8
Samoa, November 2005
»Er blieb irgendwo liegen und stand nicht mehr auf. Er war tot. Mein Vater war tot.«
Evelyn, die die ganze Zeit über mit angewinkelten Beinen dagesessen und geschwiegen hatte, wartete drei Wellenschläge der Brandung, bis Ili fortfuhr:
»Man hat ihn am nächsten Tag auf dem Friedhof der Europäer begraben. Tuila war die Einzige, die an seinem Grab stand, und meine Großmutter Vaonila verfolgte die kleine Zeremonie eines katholischen Priesters aus einiger Distanz, aber alle anderen vergaßen ihn. Wenn ich wenigstens etwas von ihm haben würde, irgendeine Erinnerung … Doch da ist nichts, da kann nichts sein. Nicht einmal ein Foto gibt es von ihm. Vielleicht verstehen Sie jetzt, wieso meine Mutter so viel Wert darauf legte, mir jede Einzelheit über ihn zu erzählen. Und zwar sehr oft, bestimmt zehnmal im Laufe der Jahre. Sie wollte, dass mein Vater ein Teil meines Lebens wird, und das hat sie erreicht. Dennoch …«
»Die Erinnerung ersetzt ihn nicht, wie?«
Ili lächelte sacht. »Sie verstehen mich. Das ist schön, Evelyn. Es hat sich gelohnt, Ihnen die Geschichte zu erzählen. Für mich jedenfalls.«
»Für mich auch. Aber – sie ist ja wohl noch nicht ganz zu Ende. Gab es eine Schlacht um Samoa? Was wurde aus Tuila? Und aus den anderen?«
»Eine kurze Frage, die eine lange Antwort erfordert. Ob das jetzt die rechte Zeit ist? Wenn ich mit ›den anderen‹ anfangen darf… Eine Schlacht um Samoa gab es glücklicherweise nicht. Als man in Apia begriff, dass man es mit fünf neuseeländischen Kreuzern und einem britischen Schlachtschiff zu tun hatte, wurde die weiße Fahne gehisst. Der Gouverneur kapitulierte ohne vorheriges Gefecht. Die Neuseeländer sagten ihm ehrenvolle Behandlung und den Verbleib auf Samoa zu, doch kaum führten sie das Kommando, brachten sie ihn nach Neuseeland, wo er, nach allem, was wir nach dem Krieg hörten, in einer schäbigen Baracke untergebracht wurde. Oberst Rassnitz und die Beamten wurden nach Fiji in ein Internierungslager transportiert. Über der Residenz wehte fortan die neuseeländische Flagge. Obwohl das Leben für die Einheimischen wie eh und je weiterging und sie keinen vernünftigen Grund hatten, die Neuseeländer abzulehnen, kam es dennoch so. In anderen Kolonien mochten die Deutschen zwar schlechte Herren gewesen sein, doch in Samoa hatte man sie weitgehend akzeptiert.«
»Sie erwähnten schon einmal so etwas. Ich kann es allerdings kaum glauben, wo die Deutschen damals doch so pedantisch und formell waren.«
»So seltsam es klingen mag, meine Liebe: Gerade wegen ihres manchmal steifen und geradezu peniblen öffentlichen Auftretens achteten die Insulaner sie. Wissen Sie, Evelyn, wir Samoaner wirken zwar auf andere freizügig und wenig formell, aber unter dieser äußeren Hülle verbirgt sich ein ausgeprägtes Gefühl für Würde und völkische Tradition. Die Neuseeländer hingegen nahmen es nicht so genau mit ihren Umgangsformen und ihrer Kleidung. Da ihre Wollstoffe sich für das feuchte Wetter nicht eigneten, schnitten sie sich einfach die Hosenbeine ab, und als das noch immer nichts half, liefen einige mit freiem Oberkörper und dem bequemen samoanischen lavalava bekleidet durch die Dörfer. Unsere Kleidung an anderen zu sehen, missfiel vielen Dorfhäuptlingen.«
»Und was wurde aus den deutschen Siedlern und Kaufleuten?«
»Alle männlichen Zivilisten wurden auf Samoa interniert. Die Frauen ließ man in Freiheit, aber viel mehr als das behielten sie nicht, denn die Plantagen wurden beschlagnahmt. Doch andere erwischte es noch schlimmer, die Hanssens, zum Beispiel: Ohnmächtig musste der alte Kaufmann mit ansehen, wie sein Südsee-Imperium zusammenbrach. Nach dem Untergang des deutschen Südseegeschwaders bei den Falkland-Inseln fielen alle deutschen Kolonien im Pazifik binnen weniger Wochen in die Hände der Briten und ihrer Verbündeten. Hanssen verlor dadurch alles und starb bald. Seine Tochter Clara kehrte – ruiniert – nach dem Krieg in ihre Heimat zurück. Mehr weiß ich nicht über sie. Und was Tristans Eltern, also meine Großeltern, betrifft …«
Evelyn hielt ihre Nase in den Wind. Ein stechender Geruch verteilte sich über der tiefdunklen Palauli Bay, und als sie zum Papaya-Palast sah, entdeckte sie ein flackerndes Licht.
