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Goldfisch

DomDaniel sah Marcia kommen und huschte
in einen dunklen Hauseingang. Unsichtbar oder nicht, er wollte kein
Risiko eingehen. Unsichtbarkeit ist kein Zustand, auf den man sich
verlassen kann, am wenigsten unter Zauberern – und am
allerwenigsten unter Außergewöhnlichen Zauberern. Und auf selektive
Unsichtbarkeit ist noch weniger Verlass.
Aber Marcia ließ sich nicht täuschen. Sie
entdeckte im Hauseingang die schwachen Umrisse der Gestalt mit dem
vertrauten Zylinderhut, bemerkte das Funkeln des Rings mit dem
Doppelgesicht – der sich, wie sie wusste, nur sehr schwer
unsichtbar machen ließ – und die Dunkelkröte, die, fett und
schnaufend, auf der Eingangsstufe hockte. Da hatte sie die
endgültige Gewissheit, dass sich Alice nicht getäuscht hatte.
DomDaniel war hier. Aber Marcia schenkte ihm keine Beachtung. Jetzt
zählte nur das Versprechen, das sie Septimus gegeben hatte. Sie
musste den entführten Jungen retten, und zwar schnell, denn sie
hatte das unbestimmte Gefühl, dass es Septimus nicht lange hinter
der Ecke aushalten würde.
Die Aufgabe wurde ihr dadurch erleichtert, dass
die vier Hexen sie nicht kommen sahen – sie waren immer noch in
ihrem stummen Streit gefangen. Der war ausgebrochen, als sie aus
der Tropfhöhle aufgetaucht waren und Linda behauptet hatte, Jakey
sei ihr persönlicher Diener, mit dem sie tun und lassen könne, was
ihr beliebe. Die Hexenmutter hatte widersprochen und erklärt, dass
er für den ganzen Zirkel da sei, aber davon wollte Linda nichts
wissen: Sie habe sich den Jungen als Erste geschnappt, also gehöre
er ihr. Und damit basta. Auf dem Weg durch
den Lotterweg wurde der Streit immer hitziger, und als sie in die
Vordere Straße einbogen, artete er in einen regelrechten Hexenkampf
aus. Veronica ergriff Lindas Partei, weil sie zu große Angst davor
hatte, das Gegenteil zu tun, und Daphne, für die Linda jetzt eine
Holzwurm-Massenmörderin war, schlug sich auf die Seite der
Hexenmutter. Linda hatte die Hexenmutter mit dem ersten Stummzauber
belegt, doch die hatte es ihr mit gleicher Münze heimgezahlt.
Gleich darauf hatten sich Daphne und Veronica genau im selben
Moment gegenseitig mit einem Stummzauber belegt. Mit dem Ergebnis,
dass jetzt alle vier Hexen stumm waren.
Marcia brauchte nicht lange, um die Lage zu
erfassen. Stummzauber werden auch Goldfischzauber genannt, weil die
Betroffenen immer angestrengter zu schreien versuchen und dabei wie
ein Goldfisch den Mund auf- und zuklappen, ohne dass ein Laut
herauskommt. Und in diesem Moment sahen die vier Hexen aus wie eine
bedauernswerte Goldfischfamilie, die aus ihrem Glas gefallen war.–
mitten unter ihnen der bedauernswerte Jakey, der als Erster, kaum
dass ihn Simon übergeben hatte, mit einem Stummzauber belegt worden
war.
Bei Marcias Erscheinen huschte ein
Hoffnungsschimmer über Jakeys Gesicht. Linda ging sofort zum
Angriff über. Einen stummen Fluch ausstoßend, stürzte sie sich auf
Marcia und riss dabei Jakey mit, den sie noch im Zaubergriff
hatte.
Marcia wich dem Angriff mühelos aus. »Aber,
aber, Linda, wer wird denn so fluchen«, sagte sie (wie alle
Zauberer konnte Marcia Lippen lesen). »Wenn du brav bist und den
Jungen loslässt, könnte ich dich eventuell von dem Stummzauber
befreien.«
Wir brauchen Ihre Hilfe nicht, Sie dusselige
Kuh! Lindas Mund klappte stumm auf und zu. Wir haben einen
Zauberer, der viel mächtiger ist als Sie.
Und was für einen!,
brüllte Veronica tonlos.
»Meint ihr etwa den mächtigen Zauberer, der
sich in dem Hauseingang da hinten verkriecht, weil er zu große
Angst hat, sich zu zeigen?«, fragte Marcia gelassen.
