Kokosöl über ihr immer noch kleines, rundes Gesicht und schlüpfte in ein Paar Sandalen, die ihre Mutter bei feierlichen Gelegenheiten getragen hatte. Sie betrachtete sich im Spiegel, seufzte und ging die paar Schritte hinüber zu Moana.

Als ihre Cousine die Tür öffnete, wirkte sie einen Moment lang überrascht, ja, entsetzt. Ihr Blick sagte: Ich hätte dich kaum wiedererkannt, aber ihre Zunge fing sich schnell.

»Was willst du?«, fragte sie.

Ili wusste, wie sich eine junge Frau fühlt, die ihre Mutter verloren hat und erst einmal nicht weiß, wie es weitergehen soll. Deswegen war sie gekommen. Doch bevor sie etwas erwidern konnte, kam ihr Moana zuvor: »Bist du zufrieden, ja? Denk bloß nicht, dass sich hier irgendetwas ändert.«

 

Ein ganzes Jahr lang änderte sich tatsächlich nichts, außer natürlich, dass nun Moana auf der Matte im Garten saß, wenn der Tag der Gewinnabrechnung kam. Plötzlich jedoch deutete sich eine Veränderung an.

Sie waren beide Ende zwanzig, und die ersten männlichen Bewerber hatte es bereits vor zehn Jahren gegeben. Vor allem Moana war bei den jungen Insulanern begehrt. Sie war eine schöne Frau, und sie führte ein bequemes Leben, wie es sich sonst vielleicht nur eine Hand voll anderer samoanischer Frauen leisten konnten. Ihr Tagwerk bestand daraus, morgens in der Bucht schwimmen zu gehen, etwas Obst für ihr Frühstück zu schneiden und danach aus purer Langeweile Matten zu flechten, die sie auf einen Stapel legte und nie benutzte. Manchmal tanzte sie durch den Garten, einfach so, ohne Musik. Ihre Nahrung suchte sie sich nicht selbst aus Meer und Wald, sondern marschierte jeden Tag mehrere Meilen zum ersten richtigen Lebensmittelladen, der auf Savaii eröffnet hatte und vom dicken Malietama Opalani und seinem kleinen Sohn Benjamin, den alle nur Ben nannten, betrieben wurde. Auf dem Rückweg ging sie dann in Palauli vorbei und verdrehte den Männern den Kopf. Als ehemalige taupou genoss sie den Vorzug, die Versammlungsorte der Männer betreten zu dürfen, wo sie Späße mit ihnen machte – was sie bei den meisten Frauen, die waschen, Muscheln suchen und das fale aufräumen mussten, und die keine Möglichkeit hatten, auf ihre Männer aufzupassen, in Verruf brachte. Dabei achtete sie allerdings darauf, nicht zu weit zu gehen, und es wurde niemals ein Fall bekannt, in dem ein Samoaner es geschafft hätte, sie zu erobern.

Ili hingegen war nicht ganz so hübsch wie Moana – man zog schmale Gesichter den runden vor –, und die Größe ihres Besitzes wirkte nicht nur anziehend. Jeder, der sie sah, ahnte, wie hart sie arbeiten musste, um ihr Land und das Haus zu erhalten, und das Gleiche käme natürlich auf jeden Mann zu, der sie heiratete. Also, wieso hätte man sie zur Frau nehmen sollen, wenn gleich nebenan eine andere wohnte, der genauso viel Land gehörte, die aber nichts tun musste? Schon darum war die Anzahl von Ilis Verehrern weit geringer als die von Moana.

Trotzdem gab es Verehrer. Ein junger Dörfler aus Palauli versuchte, sich dadurch zu empfehlen, dass er ihr jeden Sonntag eine Taube schoss und vorbeibrachte, und der ali’i von Gataivai, der schon zweifacher Witwer war, lockte mit der Aussicht, dass sie als Häuptlingsfrau künftig nicht mehr selbst in der Plantage arbeiten müsste. Ili war durchaus empfänglich für solche Offerten. Sie lebte ja ziemlich allein, von der arroganten, launischen Moana und den gelegentlichen Kontakten zu Erntearbeitern und Kaufleuten einmal abgesehen. Geschenke und Angebote zu bekommen war für sie so, als ob sie einen kurzen Augenblick lang ihr Leben verließ, das aus viel Arbeit und wenig Gefühlen bestand, und in ein anderes Leben eintauchte. Manchmal, wenn sie morgens aus dem Fenster auf die Plantage schaute, war sie dieses Anblicks müde, und manchmal verabscheute sie die Papayas regelrecht. Aber wenn es dann darum ging, eine Offerte anzunehmen und die Arbeit hinter sich zu lassen oder auch nur mit jemandem zu teilen, wurde es ihr schwer ums Herz und sie machte einen Rückzieher.

Eine Zeit lang hatte sie geglaubt, dass Moana nicht lieben könne und deswegen keinen Mann finde. Inzwischen hielt sie es aber für möglich, dass ihre Cousine ähnlich empfand wie sie. Sie beide, Ili und Moana, waren im Papaya-Palast in einer eigenen Welt aufgewachsen, nicht völlig isoliert zwar, aber dem normalen Dorfleben entzogen. Sie hatten sich nie – wie noch ihre Mütter – einem Familienoberhaupt unterordnen müssen, hatten nie die Gemeinschaftskultur eines Dorfes miterlebt, hatten nie geteilt. Was sie besaßen, war ihr Eigentum, nicht das des ganzen Dorfes, und was sie für ihr Leben entschieden, mussten sie vor keinem Häuptling und keinem traditionell übergeordneten Ehemann rechtfertigen. Diese Freiheit aufzugeben, ja, herzugeben, war beinahe undenkbar geworden.

An einem frühen, klaren Oktobermorgen 1939 geschah etwas Ungeheuerliches, etwas, das eine Veränderung der statischen Verhältnisse andeutete: Es war Erntezeit, und Moana betrat die Plantage. Sie sammelte ein paar Äste auf, die bei der Ernte der Papayas abknickten und zu Boden fielen, fegte sie auf den Haufen, kam zurück und arbeitete weiter. Nicht, dass sie sich übernahm – sie trottete so langsam umher wie eine Schildkröte –, aber allein der Umstand, dass sie überhaupt etwas arbeitete, war so ungewöhnlich, dass Ili zuerst ihren Augen nicht traute. Sie überlegte, ob sie Moana ansprechen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Ihr Verhältnis zueinander war so kompliziert und fragil, dass ein falsches Wort oder eine falsche Geste Moana wieder in ihren Schützengraben treiben konnte. Daher machte Ili einen Bogen um ihre Cousine und beschäftigte sich in einem anderen Teil der Pflanzung.

Als sie später zurückkam, arbeitete Moana immer noch, doch Ili fiel auf, dass sie sich wie zuvor im gleichen Areal bewegte. Die Stöckchen, die sie sammelte, wurden von Mal zu Mal kleiner – ebenso wie der Nutzen ihrer Tätigkeit. Erst da kam Ili auf den Gedanken, dass kein Friedensangebot und keine Langeweile hinter der Arbeit steckte, sondern etwas anderes. Sie beobachtete Moana eine Weile, bis ihr auffiel, dass sie gelegentlich Blicke mit einem der Erntearbeiter auf den Bäumen tauschte. Damals als junges Mädchen auf der fiafia war sie halb ekstatisch um einen Burschen herumgetanzt, heute schlich sie um den Baum, auf dem ein Angebeteter Papayas pflückte. Das Prinzip war dasselbe, nur dass es heute besser funktionierte.

Moana vermied es in den folgenden Tagen und Wochen sorgfältig, Ili den Mann vorzustellen, mit dem sie sich immer häufiger und auch nicht mehr nur unter Bäumen traf. Als sie ihn schließlich sogar in den Papaya-Palast bat und ein Essen für ihn kochte, wurde Ili allerdings neugierig. So weit war Moana bisher noch nie gegangen.

Kurz vor Abschluss der Erntearbeiten, als Ili die Löhne auszahlte, fragte sie den Mann nach seinem Namen.