»Oh, mein Gott.«
Ili fragte: »Was ist?«
»Es brennt. Ili, das Haus brennt.«
Sie eilten die Anhöhe hinauf. Im Dach über Ilis Wohnung brannte ein kreisrundes Feuer ein Loch in die getrockneten Palmblätter und vergrößerte sich mit jeder Sekunde. Ein Teil der Konstruktion musste bereits eingestürzt sein, denn aus dem Fenster der Küche züngelten Flammen heraus.
Evelyn zögerte keinen Augenblick. Sie griff nach einem herumstehenden Eimer, der halb mit Regenwasser gefüllt war, und schüttete den Inhalt durch das Küchenfenster. Sie suchte nach weiteren Gefäßen, fand aber nichts.
»Ili, wo ist Wasser?«
Ili blickte starr auf das sich ausbreitende Feuer.
»Ili!«, schrie Evelyn und fasste sie an den Schultern. »Zum Meer ist es zu weit. Wo finde ich hier sonst noch Wasser?«
Ili musste mehrmals Luft holen, dann deutete sie auf eine Stelle hinter dem Haus. »Die Bewässerungsschläuche«, brachte sie mühsam hervor.
Evelyn verstand. »Wecken Sie Ane und Moana auf. Ich werde mich um das Wasser kümmern.«
Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass Ili tat, was sie ihr aufgetragen hatte, rannte Evelyn um das Haus herum. Dort bemerkte sie, dass auch ein Teil der Papayas brannten, aber nicht am Rand der Plantage, sondern ungefähr einhundert Meter im Innern.
Das konnte kein Zufall sein, schoss es ihr durch den Kopf. Jemand musste die beiden Feuer gelegt haben.
Sie stolperte in der schemenhaften Dunkelheit der Plantage geradewegs über einen Bewässerungsschlauch, nahm ihn hoch und folgte ihm bis zum Hahn der Wasserleitung. Sie drehte ihn auf, aber wie sie sich bei einem endlos langen Bewässerungsschlauch hätte denken können, erreichte sie damit nur, dass aus tausend winzigen Löchern kleine Rinnsale flossen. Sie brauchte einen höheren Druck – und einen kürzeren Schlauch.
Ein weiterer Teil des Daches stürzte ein. Von der anderen Seite des Hauses hörte sie aufgeregte Stimmen. Ane und Moana waren also in Sicherheit.
Auf der Suche nach irgendeiner Möglichkeit, wie dieses herrliche Haus noch zu retten wäre, blickte sie hektisch um sich. Sie bemerkte ein kleines Gartenhäuschen, in dem vermutlich Werkzeuge gelagert waren. Zum Glück war die Tür nicht verschlossen. Doch es war dunkel, und nur der Feuerschein vom Dach des Papaya-Palastes spendete unruhiges Licht.
