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Folge der Kröte

Jakey Fry war erst zehn oder vielleicht
auch elf Jahre alt, so genau wusste er das nicht, und er hatte
Angst. Schließlich kannte er sich mit Hexen gut genug aus, um zu
wissen, dass er in ernsten Schwierigkeiten war. Eine Hexe hatte ihn
in einen Zaubergriff genommen, sodass er zu spüren glaubte, wie
sich ihre langen schwarzen Fingernägel in seine Schulter bohrten,
und sosehr er auch zu schreien versuchte, er brachte keinen Laut
heraus. Vor ihm ging eine Hexe mit einem weißen Gesicht voller
Risse. Sie trug hohe Schuhe mit Dornen und stützte sich auf eine
andere merkwürdig aussehende Hexe mit einer aufragenden, spitz
zulaufenden Frisur. Hinter ihm ging eine Hexe, die eine Schubkarre
schob und ihm damit ständig in die Beine fuhr. Und ihr wiederum
folgte etwas wirklich Gruseliges. Jakey konnte es nicht sehen, aber
er wusste, dass es da war. Der Einzige, der einigermaßen normal
aussah, war ein junger Mann in einem alten schwarzen Mantel. Er
lief neben der Hexe mit der Schubkarre, aber jedes Mal, wenn Jakey
sich nach ihm umdrehte, schaute der junge Mann weg. Jakey kannte
diesen Blick nur zu gut. Er kannte ihn von den Leuten, die damals
Zeugen geworden waren, wie sein Vater – der berüchtigte Kapitän Fry
– ihn auf offener Straße angebrüllt hatte. Es war der
Ich-möchte-da-nicht-hineingezogen-werden-Blick. Von diesem jungen
Mann durfte Jakey sich keine Hilfe erwarten. Er wusste, dass er auf
sich allein gestellt war.
Er hatte so große Angst, dass seine Beine immer
wieder unter ihm nachgaben, aber die Hexe, die sich in seine
Schulter gekrallt hatte, kümmerte das nicht. Sie zerrte ihn durch
die Krumme Fischbauchgasse, dann durch den Spinnenrutsch, die
Tropfhöhle und schließlich hinaus auf eine heruntergekommene Straße
namens Lotterweg, die er bestens kannte. Als sie an der Pension
vorbeikamen, in der er mit seinem Vater wohnte, blickte Jakey in
der verzweifelten Hoffnung, dass Kapitän Fry vielleicht gerade nach
ihm Ausschau hielt, zu dem dunklen Fenster hinauf. Aber er wusste,
dass sein Vater so etwas niemals tun würde – er wollte seinen Sohn
nicht bei sich zu Hause haben. Jakey musste seinen Lebensunterhalt
als Schiffsratte verdienen, und jedes Mal, wenn er von einer Fahrt
nach Port zurückkehrte, brachte ihn sein Vater sofort auf dem
nächsten Schiff unter.
Als Jakey an der zerschrammten Haustür der
Pension vorbeigezerrt wurde, entfuhr ihm ein stummer Schluchzer.
Niemand würde jemals erfahren, was wirklich aus ihm geworden war –
alle würden glauben, er wäre in dieser Nacht im Hafenbecken
ertrunken. Denn über eines war sich Jakey im Klaren: Was auch immer
die Hexen mit ihm vorhatten, er würde nicht mit dem Leben
davonkommen.
Ein paar Straßen entfernt legte die
Dunkelkröte, verfolgt von zwei lila Pythons, die vor Magie nur so
prickelten, ein flottes Tempo vor. Sie eilte an den Buchläden in
der Krummen Fischbauchgasse vorüber, denn sie konnte es nicht
erwarten, wieder zu ihrem Meister zu stoßen, der mit den Pythons
bestimmt kurzen Prozess machen würde. In der Hoffnung, die
Verfolger abzuschütteln, wartete sie bis zur allerletzten Sekunde,
ehe sie in den Spinnenrutsch abbog, und flitzte dann in den
Schatten. Die List wäre beinahe geglückt. Marcia rauschte vorüber,
aber Septimus ließ sich nicht narren. Er bog in den Rutsch ab, und
Marcia, die jetzt merkte, was gespielt wurde, folgte ihm.