»Senji«, sagte er, stand mit dem Strohhut in der Hand vor ihrem Kassentisch und verbeugte sich leicht. »Senji Nanai.«

»Senji«, wiederholte sie langsam, als ließe sie sich den Namen auf der Zunge zergehen. »Das klingt nicht samoanisch.«

»Mein Vater ist Japaner«, antwortete er. »Ein Kaufmann aus Tokio. Aber er lebt nicht mehr hier. Er ist …«

»Ich verstehe schon«, unterbrach ihn Ili. Sie konnte sich denken, dass der japanische Kaufmann seine samoanische Geliebte, die gegen den Willen ihrer Familie mit ihm zusammengelebt hatte, irgendwann verlassen hatte und dass der Sohn sich jetzt mit allen möglichen Arbeiten durchschlagen musste, weil er keiner Familie angehörte und nichts besaß.

Was Moana wohl an ihm findet, dachte Ili. Senji war dünn wie ein Halm, fast ein wenig knochig, und er sah aus, als könne der nächste Wind ihn mit sich forttragen. Da er vier Jahre jünger als sie war und ein unschuldiges Gesicht hatte, wirkte er zudem wie jemand, der noch nicht erwachsen war. Zwar kletterte er unglaublich schnell die Papayas hinauf und stellte sich bei der Ernte geschickt an, doch das waren kaum Argumente, die jemanden wie Moana beeindruckten. Er war überhaupt nicht ihr favorisierter Typus von Mann.

»Willst du bei der nächsten Ernte wieder dabei sein?«, fragte Ili.

»Sehr gerne, wenn das möglich wäre«, antwortete er mit seiner weichen Stimme und vergaß auch nicht eine angedeutete Verbeugung. Alles in allem fand sie ihn höflich, steif und nichtssagend. Da Moana aber etwas an ihm zu liegen schien und weil er außerdem gut arbeitete, hatte Ili nichts dagegen, dass er über die Erntezeit hinaus noch ein paar Tage blieb.

»Ich glaube, es wäre in unser aller Sinn, wenn du in dieser und in der nächsten Woche einige Aufräumarbeiten übernimmst. Das ist nicht sehr anstrengend, und du hättest viele Pausen …«

»Ich bleibe gerne.«

»Ja«, sagte Ili und grinste. »Das dachte ich mir. Du verstehst dich gut mit meiner Cousine, habe ich Recht?«

Senji nickte. »Ich habe ihr gesagt, was für ein guter Mensch sie ist.«

Ili riss die Augen auf. »Oh«, sagte sie verwundert. »Das ist doch mal ein ausgefallenes Kompliment – vor allem für Moana. Sie war bestimmt überrascht. Ich wollte sagen, angetan. Wie dem auch sei: Ich freue mich, dass du dich hier wohlfühlst, Senji. Tja dann … Bis morgen.«

»Bis morgen«, wiederholte er und ging.

 

Ili verstand nicht, wieso sie so viel an Senji dachte. Dieser Mann hielt Moana für einen guten Menschen, verbeugte sich andauernd und hatte, mit Ausnahme eines japanischen Aussehens, äußerlich nichts Besonderes an sich. Je häufiger sie über das Gespräch mit ihm nachdachte, desto mehr ärgerte sie sich, dass sie ihm das Angebot gemacht hatte, vorläufig hier zu bleiben. Wieso tat sie so etwas? Wieso erwies sie Moana einen Gefallen? Und vor allem: Wieso machte sie überhaupt so ein Aufhebens darum, dass sie dieses Angebot gemacht hatte? Das alles ergab einfach keinen Sinn.

In den nächsten zehn Tagen behandelte sie Senji nicht eben gut. Sie hätte ihm einfach aus dem Weg gehen können, doch das wollte sie nicht. Irgendwie meinte sie, ihn für das Kompliment bestrafen zu müssen, das er Moana gemacht und Ili weitererzählt hatte. Er nahm ihre Launen widerspruchslos hin, aber sie spürte, dass er nicht verstand, was er anders machte als vorher und was plötzlich mit ihr los war – und genau diese Naivität wiederum stachelte sie noch mehr gegen ihn auf. Sie wählte ausgerechnet Senji dazu aus, mit ihr die abgeerntete Plantage zu inspizieren. Stundenlang marschierte sie mit ihm durch die tropischen Kolonnaden, gab Order, eine vergessene Papaya abzuernten oder einzelne Bäume stärker zu lichten, ließ Stellen markieren, wo Neupflanzungen möglich waren, und Bäume kennzeichnen, die schlecht gewachsen waren und gefällt werden sollten. Dabei konnte er ihr so gut wie nichts recht machen, bestenfalls ignorierte sie seine schnelle und gute Arbeit und gab ein leidlich zufriedenes Seufzen von sich, meistens jedoch fand sie irgendetwas, an dem sie herumquengeln konnte.

Und Senji schwieg.

Was er abends machte, wusste sie nicht – und wusste es doch. Sie sah ihn nicht im Garten oder auf dem Gelände, aber nach Einbruch der Dunkelheit drang Moanas Lachen bis zu ihr herüber, das zweifellos ihm galt. Morgens war er der erste Arbeiter auf der Plantage, was ebenfalls darauf hinwies, dass er die Nacht in Moanas Wohnung verbracht hatte.

Ili rechnete mit dem Schlimmsten. Sie war neidisch auf Moana, neidisch darauf, dass ihre Cousine alles bekommen würde, was sie sich je gewünscht hatte: Sie war taupou geworden, wohlhabend, sie bekam einen Mann. Und Ili bekam nichts. Sie arbeitete von früh bis spät, hatte nicht einen einzigen Menschen bei sich und wurde weder bewundert noch begehrt, noch machte man ihr Komplimente. Ihre Mutter hatte ihr einmal gesagt, dass sie den Weg beschreiten solle, den sie wolle, und nicht den, den andere wollten. Aber das Problem war, dass sie nicht wusste, was sie wollte.

Am letzten der zehn Tage – Ili war inzwischen unausstehlich geworden, auch für sich selbst – kam Moana auf der Suche nach Senji in die Plantage.

»Da seid ihr ja!«, rief sie und legte ihren Arm auf Senjis Schulter. »Ich habe dir etwas zu sagen, Ili. Senji und ich sind verlobt. Wir werden heiraten, und zwar schon nächsten Monat.«

»Oh, das ist … wirklich wunderbar. Ich gratuliere.«

Sie wollte gehen, doch Moana rief sie zurück. »Da ist noch etwas, Ili. Es war Senjis Vorschlag, dass du meine Trauzeugin wirst.«

»Ich?«

»Siehst du hier sonst noch jemanden, der Ili heißt? Natürlich du! Als letzte Verwandte sozusagen. Ist doch nicht abwegig, oder?«

»Normalerweise nicht. Ich dachte nur … Wir beide hatten es in den letzten Jahren nicht immer leicht miteinander.«

»Das ist jetzt vorbei«, sagte Moana, als erlasse sie gerade ein Gesetz. »Vergeben und vergessen.« Sie tätschelte Ilis Hand. »Dann ist es abgemacht, ja? Oh, bitte, lasst euch bei der Arbeit nicht stören, ich gehe schon wieder.«

Da stand Ili mit ihrem künftigen Schwager, dem Mann, dem bald die Hälfte des Besitzes gehören würde und den sie eben noch wie einen Pflugochsen behandelt hatte. Reue und Trotz lagen in ihr im Wettstreit, und unentschlossen, welches Gefühl siegen würde, blickte sie in Senjis dunkle, mandelförmige Augen.

»Wenn Sie gestatten«, sagte er umständlich und freundlich, »dann schlage ich vor, dass wir jetzt eine Tasse kava trinken.«

 

Mit den Neuseeländern war der Tee nach Samoa gekommen. Nicht alle mochten ihn, vor allem in den abgelegenen Regionen im Westen Savaiis und im Osten Upolus lehnte man ihn ab, aber Ili schmeckte Tee. Er war billig, und nach einem harten Arbeitstag war es einfacher, einen Tee aufzubrühen, als mühsam eine Kavawurzel zu zerstampfen und die Fasern mittels eines Bastbündels aus dem Saft zu fischen.

