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Ein Kunststück

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Schnipp. Schnipp. Schnipp. Bei Einbruch der Dunkelheit ging Simon Heap langsam im Observatorium umher und zündete die Kerzen an. Er benutzte dazu den alten Schwarzkünstlertrick, bei dem man durch Fingerschnippen eine kleine schwarze Flamme erzeugte. Es war der erste Trick, den er gelernt hatte, als er vor ungefähr sechs Monaten ins Observatorium gekommen war, und obwohl er seit damals schwierigere und gefährlichere schwarzmagische Fertigkeiten erworben hatte, war er immer noch stolz auf seine Dunkelflamme.
Schnipp. Schnipp. Schnipp. Simon tippte an die Dochte der Kerzen, die er auf den alten Arbeitsplatten aus Schiefer, die wie in einem Laboratorium an den runden Wänden entlang verliefen, verteilt hatte. Bald erhellte ein orangeroter Lichtschein den düsteren unterirdischen Raum. Simon wusste nur zu gut, dass er sich eigentlich nicht am Licht einer Flamme erfreuen sollte. Im Gegenteil, er sollte die dunklen und feuchten Schatten eines Oktoberabends lieben, aber das tat er nicht. Ihm fehlten das Licht und die Wärme eines Feuers. Er vermisste auch die Vorfreude auf ein gemeinsames warmes Abendessen mit Freunden. Und obwohl er sich alle Mühe gab, nicht an seine Familie zu denken, vermisste er auch sie – na ja, jedenfalls den Großteil. Seinen sogenannten jüngsten Bruder vermisste er kein bisschen.
Schnipp. Schnipp. Schnipp. Der bloße Gedanke an das magere Bürschchen, das neuerdings unter dem Namen Septimus Heap oben im Zaubererturm ein angenehmes Leben führte und als Außergewöhnlicher Lehrling herumstolzierte, versetzte ihn in Wut. Der Kerl hatte die Lehrstelle bekommen, von der Simon immer geträumt hatte. Befeuert von seinem Grimm, entfuhr seinem Daumen eine Stichflamme und versengte ihm beinahe die Augenbrauen.
Beklommen näherte er sich der letzten Kerze. Dick und weiß stand sie am hinteren Ende des Tischs gegenüber der Treppe. Doch es war nicht die Kerze, vor der Simon graute, sondern das Ding daneben – der Totenkopf seines Meisters DomDaniel. Seine Hand zitterte, als er unter dem missbilligenden Blick des Schädels die Flamme an den Docht hielt und zusah, wie das gelbe Licht aufflackerte und tanzende Schatten in die leeren, dunklen Augenhöhlen warf.
Simon fröstelte und zog seinen schwarzen Wollmantel enger um sich. Der reich mit Schwarzkunstsymbolen bestickte Mantel war ein abgelegtes Stück seines Meisters. Laut DomDaniel war er mit schwarzer Magie durchtränkt, aber soweit Simon bisher hatte feststellen können, war der Geruch nach altem Schweiß das Einzige, womit er wirklich durchtränkt war. Außerdem hatte Simon im Futter ein altes verklebtes Sahnebonbon, unter dem Kragen drei zerquetschte tote Spinnen und in einer Tasche ein Mäuseskelett gefunden. Seufzend blickte er zu dem Gerippe, das ein paar Schritte entfernt auf einem geschnitzten Eichenstuhl hockte und den Treppenabsatz bewachte. Die kopflosen Überreste DomDaniels waren ihm unheimlich, und die beiden grünen Fratzengesichter an dem klobigen goldenen Ring, der fest am linken Daumenknochen des Meisters saß, glotzten ihn heimtückisch an. Die Aussicht, die bevorstehende lange und kalte Nacht allein in Gesellschaft dieser Knochen zu verbringen, stimmte ihn trübsinnig.
Puff. Die Kerzenflamme erlosch. Simon wandte sich um und sah mit Schrecken, dass der Totenkopf jetzt in der Luft schwebte. Und dann wurden vor seinen Augen langsam die Konturen von DomDaniels Gesicht sichtbar – der Meister hatte die Lippen gespitzt wie jemand, der eine Kerze ausbläst.
Simon staunte. Seit DomDaniels mit seinem Schiff, der Vergeltung, und der gesamten Besatzung untergegangen war und Marschbraunlinge ihn bis auf die Knochen abgenagt hatten, versuchte er, mit einem Zauber seine Knochen neu zu umhüllen. Doch die eigenen Knochen zu umhüllen war, wie er Simon erklärt hatte, ein äußerst schwieriges Unterfangen. Und zu seiner Enttäuschung war ihm Simon bisher dabei überhaupt keine Hilfe gewesen »Du bist mir so nützlich wie ein Kropf, Heap«, hatte er geflucht. Doch seitdem Simon mehrere misslungene Versuche DomDaniels mitangesehen hatte und das Skelett ein Skelett blieb, fragte er sich, ob sein Meister wirklich ein so mächtiger und begnadeter Zauberer war, wie er vorgegeben hatte, als er ihn in seine Dienste nahm.