Sie fand allerlei Zeug, doch nichts, was sie brauchen konnte. Endlich entdeckte sie eine überdimensionale Zange, so groß und schwer, dass sie Mühe hatte, sie aus dem Regal zu ziehen. Damit kappte sie den Schlauch, etwa sieben, acht Schritte vom Hahn entfernt.
Sie griff das Ende und richtete den Strahl auf das Dach. Der Wasserdruck war jedoch derart groß, dass Evelyn Mühe hatte, den Schlauch zu halten.
»Ich brauche Hilfe!«, schrie sie in der Hoffnung, dass man sie auf der anderen Seite des Hauses hörte. »Hilfe!«
Ili und Ane kamen gleichzeitig angelaufen. Während Ane ihr half, den Schlauch zu halten, drehte Ili den Hahn wieder leicht zu, so dass der Wasserdruck an Kraft verlor, ohne die Löscharbeit zu beeinträchtigen.
Zwei, drei Minuten dauerte es, dann war erkennbar, dass sich das Feuer nicht weiter ausbreitete. Und als meine der Himmel es gut mit ihnen, setzte Regen ein. Dicke Tropfen unterstützten sie und löschten die letzten Flammen. Auch der Brand in der Plantage brach unter dem Regenguss in sich zusammen.
Evelyn ließ sich schwer atmend auf den durchnässten Boden fallen. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals eine solche Kraftanstrengung unternommen zu haben wie in den letzten Minuten, mit Ausnahme von Julias Geburt vielleicht. Innerhalb von Augenblicken fielen alle Konzentration und Anspannung von ihr ab, und obwohl sie erschöpft und betroffen war, betrachtete sie ein wenig stolz den letzten Rauch, der aus dem Dach in die Dunkelheit des Himmels stieg. Der Papaya-Palast stand, dampfend und knarrend, so als trotze er ein letztes Mal den Elementen, bevor er von Maschinen besiegt würde.
Ili, schwer gezeichnet von dem dramatischen Ereignis, wankte auf Ane zu. Sie sah die junge Frau an – und dann schlug sie Ane ins Gesicht.
»Warst du das?«, fragte sie kalt.
Evelyn, Ane und auch Moana, die soeben dazugekommen war, waren fassungslos angesichts dieses ungeheuerlichen Verdachts.
»Großtante!«, hauchte Ane entsetzt. »Wie kommst du denn …?«
Eine zweite Ohrfeige traf ihre andere Wange.
»Warst du das?«, fragte Ili, jedes einzelne Wort betonend.
Ane war den Tränen nahe. Sie hielt sich die zitternde Hand vor den Mund und tauschte einen langen Blick mit Ili, in dem sich Verwirrung, Angst, Wut und sogar Unterwürfigkeit spiegelten. Schließlich lief sie ohne ein weiteres Wort davon.
Ili presste ihre Hände auf ihr Gesicht, sank auf die Knie und schluchzte.
Evelyn ging zu ihr. Sie streichelte der Greisin den Rücken und die Haare und versuchte, sie durch einige beruhigende Worte zu trösten.
»Es ist ja gut«, flüsterte sie. »Alles kommt wieder in Ordnung. Das Haus steht, die Plantage ist auch noch da, und Ane wird Ihnen bestimmt nicht böse sein. Jeder versteht, dass das schwere Tage für Sie sind.«
Moana war näher gekommen und sah auf die kauernde Ili herab. Evelyn erwartete einen erneuten Hassausbruch Moanas oder dieses furchtbare, gehässige Gelächter angesichts der verzweifelten, am Boden zerstörten Rivalin. Doch nichts geschah. Moana wirkte eher nachdenklich als triumphierend, und nach einer Weile raffte sie ihr Tuch enger um die Schultern und schlurfte bedächtig, so als sei überhaupt nichts geschehen, in ihren unversehrten Teil des Papaya-Palastes.
Eine seltsame Familie, dachte Evelyn. Eine Familie, aus der sie einfach nicht schlau wurde.