Ili hatte schon tausendmal Tee zubereitet, doch an diesem Tag ging alles schief. Weil sie Senjis Blicke auf ihren Händen spürte, war sie abgelenkt und nahm doppelt so viel wie normalerweise. Sie versuchte, einen Teil der getrockneten Teeblätter mit einem Löffel aus dem Tuchsieb zu holen, was ziemlich dumm aussah, und deshalb schüttete sie den Tee einfach aus dem Fenster. Im nächsten Versuch warf sie die Teedose um, und das war der Moment, als Senji ihr sacht die Utensilien aus der Hand nahm und sagte: »Gestatten Sie, dass ich das für Sie mache?«

So wird die Zukunft aussehen, dachte sie. Genau so. Senji wird mir höflich und mit einer Verbeugung die Geschäfte aus der Hand nehmen. Er wird die Arbeiter anheuern, den Beginn der Ernte bestimmen, die Verträge mit den Kaufleuten aushandeln. Er wird all das tun, was ich bisher getan habe, was mein Leben verhinderte, was mein Leben war. Er wird mir mein Leben wegnehmen. Und dabei wird er auch noch lächeln, so wie jetzt.

»Wissen Sie«, erzählte er, während er mit sicherer Hand den Tee zubereitete, »in Japan ist Tee kein Getränk, sondern eine Kunst. Als ich noch ein kleiner Junge war, gab mein Vater mir Unterricht darin, Tee zuzubereiten. Überhaupt lehrte er mich alle alten japanischen Traditionen, einschließlich des Umgangs mit dem Samurai-Schwert. Vermutlich wusste er schon damals, dass er nicht mehr bleiben würde, bis ich erwachsen war. Ich war zwölf Jahre alt, da tätschelte er mir den Kopf und verabschiedete sich für immer.«

Senji blickte in die dampfende Kanne und fuhr fort: »Er hinterließ meiner Mutter einen ansehnlichen Geldbetrag, aber er hinterließ ihr nicht das Wissen, wie damit umzugehen sei. Sie vertraute das Geld Menschen an, die es ihr stahlen. Das Geld war eine Belohnung für ihre Liebe und Treue, verstehen Sie, und diese Leute nahmen es ihr einfach weg.«

»Das kommt mir sehr bekannt vor«, sagte Ili, die plötzlich darauf brannte, Moana einen Seitenhieb zu versetzen.

»Susu mai«, ging er sofort darauf ein. »Hören Sie! Ich habe erfahren, wie es zu Ihrer beider Feindschaft gekommen ist.«

»Von Moana? Da kann ich mir schon vorstellen, dass meine Eltern nicht gut abgeschnitten haben.«

»Nicht nur von ihr«, berichtigte Senji. »Von vielen. Menschen aus den Dörfern, Arbeitern. Daher weiß ich, dass Ihrer Mutter und Ihnen Unrecht widerfahren ist, Ili. Aber manchmal kann man einen Weg nicht zurückgehen auf der Suche nach der Abzweigung, die man verpasst hat, das würde zu viel Kraft und zu viel Ruhe kosten. Also geht man besser den Weg weiter, auf der Suche nach einer neuen Abzweigung. Gehen Sie nicht zurück, Ili! Hadern Sie nicht! Gehen Sie weiter! Versuchen Sie, eine Gemeinschaft mit Moana zu finden.«

Ili, die dringend etwas mit ihren Händen tun musste, kehrte die Teeblätter auf dem Boden zusammen.

»Ach, ich vergaß«, sagte sie höhnisch, »Moana ist ja ›ein guter Mensch‹, nicht wahr?«

Senji goss sehr langsam den Tee in große Schalen, und seine leise Stimme mischte sich mit dem Plätschern der mahagonifarbenen Flüssigkeit.

»Sie hat mir das Geld gegeben, das meine Mutter braucht, um zu überleben. Am dritten Tag, nachdem ich hier zu arbeiten angefangen habe, hatte Ihre Cousine die Freundlichkeit, mich anzusprechen. In den Pausen redeten wir, und als sie erfuhr, dass meine Mutter krank war und kein Arzt auf Samoa ihr helfen konnte, gab sie mir das Geld für die Behandlung in Sydney.«

»Das ist … Ich wusste ja nicht … Geht es ihr besser?«

»Sie ist noch in Australien. Ich bete jeden Tage für sie.« Senji ging zum Fenster und blickte hinaus. »Haben Sie eine Ahnung, warum Moana das getan hat?«

Ili zuckte mit den Schultern. »Vermutlich, weil sie weiß, dass ein Halbjapaner ohne Zugehörigkeit zu einer Großfamilie keine Einschränkung ihrer Freiheit bedeutet, wenn sie ihn zum Mann nimmt. Sie müsste nichts aufgeben. Und allein wird es ihr zu langweilig.«

»Sie sehen immer nur das Schlechte in ihr.«

»Weil ich nichts Gutes von ihr kennen gelernt habe.«

»Sie sehen überhaupt nur das Schlechte. Im besten Fall sehen Sie über die Dinge hinweg und durch die Menschen hindurch.«

Sie warf den zusammengekehrten Tee durch das Fenster.

»Unsinn! Wirklich, ich weiß nicht, was das heißen soll.«

Seine ruhige, gelassene Miene hellte sich kurz auf. »Ich möchte Ihnen etwas zeigen.«

»Was?«

»Nicht jetzt. Kommen Sie morgen vor Sonnenaufgang in die Plantage.«

»Aber …«

»Nichts mehr sagen. Jetzt trinken wir Tee.«

 

Wie verabredet ging Ili am nächsten Morgen in die Papayas. Sie wusste nicht, wozu dieses Treffen gut sein sollte, aber seltsamerweise freute sie sich darauf. Eigentlich war Werktag, und in einer Stunde würden die Arbeiter kommen, dennoch hatte sie sich die Haare in Blütenwasser gewaschen und statt des gedeckten, graublauen Tuchs ein hellgrünes Kleid angezogen, das sie sich vor einigen Jahren selbst zu Weihnachten geschenkt hatte, ohne es je zu tragen. Sogar eine Hibiskusblüte hatte sie sich ins Haar gesteckt, was sie zuletzt vor einer halben Ewigkeit gemacht hatte, doch im letzten Moment, bevor sie die Pflanzung betrat, warf sie die rote Blume weg.

Senji, an einen Stamm gelehnt, wartete bereits. Als sie im Halbdunkel vor ihm stand, bemerkte sie zum ersten Mal, dass seine teichstillen Augen sowohl Heiterkeit als auch Traurigkeit in sich bargen und dass sein schmales Gesicht etwas Melancholisches hatte.

Er berührte kurz ihren Arm und sagte: »Afio mai. Guten Morgen.«

»Guten Morgen.« Sie stand da wie ein Mädchen, das auf ein Kompliment über sein Kleid hofft.

»Wir müssen noch etwas warten«, flüsterte er stattdessen.

Ili fragte sich, ob Moana von dieser Begegnung wusste oder ob Senji sie im Unklaren gelassen hatte. Sie hoffte Letzteres. Sie wollte diese Verabredung mit Senji ganz für sich haben, weil es etwas bisher Einmaliges für sie war, sich im Morgengrauen mit einem Mann im Obsthain zu treffen. Es erinnerte sie an die Geschichte, die Tuila ihr darüber erzählt hatte, wie sie Tristan kennen gelernt hatte, die Geschichte von einer Zeit, in der ihre Eltern sich noch unbeschwert hatten lieben dürfen.

Ili wagte nicht, Senjis Schweigen zu durchbrechen, obwohl sich das Warten hinzog. Sein Schweigen hatte etwas Durchdachtes, etwas Schönes, wie von der Natur Vorgesehenes. Es war ohne jede Verlegenheit oder Langeweile. Mit halb offenem Mund, beinahe vorsichtig, blickte er zu den Kronen hinauf, dann wieder zwischen den Stämmen hindurch. Und als die Dämmerung anbrach, entstand eine warme, intime Atmosphäre zwischen ihnen, so als lebe Senji in einem Traum, in den sie langsam eindringen konnte. Er lehnte noch immer am Stamm, die Hände in die Taschen der dreiviertellangen Arbeiterhose gesteckt. Ili ahnte seinen Körper, ahnte die flachen Muskeln seiner Brust, die sich unter dem schmutzigen Hemd bewegten, ahnte die dünnen, festen Beine.