Der Spinnenrutsch war so schmal, dass sie
hintereinander gehen mussten. »Du bleibst vorn, Septimus«, befahl
Marcia. »So kann ich besser auf dich aufpassen. Nachts treiben sich
hier zwielichtige Gestalten herum.«
Septimus war über Marcias Schutz froh und
mochte gar nicht daran denken, welche Ängste der entführte Junge,
der ganz auf sich allein gestellt war, ausstehen musste.
Die Dunkelkröte hielt auf eine ihrer
Lieblingsgassen zu, einen feuchten, überdachten Durchgang namens
Tropfhöhle. Der Name Tropfhöhle war gut gewählt – das tropfende
Dach war so niedrig, dass Marcia den Kopf einziehen musste, und der
Boden war dick mit Schlamm bedeckt. Als sie auf der anderen Seite
wieder herauskamen, nahm Marcia seufzend ihre Schuhe in
Augenschein. Sie würden nie wieder dieselben sein.
Septimus und Marcia befanden sich nun im
Lotterweg. Am anderen Ende erspähten die scharfen Augen des
Lehrlings eine kleine, rundliche Gestalt, die mit einer Schubkarre
rasch um die Ecke verschwand. »Da sind sie!«, sagte er
aufgeregt.
»Bist du sicher?«, fragte Marcia und schaute
die leere Straße hinunter.
»Ja, ich habe die Kleine mit der Schubkarre
gesehen.«
»Ach ja, die Schubkarre.«
Die Dunkelkröte legte einen Zahn zu. Marcia und
Septimus eilten ihr nach und sahen, wie sie am Ende der Straße um
die Ecke hopste. Dort angekommen, gab Marcia Septimus ein Zeichen
zu warten. Sie spähte um die Ecke, und zu ihrer Überraschung waren
die Hexen und der Junge nicht mehr als ein paar Meter entfernt.
Zwischen den Hexen tobte ein heftiger – aber seltsamerweise stummer
– Streit.
Marcia zog sich zurück und prallte gegen
Septimus. »Du hattest recht«, flüsterte sie. »Sie sind es.«
»Ist der Junge dabei?«, fragte Septimus.
»Ja.«
»Worauf warten wir dann noch? Wir müssen ihm
helfen!«
»Pst«, machte Marcia. »Ich möchte, dass du
hierbleibst, Septimus. Ich habe DomDaniel nicht gesehen, aber es
würde mich nicht wundern, wenn er einen Unsichtbarkeitszauber
verwendet hätte. Es darf nicht erfahren, dass du hier bist. Du
weißt, warum du bei der Jungarmee gelandet bist – weil er dich als
Lehrling haben wollte. Wenn Alice recht hat und er tatsächlich noch
am Leben ist, dann stellt er eine Gefahr für dich dar. Es wäre
möglich, dass er dich immer noch als Lehrling möchte. Verstehst
du?«
»Aber der Junge«, protestierte Septimus. »Ich
muss ihn retten!«
Er dachte daran, wie oft er in der Jungarmee
davon geträumt hatte, dass jemand kommen und ihn retten würde. Aber
es war nie jemand gekommen. Und jetzt hatte er die Gelegenheit,
einem anderen Jungen zu helfen, dem bestimmt genauso zumute war wie
ihm damals – und Marcia wollte es ihm nicht
erlauben.
Marcia befürchtete, Septimus könnte jeden
Augenblick losstürmen und geradewegs DomDaniel in die Arme laufen.
Sie sah ihm in die Augen, und ihr Blick hielt den seinen fest.
»Septimus, du bist mein Lehrling und musst mir vertrauen. Wir
müssen zusammenarbeiten. Du hast deinen Teil zur Befreiung
beigetragen, jetzt muss ich das Meinige tun. So geht das.
Einverstanden?«
Septimus brachte nur ein Nicken zustande. Er
war zu aufgebracht.
»Gut. Du rührst dich nicht von der Stelle.
DomDaniel darf nicht einmal ahnen, dass du hier bist. Ich bin so
schnell wie möglich zurück, und zwar mit dem Jungen, das verspreche
ich dir.«
»In Ordnung«, brummte Septimus
widerwillig.
»Recht so.« Marcia bog zielstrebig um die Ecke.
Sie hatte ihrem Lehrling ein Versprechen gegeben, und sie war fest
entschlossen, es zu halten.