DomDaniel beschloss, das Weite zu suchen, bevor
sich die Lage weiter zuspitzte. Er schlüpfte aus dem Eingang und
eilte die Vordere Straße entlang, um nach Simon Ausschau zu halten,
den er vorausgeschickt hatte, um »ein anständiges Pferd« zu
besorgen, »das uns nach Hause bringt, Heap«.
Marcia bemerkte mit Erleichterung, wie sich die
Dunkelgestalt entfernte – Septimus war außer Gefahr. Sie wandte
sich wieder Linda zu und sagte: »Ich gebe dir drei Sekunden, um den
Jungen freizugeben. Tust du es nicht, werde ich selbst deinen
Griffzauber aufheben. Nach dem Ehrenkodex der Zauberer muss ich
dich aber warnen: Eine Zwangsaufhebung kann gewisse Personenschäden
hervorrufen.«
Sie blöde lila Ziege!, brüllte Linda
stumm.
»Eins, zwei, drei …«
Linda hob den Griffzauber rasch auf.
Jakey Fry sah Marcia mit großen Augen an –
die Zauberin hatte ihn gerettet. Tränen der
Dankbarkeit stiegen ihm auf. Danke, formte
er mit den Lippen, vergessend, dass er stumm war.
»Nichts zu danken«, entgegnete Marcia.
Linda gab Marcia einen scharfen Stoß in die
Rippen. Und was ist mit Ihrem Versprechen?,
fragte sie und deutete auf ihren Mund.
»Ich habe gar nichts versprochen«, antwortete
Marcia.
Doch, Sie verlogene alte Schachtel!, tobte
Linda.
Marcia kehrte der Hexe den Rücken und sagte zu
Jakey Fry: »Sollen wir dafür sorgen, dass du wieder sprechen
kannst?«
Linda trat ganz dicht an Marcia heran und
spitzte die Ohren, während die den Umkehrzauber sprach.
Marcia schloss mit den Worten: »Was vorbei ist,
ist vorbei, ich gebe dich nun frei.« Dann warf sie eine kleine
Lichtkugel in die Luft, die zischend um Jakeys Kopf herumfuhr,
seine Lippen streifte und ihn dabei so kitzelte, dass er laut
lachen musste.
Mit einer blitzschnellen Bewegung pflückte
Linda die Kugel aus der Luft und drückte sie sich auf den Mund.
»Geschafft!«, frohlockte sie. »Sie sind doch nicht so schlau, wie
Sie gedacht haben, wie?«
Marcia sagte nichts. Die Hexenmutter entriss
Linda die Kugel, und während sich Daphne und Veroncia darüber in
die Haare gerieten, wer als Nächste an die Reihe kommen sollte,
brachte Marcia Jakey schnell weg. Als sie um die Ecke bogen,
hagelte es hinter ihnen Flüche.
Septimus wartete bereits nervös, doch als er
Marcia und Jakey sah, strahlte er über das ganze Gesicht. »He,
alles in Ordnung?«, fragte er Jakey.
»Ja«, murmelte der Junge. Und für den Fall,
dass die Zauberin nun ihrerseits beschließen sollte, ihn als
Gefangenen zu nehmen, gab er Fersengeld und flitzte, so schnell er
konnte, davon.
Marcia und Septimus sahen verdutzt zu, wie die
dürre Gestalt Jakey Frys den Lotterweg hinuntersauste, vor einer
der baufälligeren Pensionen schlitternd zum Stehen kam, sich gegen
die Haustür warf und verschwand.
Jakey rannte hinauf in das Zimmer, das er sein
Zuhause nannte. Zum Glück war sein Vater nicht da. Vom Fenster aus
beobachtete er, wie seine lila gekleidete Retterin und der Junge,
der ihn gefragt hatte, ob alles in Ordnung sei, die Straße
herunterkamen. Als sie unter seinem Fenster vorbeigingen, schaute
die Zauberin zu ihm herauf und lächelte ihn an – und da begriff
Jakey, wer sie war. Ein Lächeln breitete sich über sein Gesicht. Er
konnte unmöglich ein solcher Nichtsnutz sein, wie sein Vater immer
behauptete. Auch er musste etwas wert sein, sonst hätte sich die
Außergewöhnliche Zauberin aus der Burg nicht die Mühe gemacht, ihn
– Jakey Fry, eine kleine, unbedeutende Schiffsratte – zu
befreien.