Und dann erglühte der Himmel durch das Dach der Papayablätter. Senjis Gesicht war von einem kupfernen Schimmer überzogen. Er zog die Hände aus den Hosentaschen und sagte: »Gleich ist es so weit.«

Sie konnte ihren Blick nicht mehr von ihm abwenden. Langsam verschwand der kupferne Schimmer von seinem Gesicht. Mit dem klarer werdenden Licht schien sein Ausdruck fester zu werden, erwartungsvoller.

»Jetzt«, sagte er. »Also, was sehen Sie?«

Irritiert und enttäuscht, weil sie den Blick von ihm abwenden musste, antwortete sie seufzend: »Papayas. Ich sehe Papayabäume.«

»Sie scheinen ein schwieriger Fall zu sein«, sagte er und lächelte. »Machen Sie einen Spaziergang.«

»Durch die Plantage?«

»Aber ja.«

»Wozu?«

»Das werden Sie schon sehen. Ich müsste mich sehr in Ihnen täuschen, wenn Sie nicht …« Er lächelte wieder.

»Wenn ich nicht was?«

»Nun gehen Sie endlich.« Er scheuchte sie davon. »Ich warte hier.«

Sie war noch nie grundlos durch den Hain spazieren gegangen. Als Kind hatte sie hier gespielt, und später war es ihr Arbeitsplatz, so dass die Papayas stets einen praktischen Nutzen für sie gehabt hatten. Wenn man sie gelegentlich fragte, warum sie nicht auf Kokos, Mangos, Ananas oder Kakao umstieg, antwortete sie stets, dass Papayas die ökonomischsten Pflanzen seien, die sie kenne: ein glatter, schlanker Wuchs, ein paar spärliche Seitentriebe in der Krone, mit so gut wie mit jedem Boden zufrieden, anspruchslos und dennoch über und über voll mit dicken, grünen Früchten. Ein Wunder an Rationalität!

Anders hatte sie die Bäume nie betrachtet.

Jeder Schritt, den sie barfuß auf dem weichen Boden machte, knisterte leise. Ein paar schräge, mit Staubkörnchen durchsetzte Sonnenstrahlen waren alles, was das Blätterdach durchließ, ansonsten leuchtete die Pflanzung in einem sanften Licht wie unter einem riesigen Schirm. So hatte sie ihren Hain noch nie wahrgenommen. Kleinigkeiten fielen ihr auf. Die jungen Bäume, die vereinzelt gezogen wurden, waren von einer zartgrünen Tönung, während die etwas älteren ein sattes, dunkles Grün angenommen hatten. Hoch oben blitzten die Baumfächer wie silberne Fontänen in der diesigen Sonne.

Ili kam sich vor wie eine Kellerblüte, die nach Jahren und Jahren in trüber Dunkelheit sich erstmals öffnet und die Welt sieht. Ihr ganzes Leben lang kannte sie diese Pflanzung, sie war ein Teil von ihr. Nicht einen Tag lang war sie ohne Papayas gewesen. Und dennoch hatte sie dieses Licht bisher noch nie wahrgenommen. Sie hatte es gewiss schon einmal gesehen, vielleicht auch schon hundert Male – und doch auch wieder nicht. Sie hatte – um mit Senjis Worten zu sprechen – durch die Bäume und das Licht und die Stimmung hindurchgesehen.

So wie durch Moana. Das sollte Senjis Meinung nach wohl die Lehre aus diesem Spaziergang im Zauberwald sein.

Ili ließ sich Zeit bei ihrem Streifzug durch die Baumreihen, blieb immer wieder stehen, setzte sich auf den Boden, legte die Hand auf die Brust.

Als sie irgendwann zurückging und vor Senji stand, hatte sie das Gefühl, dass ein Teil von ihm auf sie übergegangen war.

Sie sah ihn an, lächelte und sagte: »Ou te alofa ia te oe. Ich liebe dich.«

 

»Du heiratest Moana nur aus Dankbarkeit, weil sie dir Geld für deine Mutter gegeben hat.«

Sie waren im Papaya-Palast, und Ili konnte sich erlauben, laut zu werden. Keiner außer ihnen war da, denn die Arbeiten in der Plantage waren abgeschlossen. Vor zwei Tagen und einem halben hatte sie Senji ihre Liebe gestanden, und seither hatten sie sich nicht mehr sprechen können. Zuerst waren sie von Arbeitern gestört worden, und später hatte Moana ihren Verlobten mit Beschlag belegt. Zwei volle Tage lang hatten sie sich mal hier und mal da aus der Ferne gesehen und hatten knappe Blicke getauscht. Ili war beinahe verrückt geworden. Heute Morgen endlich war Moana nach Palauli gegangen, um ihr Hochzeitsgewand von einer erfahrenen Frau schmücken zu lassen. Er war sofort zu Ili gekommen – aber nur, um ihr zu sagen, dass er weiterhin vorhabe, Moana zu heiraten.

»Man hat meiner Mutter ein zweites Leben geschenkt, Ili. Gestern kam ein Brief von ihr aus Sydney. Sie ist gesund. Moanas Zuneigung zu mir hat meine Mutter gesund gemacht.«

»Das ist eine poetische, aber lächerliche Formulierung«, widersprach sie. »Moanas Geld hat dafür gesorgt, dass deine Mutter zu Spezialisten in Australien gehen konnte, und die waren es, die deine Mutter gesund gemacht haben. So wie du es ausdrückst, hört es sich an, als sei ihre unsterbliche Liebe ein heilendes Tonikum für deine Mutter gewesen.«

»Man hat mich gelehrt«, erwiderte er ruhig, »die Dinge so zu sehen.«

»Selbst wenn du sie so siehst: Darf Moana dich einfach kaufen? Ach, was frage ich noch. Sie kauft ja alles! Hat ja auch das Geld dazu! Das Geld, das diese Hände jeden Tag erarbeiten!« Sie streckte sie ihm zitternd vor Aufregung hin, wandte sich abrupt ab und brach in Tränen aus.

Er ging ein paar Schritte durch den Raum. Ilis Haus mit seiner kühlen, von Bougainvilleen umrankten Veranda, seiner hellen Einrichtung und seinen Büchern schien ihm zu gefallen. Er streichelte Tristans Vermächtnis, die Buchrücken der Romane von Fontane, Thomas Mann und Annette von Droste-Hülshoff, die Südseeromane von Stevenson und Melville, die Gedichtbände von Goethe, Morgenstern und Zweig.

»Sie hat eine verwundete Seele, die ich ihr verbinden kann«, sagte er. »Deine Seele hat es einfacher.«

»Ja, natürlich!«, entgegnete sie sarkastisch. »Meine Seele hat es sehr einfach. Sie kämpft nur jeden Tag um ihre Existenz, das ist alles, mehr nicht. Was ist das schon? Dass mir nichts bleibt, als jeden Tag zu schuften, dass ich mir meine Weihnachtsgeschenke selbst kaufen muss, dass ich einsam bin … Sicher, Moana hat es bedeutend schwerer als ich. Ihr liegen so viele Männer zu Füßen, dass sie nicht weiß, wen sie wählen soll. Alle bewundern ihre Schönheit …«

»Du bist die Stärkere«, unterbrach er sie. »Du hungerst vielleicht, Ili, aber Moana verhungert. Ist dir noch nie der Gedanke gekommen, dass sich hinter ihrer koketten, selbstgefälligen Art eine große Unsicherheit und Schwäche verbirgt? Sie leidet, mehr noch als du, unter eurer Feindschaft und darunter, wie es dazu gekommen ist, und sie hat sich instinktiv einen Menschen gesucht, der ihr helfen kann.«

Ili schluckte. Aus dieser Perspektive hatte sie Moana tatsächlich nie betrachtet. Vielleicht stimmte es, vielleicht brauchte ihre Cousine die Betonung ihrer äußerlichen Attribute, um Halt zu finden. War nicht schon Tupu ein tief verunsicherter Mensch gewesen? Hatte sich nicht schon Ivana aus Loyalität – und Dummheit – in ein brüchiges Geflecht aus Lügen und halben Wahrheiten verstrickt, aus dem sie nicht mehr herauskam? Ili musste an ihre Kindheit denken, als Moana wieder und wieder die Bestätigung von ihr haben wollte, dass sie die Liebste, Beste und Schönste sei und dass Ili sie nicht verlassen würde.

»Nun gut«, sagte Ili. »Du meinst, es ist deine Pflicht, Moana zu helfen. Aber über Pflicht weiß ich auch einiges, weiß, wohin sie einen bringen kann. Mein Vater war so ein pflichtbewusster Mensch. Er fühlte sich der Familie ebenso verpflichtet wie dem Vaterland und den Traditionen und der Gerechtigkeit. Er fühlte sich so vielen Dingen gegenüber verpflichtet, dass er immer nur kurz das tat, was seine innere Stimme ihm riet, und die übrige Zeit der Pflicht folgte. Ein Sprichwort sagt: Wer zwei Hasen hinterherläuft, fängt am Ende keinen. Tristan starb, weil er ein guter Soldat sein und weil er anderen damit etwas beweisen wollte. Wenn du Moana heiratest, Senji, verleugnest du deine Gefühle, und das wird dich bis an dein Lebensende verfolgen.«

Sie stellte sich in den Türrahmen, versperrte ihn mit den Armen und sagte: »Ich lasse dich erst gehen, wenn du mir ins Gesicht sagst, dass du mich nicht liebst.«

Sie sah ihm in die schwarzen, glitzernden Augen.

 

Als Senji Moana sagte, dass er Ili liebe und sie heiraten wolle, wahrte sie nur mühsam die Fassung. Gleichgültig, was er ihr zur Erklärung und Entschuldigung anbot, sie wollte nichts davon hören und wies ihm die Tür.

Ihr Kinn vibrierte, als sie ihm nachrief: »Ich will jedes einzelne Pfund, das ich dir gegeben habe, zurückhaben!«

Er seufzte: »Darum ist es dir doch nie gegangen, oder, Moana? Um Geld? Das Geld ist doch unwichtig.«

»Ich will jedes einzelne Pfund zurückhaben«, wiederholte sie. »Sag das deiner Frau.«

Dann warf sie die Tür zu und wurde zwei volle Wochen nicht mehr gesehen.

Ili und Senji warteten noch, bis seine Mutter aus Australien kam. Sie heirateten an einem Oktobertag 1939, nicht in der Kapelle von Palauli, sondern unten an der Bucht. Die Palmwipfel waren an diesem Tag Spielzeuge des Windes, und die grünen Wogen schwappten schäumend über die Riffe. Ili wählte sich Senjis Mutter als Trauzeugin, während Senji, der keiner Familie angehörte und mit keiner bekannt war, den Ladenbesitzer Malietama Opalani und dessen jungen Sohn Ben an seiner Seite hatte.

Am nächsten Tag fuhren sie gemeinsam zur Bank nach Apia und hoben Ilis sämtliche Geldreserven ab, um sie Moana zu geben. Als sie die Tür öffnete, riss sie ihnen den Geldbeutel aus den Händen, funkelte Ili an und flüsterte: »Das wirst du eines Tages büßen, Ili.«

Das waren die letzten Worte, die sie für mehr als ein halbes Jahrhundert an Ili richtete.

Sie heiratete einige Monate später einen jungen Mann namens Tino. Er sah sehr gut aus und hatte prächtige Muskeln, aber Senji, der einen sechsten Sinn für verborgene menschliche Gefühle hatte, sagte, dass diese Ehe nicht gut gehen würde. Moana tat ihm Leid, auch wenn sie mit Tino prahlte und überall verkündete, was für ein prächtiger Gatte er sei und wie armselig sich dagegen Senji ausnehme. Sie verhöhnte Senji, wo immer es ging.

 

Für Ili und Senji war es eine arbeitsreiche, aber auch eine wunderbare Zeit. Wenn Ili nach einer Beschreibung für ihre Ehe suchte, dann fiel ihr jedesmal das Wort »schön« ein. Ja, ihre Liebe war schön: leise, sanft wie ein Ruhekissen, eingebettet in gegenseitiges Verstehen. An den harten, anstrengenden Tagen in der Plantage redeten sie oft kein einziges Wort miteinander, sahen sich manchmal nur im Vorbeigehen, nickten sich zu, sprachen mit den Augen. Abends dann, wenn sie zu müde für lange Gespräche waren, zündete er eine Kerze an und spielte mit Ilis schwarzen Haaren, bevor sie sich dicht beisammen zum Schlafen legten.

Ili erwachte erst in dieser Zeit so richtig zum Leben. Alles, was Tuila ihr einmal gezeigt hatte – die Natur mit ihren tausend Kostbarkeiten, das Glück der kleinen Dinge – und das sie seit Tuilas Tod verlernt und vergessen hatte, kam dank Senji wieder zum Vorschein. Wenn sie auf den Friedhof ging und Blumen auf dem Grab ihrer Eltern niederlegte, wünschte sie sich, dass ihre Mutter Senji kennen gelernt hätte.

Eines Tages, als sie wieder einmal ihren Vater besuchte, stellte sie fest, dass die Inschriften des Grabsteins zerkratzt waren. Tristans Name war ausgelöscht. Natürlich gab es keinen Beweis für Moanas Täterschaft, doch Ili musste nicht lange überlegen, wer hinter dem rachsüchtigen Anschlag steckte. Nur Senji zuliebe stellte sie ihre Cousine nicht zur Rede.

»Wie soll ich denn sonst darauf reagieren?«, fragte sie ihn.

Er streichelte ihren Rücken. »Wir kaufen einen neuen Stein.«

»O, Senji, wir kommen dieses Jahr gerade so über die Runden. Niemand will Papayas. Der Krieg in Europa bewirkt, dass überall gespart wird, selbst in Australien.«

»Dann besorge ich selbst einen Stein und kerbe die Inschriften ein. Ich kann das.«

»Schon«, seufzte sie, »aber wir haben so viel zu tun, und nun auch noch das.«

»Sie ist unglücklich«, sagte er. »Darum macht sie solche Sachen.«

Ili stimmte ihm im Grunde zu, Moanas Unglück war ja auch nicht zu übersehen. Tino machte, wie die meisten samoanischen Männer, was er wollte und trieb sich den ganzen Tag herum. Wenn ihm gerade einmal danach war, blieb er zu Hause, was aber selten vorkam, denn Moana machte ihm ständig Vorhaltungen, dass er sich nicht um die Plantage kümmerte. Sie selbst machte keinen Finger krumm, von ihm erwartete sie jedoch, dass er sich einmischte und Ili und Senji die Zügel aus der Hand nahm. Doch daran hatte Tino kein Interesse. Alle vier bis sechs Wochen schlenderte er mit dem Enthusiasmus eines gelangweilten Katers durch die Pflanzung, redete mit ein paar befreundeten Arbeitern, klopfte Senji grinsend auf die Schulter, gab ein paar großspurige Bemerkungen von sich und trottete wieder davon. Tino war nicht Moanas große Liebe – und umgekehrt.

Manchmal ging Ili mit sich ins Gericht und fragte sich, wie viel Schuld sie an Moanas Unglück trug. Meistens regte sie sich über diese Frage so auf, dass sie sie nicht weiter verfolgte. Aber es kam auch vor, dass sie sie bis zum Ende durchdachte: Wieso hatte sie Senji erst begehrt, als Moana sich für ihn interessierte? Warum hatte sie ihn zunächst noch nicht einmal wahrgenommen? Hatte sie sich Moanas wegen in ihn verliebt, aus einem tiefen Gefühl für Rache heraus, weil ihre Cousine alles hatte und sie nichts? Liebte sie Senji überhaupt? Oder glaubte sie nur, ihn zu lieben, weil sie damit etwas an sich genommen hatte, das vorher Moana gehörte?

Diese Fragen verstörten Ili vor allem deshalb, weil sie sie nicht mit letzter Sicherheit beantworten konnte. Kein Mensch kennt sich selbst so gut, dass er den tiefsten Grund und das innerste Motiv für seine Handlungen zu nennen vermag.

 

Am 7. Dezember 1941 griffen die Japaner den amerikanischen Flottenstützpunkt auf Hawaii an und rissen damit den Pazifik in den Zweiten Weltkrieg hinein. Das Land der aufgehenden Sonne eroberte binnen weniger Monate die Philippinen, Burma, Malaysia und Singapur, ganz Niederländisch-Indien und Neuguinea, die Karolinen-, Marianen- und Marshall-Inseln, und schließlich bedrohten die Japaner auch Samoa.

In der neuseeländischen Verwaltung in Apia wuchs die Nervosität. Man stellte an den Küsten Maschinengewehre auf und umgab sie mit Sandburgen. Die Wälder hallten von den Übungen mit Granatwerfern wider. Zerstörer und Schnellboote kreuzten um Savaii und auch vor der Palauli Bay. Selbstverständlich wurden alle Samoaner aufgefordert, ihre Waffen abzugeben und sich nachts nicht mehr im Freien aufzuhalten, weil man fürchtete, dass japanische Spione Sabotageakte verüben oder die Inseln sozusagen von innen heraus erobern könnten. Die Samoaner wurden ebenfalls aufgefordert, alles Verdächtige zu melden, und dies war eine der wenigen Aufforderungen, der sie wirklich nachkamen, denn die Furcht vor einer japanischen Eroberung saß tief, da die Japaner für ihre rigide Besatzung berüchtigt waren.

Im Juni 1942 fuhr ein Jeep mit vier neuseeländischen Soldaten am Papaya-Palast vor und durchsuchte Ilis und Senjis Wohnung. Sie waren zu diesem Zeitpunkt in der Plantage, und als sie zurückkamen, wartete ein unfreundlicher Sergeant auf sie.

»Sie haben sich der Aufforderung widersetzt, Waffen abzugeben«, stellte er ohne jeglichen Gruß unumwunden fest.

»Nein«, sagte Ili und sah Senji an. »Besitzt du eine Waffe?«

»Nein«, bestätigte er.

»Uns wurde der Besitz einer Waffe gemeldet. Darum haben wir Ihr Haus durchsucht. Und wir fanden tatsächlich eine Waffe. Diese hier.«

Er griff hinter sich in den Jeep und holte ein in roten Samt eingeschlagenes Schwert hervor.

»Aber das …«, stammelte Senji, »das ist doch bloß das Samuraischwert meines Vaters. Sein Abschiedsgeschenk.«

»Es ist eine Waffe«, sagte der Unteroffizier.

»Ich habe das Schwert seit Jahren nicht in der Hand gehabt.«

»Dennoch ist es eine Waffe«, beharrte der Neuseeländer. »Ich beschlagnahme sie hiermit. Was sind das für Bücher in Ihrem Haus? Sie sind in deutscher Sprache geschrieben. Propagandamaterial?«

Ili lachte auf. »Sofern Sie Goethe als Propa…«

»Wir prüfen das. Einige Bücher sind beschlagnahmt.«

»Das ist doch lächerlich.«

Der Sergeant setzte sich in den Jeep und gab dem Fahrer den Befehl loszufahren.

Ili wiederholte ihren Vorwurf, nachdem sie fort waren. »Das ist doch lächerlich«, sagte sie zu Senji.

Er kratzte sich am Kopf. »Na ja! Eine Halbdeutsche, die fließend Deutsch spricht und deutsche Bücher liest, verheiratet mit einem Halbjapaner, der japanisch spricht und ein Samurai-Schwert besitzt: Sag selbst, in diesen Tagen kann man bessere Empfehlungen haben.«

Beiden war klar, dass Moana hinter der anonymen Anzeige steckte, denn sonst wusste niemand von Senjis Schwert. Er hatte es ihr während ihrer kurzen Verlobungszeit einmal gezeigt.

Senji fürchtete nun, dass man ihn verhaften würde. Man hatte von Internierungslagern auf dem neuseeländischen Festland gehört, und die fürchterlichsten Gerüchte machten die Runde: dass man die Internierten schlecht ernähre, dass es zu viele seien und man sie daher auf alten Kähnen aussetze und in den japanischen Machtbereich tuckern lasse.

»Ich will nicht nach Japan. Was würde aus meiner Mutter werden!«

»Erstens musst du nicht nach Japan. Und zweitens würde ich mich natürlich um deine Mutter kümmern. Aber das sind doch alles nur Übertreibungen, was die Leute schwatzen.«

»Ich bringe euch alle in Gefahr.«

»Hör auf, solchen Unsinn zu reden!«

Allerdings gab es Nachkommen einstiger deutscher Siedler, die tatsächlich von einem Tag auf den anderen verschwanden. Senji, der immer so ruhig und gelassen gewesen war, steigerte sich trotz Ilis Beruhigungsversuchen, vernünftigen Argumenten und Appellen immer weiter in die Vorstellung hinein, eines Tages würde man ihn genauso abholen, mit ungewissem Ziel fortbringen, und Ili würde ihn nie mehr wiedersehen. Wirtschaftliche Probleme taten ein Übriges. Die Ernte war zwar gut ausgefallen, doch man musste sie für schlechte Konditionen an die Neuseeländer abgeben.

Ende Oktober – die Seeschlacht um die Salomon-Inseln war gerade im Gange und die Nerven der Neuseeländer auf Samoa lagen blank – fuhr mitten in der Nacht ein Militärlaster vor. Es wurde heftig an der Tür geklopft, und Ili öffnete sie gerade noch rechtzeitig, bevor man sie eingetreten hätte.

»Uns wurden Schüsse gemeldet«, sagte einer der schwer bewaffneten Soldaten aufgeregt.

»Ich habe nichts gehört.«

»Ein Japaner mit einer Maschinenpistole wurde gesehen. Bei Ihnen wohnt doch ein Japaner, nicht wahr?«

»Ein Halbjapaner«, erwiderte Ili. »Und er lag friedlich neben mir im Bett.«

»Wir müssen ihn mitnehmen.« Drei Soldaten drängelten sich an ihr vorbei, bevor sie etwas sagen oder tun konnte. Drei weitere standen im Garten, und einer von ihnen rief: »Da steigt jemand aus dem Fenster. Ich sehe ihn. Halt, stehen bleiben!« Er gab eine Salve in die Luft ab. Die drei Soldaten aus dem Haus kamen herbeigeeilt.

»Er ist weg. Das muss er gewesen sein. Hinterher, los!«

Sie rannten hinter einem Schatten her, und Ili rannte hinter ihnen her.

Senji, dachte sie. Senji.

Die Nacht war mondlos, fast schwarz. Man sah kaum die Hand vor Augen. Gestrüpp peitschte Ili ins Gesicht, sie trat auf spitze Steine, stolperte in Löcher, streifte Stämme, schürfte sich an Wurzeln auf. Als sie vom Klopfen geweckt worden war, hatte sie sich lediglich ein Tuch umgewickelt, das sie jetzt abwarf. Nackt rannte sie durch den finsteren Wald. Zwischenzeitlich hatten die Soldaten die Spur verloren, entdeckten erneut einen Schatten, schossen, schrien, schossen wieder, schrien wieder … Ili lief weiter, achtete nicht auf Schüsse. An einem baumlosen Küstenstreifen verlief in der Dunkelheit beinahe unsichtbar die Linie der Steilküste. Ili sah den dünnen Schatten auf die Linie zulaufen. Senji. Sie wollte schreien, brachte keinen Ton heraus, und dann verschwand der Schatten, verschwand Senji hinter der Linie.

Ili kauerte am Rand der Klippen, nackt, frierend, nass von der aufspritzenden Brandung. Sie atmete flach und gleichmäßig, als hätte man ihr soeben etwas Unabwendbares gesagt. Unten ragten drei spitze und zwei flache Felsen aus dem windbewegten Meer und wurden von den Wellen überspült, wieder und wieder.

 

Man fand Senji nie.

Ili saß noch am Morgen dort und starrte auf das Meer hinaus. In der Ferne zogen Wolkentürme vorüber, aus denen es blitzte, und der Wind wehte Sand und Gras an ihr vorbei in den Stillen Ozean. Das Kaleidoskop ihrer Gedanken stand still. Sie dachte nur an den Tag, als er sie zum Leben erweckt hatte, morgens im Hain, vor drei Jahren, vor einer Ewigkeit. Senji war wie ein liebes Gespenst aus dem Nichts gekommen – und war ebenso wieder darin verschwunden.

Es war später Vormittag, und Ili saß noch immer auf den Klippen, als Moanas flatternde, dunkle Tücher die Sonne verbargen. Die Cousinen sprachen nichts, ihre Blicke verschmolzen ineinander, sie lasen in ihren Gesichtern, drangen in die Herzen und lasen auch dort, lasen Geschichten von Schmerz und Rache und Triumph.

Du hast mir Senji weggenommen, las Ili, und nun habe ich ihn dir weggenommen.

Wortlos stand Ili auf und versetzte ihr einen Schlag, der sie zu Boden warf. Moana wehrte sich, und sie rangelten am Rand der Klippen miteinander. Tino kam hinzu, sah, was vor sich ging, und lachte aus vollem Hals. Er war betrunken, in der Hand trug er eine halb volle Flasche Gin, die er immer wieder kurz ansetzte und sich dann mit dem Arm über den Mund fuhr. Tino feuerte Moana an, aber es war ihm auch egal, wenn sie einen Schlag oder Stoß einstecken musste. Für ihn war dieser Kampf ein großer Spaß.

Nicht so für Ili. Einmal schleuderte sie ihre Cousine so nahe an den Rand der Klippen, dass diese beinahe abgestürzt wäre. Im letzten Moment konnte Moana sich an einer Grasnarbe festhalten und so ihr Leben retten, doch Ili nutzte ihre momentane Wehrlosigkeit aus, um ihr einen weiteren Schlag zu versetzen, der Moana fast doch noch das Leben gekostet hätte. Im letzten Moment erst besann sich Ili. Sie rannte am kichernden, wankenden Tino vorbei in den Tropenwald, hinauf zum Mafane, wo sie sich zu Boden warf und nicht mehr erhob, bis die Dämmerung sich über Samoa legte.

 

Das Ungeheuerliche war, dass das Leben im Papaya-Palast einfach weiterging. Ili fühlte sich in den Monaten nach Senjis Tod derart aufgewühlt, machtlos und trostlos, dass sie glaubte, der Himmel müsse einstürzen oder – wahrscheinlicher  – die Japaner würden über Samoa herfallen. Irgendetwas musste sich doch ändern! Aber alles blieb, wie es war, zumindest der äußerliche Gang des Lebens schlug wie ein Uhrwerk weiter, und schon bald kam es Ili vor, als habe sie ihre Zeit mit Senji, diese drei viel zu kurzen Jahre, nur geträumt.

Ili ging wieder täglich in die Plantage. Und Moana saß zu Hause und sah Tino beim Trinken zu. Er trieb sich immer häufiger herum, kam ganze Tage nicht nach Hause und spülte Unmengen von Schnaps seine Kehle hinunter. Zu jener Zeit – es herrschte noch drei Jahre lang Krieg – war Alkohol nur über Schwarzhändler zu bekommen und daher ein kostspieliger Luxusartikel. Selbst der billige Fusel, den Tino unentwegt trank, konnte jemanden in den Ruin treiben. Moanas Vermögen schmolz dahin. Natürlich ließ sie sich weder vor anderen und schon gar nicht vor Ili etwas anmerken, aber so mancher abendliche Streit zwischen ihr und Tino wurde derart laut geführt, dass Ili auf ihrer Veranda keine Probleme hatte, jedes Wort zu verstehen. Ili versuchte sich immer wieder einzureden, dass es ihr gleichgültig war, was mit ihrer Cousine und deren versoffenem Ehemann geschah; in Wahrheit jedoch genoss sie jeden einzelnen Wutanfall Moanas, jede ihrer Tränen, und als Tino seine Frau während eines Streits schlug, war Ili ihm insgeheim sogar dankbar dafür.

Zwei Wochen nach Kriegsende 1945 bat er Ili um Geld, und zwar um eine erhebliche Summe. Moana hatte den Rest ihres Vermögens irgendwo vergraben und das Versteck auch unter Tinos Schlägen nicht preisgegeben. Natürlich verspürte Ili nicht die geringste Lust, dem Taugenichts den Gin zu bezahlen, aber als er Ili enthüllte, dass er das Geld brauche, um den Papaya-Palast zu verlassen, zögerte sie keinen Augenblick und händigte ihm die Summe aus. Noch in der gleichen Stunde schnürte Tino sich ein Päckchen, fuhr mit der Fähre nach Apia und von dort mit unbekanntem Ziel weiter. Vielleicht ging er, wie viele in diesen Jahren, nach Neuseeland oder Australien. Er kehrte nie wieder zurück, und man erfuhr nicht, was aus ihm geworden war.

Er hinterließ zwei Dinge: einen Abschiedsbrief, aus dem hervorging, dass Ili ihm das Geld für seine Reise gegeben hatte – sie selbst hatte ihn darum gebeten, diese Tatsache zu erwähnen. Moanas Verbitterung darüber tat ihr gut, doch sie konnte sie nicht lange genießen, weil sie bald der Meinung war, dass sie Moana im Grunde unfreiwillig einen Gefallen getan hatte. Der Säufer und Schläger Tino wäre Moana in den folgenden Monaten nämlich äußerst gefährlich geworden – sie war schwanger.

Und im April 1946 gebar Moana einen Sohn, den sie Atonio nannte.

 

Was Ili nicht für möglich gehalten hatte, geschah: Sie mochte Atonio. Wenn sie sein aufrichtiges, gewinnendes Lachen hörte, konnte sie vergessen, dass er Moanas Sohn war. Er sah so gut aus wie sein Vater, hatte geschwungene Augen, schulterlanges, schwarzes Haar und einen Körper, der schon früh die athletische Figur ahnen ließ. Tupu und Tino waren in ihm zusammengetroffen, doch glücklicherweise nur im äußeren Erscheinungsbild und nicht im Charakter. Atonio zeigte weder Falschheit noch Dummheit. Er ließ sich von seiner Mutter nicht dazu überreden, Ili zu fürchten oder zu verachten, sondern ging im Gegenteil jeden Tag, wenn er von der Schule kam, erst bei ihr vorbei. Sie gab ihm Kokosmilch, backte Scones, und oft fischten sie in der Bucht. An manchen Tagen ruderte er Ili in einem Kanu auf den Pazifik hinaus, um ihr zu zeigen, wie kräftig er schon war. Ili wurde für ihn eine zweite Mutter. Mit ihr konnte er Dinge tun, die mit seiner wahren Mutter unmöglich waren.

Moana verließ ihr Haus kaum noch. Sie fiel in eine lähmende Lethargie, die Ili, da sie sie von klein auf kannte, überraschte. Von dem ungeheuren Bewegungsdrang der Kinderjahre und den koketten, sprunghaften Launen der Jugend war nichts übrig. Es war, als würde Moana ihr Leben in den ersten fünfunddreißig Jahren gelebt und keine Kraft für die weiteren Jahrzehnte zurückbehalten haben. Ilis und Atonios Einvernehmen setzte sie nur geringen Widerstand entgegen, und nachdem Malietama Opalanis Sohn Ben einen Lieferservice für Savaii eingerichtet hatte, ging sie noch nicht einmal mehr zum Einkaufen aus dem Haus. Atonio und Ben waren beinahe die einzigen Menschen, zu denen sie noch Kontakt hatte.

Am Tag der Unabhängigkeit Samoas von Neuseeland im Jahre 1962 lernte Atonio auf einem Fest seine spätere Frau kennen, Taiata. Ili und Moana sahen dabei zu, wie er das Mädchen ansprach, wie er vor ihr tanzte, wie er ihr seine herrliche korallenfarbene Muschelkette schenkte. Schulter an Schulter standen die beiden Frauen beieinander, gleichsam zwei Mütter eines Sohnes, und spürten, wie die Zeit vergangen war. Sie tauschten einen Blick, ihre Köpfe zitterten leicht, und ihre Augen schimmerten wie schwarze Perlen. Wer sie nicht kannte, hätte glauben können, dass sie Freundinnen wären, so innig betrachteten sie sich. In Wahrheit hassten sie sich. Sie waren Rivalinnen um jeden Menschen, um jede Emotion, um jedes bisschen Liebe und Aufmerksamkeit. Moana gönnte Ili nichts, und Ili vergab Moana nichts. Jede kämpfte auf ihre Weise, jede spürte, was in der anderen vorging und dass der Kampf niemals enden würde. Ihre Schicksale waren miteinander verwoben und würden es immer bleiben.

 

Taiata bedeutete »lächelnder See«, und dieser Name war bei ihr Programm. Sie war gütig und leise. Ili fühlte sich bei ihrer Sanftheit an Senji erinnert, nur dass Taiata dessen Klugheit fehlte. Sie sagte wenig und fragte nie etwas, erduldete klaglos die matronenhafte Griesgrämigkeit ihrer Schwiegermutter, erledigte deren Haushalt und empfing Atonio jedesmal mit großer Zärtlichkeit, wenn er nach Hause kam. Er arbeitete jetzt viel in der Pflanzung, wofür Ili ihm dankbar war – vierzig Jahre Arbeit mit Papayas steckten ihr in den Knochen. Immerhin würde Atonio nach Moanas Tod die Hälfte des Landes gehören, und Ili, die keine eigenen Kinder hatte, würde ihm auch ihren Anteil vererben, so hatte sie es beschlossen. Atonio kümmerte sich also um die körperlich anstrengenden Arbeiten wie Aufzucht, Ernte und Beaufsichtigung der Arbeitskräfte, während Ilis Schwerpunkt im Kontakt zu den Händlern bestand.

Der Plantage ging es nie besser als Ende der sechziger Jahre. Die Preise waren fair und die Ernten fast immer gut. Zur gleichen Zeit jedoch nahm eine Tragödie ihren Anfang, deren Ausmaß zunächst niemand ahnen konnte.

Taiata wurde schwanger und verlor das Kind im siebten Monat. Das junge Paar trauerte, und jeder litt mit ihnen, doch sie waren jung und zuversichtlich und kamen bald darüber hinweg. Drei Jahre später wiederholte sich das Unglück, und ein weiteres Jahr darauf ein drittes Mal. Taiata, die stets so zerbrechlich schien, ertrug die Schmerzen duldsam, Atonio hingegen veränderte sich. So als hinge eine dunkle Wolke über seinem Kopf, wurde er reizbar und launisch. Noch zweimal wurde Taiata schwanger, aber jedes Mal gebar sie Knaben, die ein paar Stunden lang wie gestrandete Fische nach Luft schnappten und dann starben. Es wurde still im Papaya-Palast, bedrückend still. Ili musste ohnmächtig mit ansehen, wie der heitere junge Mann von früher mehr und mehr wie sein Vater und Großvater wurde, wie Tino und Tupu. Zwar vernachlässigte er nie die Arbeit in der Plantage, sondern schuftete härter und verbissener denn je, aber er begann zu trinken und konnte manchmal unausstehlich sein.

»Es ist dumm, sich allein auf Papayas zu verlassen«, meinte er.

»Wenn das so ist«, entgegnete Ili schmunzelnd, »bin ich seit fünfzig Jahren dumm, und wenn ich die Jahre meiner Mutter dazuzähle, sogar seit sechzig Jahren.«

»Haha«, raunte er. »Die Sache ist ernst, Tante. Wenn der Markt für Papayas mal einbricht, sehen wir ganz schön blöd aus. So ein riesiges Stück Land, und wir pflanzen eine Papaya nach der anderen.«

»Was willst du tun?«

»Mangos pflanzen.«

»Wenn der Markt für Papayas einbricht, bricht auch der für Mangos ein.«

»Mein Gott«, sagte er ungeduldig, »dann eben Ananas, Topinambur, Kakao, was weiß ich!«

»Das braucht alles sehr viel Platz, Atonio, und außerdem …«

»Viel Platz, viel Platz«, äffte er sie nach. »Uns gehört genug Wald.«

»Schneisen willst du in den Wald schlagen?«

»Na und? Bist du mit dem Wald verheiratet, oder wie?«

»Gewissermaßen, ja! Wir leben vom Wald. Er ist unser Kapital, er ernährt uns. Was meinst du, wo die Tauben, Hühner und Schweine leben, die du isst?«

»Dann halten wir sie eben in Pferchen.«

»Warum, wenn es auch so geht?«

»So geht es aber nicht«, sagte er gereizt. »Du unterbindest jeden Fortschritt, merkst du das eigentlich? Alles wird von dir bestimmt, und wehe, ich habe mal eine eigene Idee.«

»Also, das stimmt doch nicht!«

»Du handelst alles aus, du entscheidest, an wen wir wie viel verkaufen, du, du, du. Und ich darf die Drecksarbeit machen.«

Sie stritten noch eine Weile, und dann willigte Ili gegen ihre Überzeugung ein, dass Atonio ein Stück des Waldes schlagen und darauf anbauen dürfe, was er für richtig halte.

Er entschied sich für Kakao, was große Investitionen erforderte, und das Geld dafür lieh er sich von Moana und Ili. Riesige Bäume mussten gefällt und die Wurzeln ausgegraben werden. Maschinen pflügten das Land um und verwandelten es in eine Ödnis, auf der die Kakaobäume gepflanzt und aufwändig gepflegt wurden. Auch die Ernte und Nachbereitung war außerordentlich arbeitsintensiv. Bald brauchte Atonio weiteres Geld, und dann im Jahresabstand mehr und mehr. Machte Ili eine kritische Bemerkung, ging er gleich in die Luft, und die Konditionen, die sie für seine Kakaobohnen aushandelte, waren ihm nie gut genug. Dass der Kakao ein Verlustgeschäft war, wollte er nicht wahrhaben, stattdessen schob er die Schuld auf sie. Bestenfalls redeten sie noch in einem gleichmütigen Ton miteinander, die meiste Zeit allerdings stritten sie.

Als niemand mehr damit rechnete, bekam Taiata 1984 eine gesunde Tochter. Die Kakao-Ernte war gerade im Gang, und Ili lief in Atonios Pflanzung, um ihm die gute Nachricht zu überbringen.

Er jedoch arbeitete weiter, als hätte sie chinesisch mit ihm gesprochen.

»Hast du mich nicht verstanden?«, rief sie zu ihm die Leiter hinauf. »Das Mädchen ist gesund.«

»Es wird sterben wie die anderen.«

»Das wird es nicht. Es sieht ganz anders aus und atmet gleichmäßig.«

»Ich kann hier nicht weg.«

»Nun lass für eine Stunde die dummen Bohnen und geh zu deiner Familie. Nachher kannst du ja weitermachen.«

Ili konnte die Unsicherheit, ja, Angst in seinen Augen sehen, als er von der Leiter stieg. Er lehnte es ab vorauszulaufen, sondern trottete widerwillig neben Ili her. Sogar vor dem Haus zögerte er noch und bat sie, vor ihm hineinzugehen, so sehr fürchtete er sich davor, das sechste kalte Kind auf dem Friedhof beerdigen zu müssen.

Aber wie groß war seine Freude, als er ein zappelndes, spuckendes Mädchen in den Armen hielt. Binnen Minuten verzog sich die Wolke, die jahrelang über ihm gehangen hatte, und er strahlte wie in früheren Zeiten.

An diesem Tag waren sie zum letzten Mal alle beisammen: Moana, Atonio und Ili umstanden Taiatas Bett. Ben Opalani kam vorbei, der irgendwie schon zur Familie gehörte, und feierte mit ihnen. Sie lachten und tranken, wiegten das Kind, das sie Ane nennen wollten, und beobachteten, wie der Nachmittag mit orangerotem Leuchten in die Nacht stürzte.

Taiata starb in dieser Nacht. Und Atonios zorniger, anklagender Schrei durchbrach die Stille.