Nun aber hatte DomDaniel zumindest teilweise Erfolg. Halb fasziniert, halb angeekelt beobachtete Simon, wie die Umrisse des Schädels langsam unter den knolligen Gesichtszügen DomDaniels verschwanden und der zylinderartige Hut des alten Schwarzkünstlers aus dem Nichts erschien und sich auf sein schütteres Haar stülpte. Jetzt sah der körperlose Kopf unangenehm lebendig aus. Zwanzig Zentimeter über dem Tisch schwebend, drehte er sich einmal im Kreis, bis er direkt auf das Gerippe blickte, das, noch unumhüllt und völlig teilnahmslos, auf dem Stuhl hockte. Dann setzte er sich in Bewegung. In gut einem Meter Höhe flog der Kopf gemächlich zu den Knochen hinüber, brachte sich über dem obersten Halswirbel, dem Atlas, in Position und schwebte dann langsam hinunter, bis er wieder auf seinem Gerippe saß.
Der Kopf schwenkte herum und bedachte Simon mit einem triumphierenden Grinsen.
»Verblüffend«, sagte Simon. »Ganz hervorragend.« Simon wusste, wie man den Meister bei Laune halten oder davon abbringen konnte, anderen mit albernen kleinen Belästigungszaubern die Haare zu zerzausen oder sie an peinlichen Stellen – oder, noch schlimmer, mitten im Kopf – mit einem Juckreiz zu belegen. Das einfachste Mittel war, ihm zu schmeicheln oder, wie seine Mutter es ausgedrückt hätte, ihm um den Bart zu gehen.
»Das ist nichts im Vergleich zu dem, wie ich früher war«, erwiderte DomDaniel mit ziemlich piepsiger Stimme. »Aber ich werde es ihnen zeigen, Heap. Ich werde es allen zeigen. Und dann wird es ihnen…« Seine Stimme verlor sich in der feuchtkalten Nachtluft.
»…leidtun?«, beendete Simon den Satz für ihn.
Der Kopf nickte und begann zu kippen. Mit einem Satz war Simon zur Stelle und fing ihn auf, bevor er zu Boden purzelte. Mit größter Vorsicht und leicht zitternden Fingern setzte er den Kopf wieder auf den breiten, flachen Wirbel und zog dann rasch die Hände zurück. Ihm war speiübel.
»Doch nicht so, du Idiot!«, schimpfte der Kopf und geriet erneut ins Wackeln. »Meine Güte, du musst ihn festdrücken, bis er richtig sitzt.«
Simon schluckte schwer. DomDaniels Kopf war eiskalt, und obwohl der Schädel jetzt umhüllt war, fühlte er sich unangenehm wabbelig an, und Simon fürchtete, seine Finger könnten in der weichen Masse einsinken. Behutsam drückte er den Kopf auf den Wirbel, bis er spürte, wie die untere Schädelpartie auf dem Atlas einrastete.
Ausnahmsweise einmal machte DomDaniel ein zufriedenes Gesicht. »Ah ja, du hast es gleich … noch ein klitzekleines bisschen nach links … ja, ja … jetzt drücken! Geschafft! He, Heap – wo willst du denn hin?«
Aber Simon war schon fort, auf der Suche nach einem Eimer, in den er sich übergeben konnte.
DomDaniel stand bereits auf dem Treppenabsatz und wartete ungeduldig, als Simon kreidebleich und zittrig wiederkam. Der Schwarzkünstler war inzwischen in seinen neuesten Dunkelmantel und ein Paar feste Stiefel geschlüpft. Aber Simon erhaschte einen Blick auf weiße Knochen, die unter dem Mantel in den Stiefeln verschwanden, und da wusste er, dass die Falten des dunklen Stoffs nach wie vor nur ein Skelett verbargen.
»Bereit?«, fragte DomDaniel.
»Äh … ja«, antwortete Simon, der sich fragte, wofür er bereit sein sollte.
»Dann hol eine Kröte, Heap. Eine schöne fette, damit wir aufbrechen können.«
»Wird gemacht.« Eilends schraubte Simon den Deckel des Krötenglases auf und spähte hinein. Eine große, besonders kulleräugige Kröte blinzelte zu ihm herauf. Simon schnappte sie, hob sie heraus und hielt sie dem Meister hin.
DomDaniel musterte sie beifällig. »Sehr schön. Die müsste es tun. Steck sie in den Krötensack, Heap.«
Simon ergriff einen schwarzen glänzenden Beutel, der neben dem Krötenglas lag, und ließ die Kröte hineinplumpsen.
Der frisch umhüllte Totenkopf grinste. »Gehen wir!«, sagte er.
Simon folgte DomDaniel, der, ungewöhnlich vergnügt, vor ihm die Treppe hinabwankte. Plötzlich fiel etwas klappernd zu Boden, etwas Weißes und Dünnes.
Armknochen, dachte Simon, nahm seinen ganzen Mut zusammen und klaubte sie vom Boden auf.
DomDaniel sah ungeduldig zu, wie er versuchte, zunächst all die kleinen Knochen des Handgelenks zusammenzusetzen. »Ach, verschieb das auf später und steck sie einfach in den Krötensack. Gib mir deinen Arm, Heap.«
Simon blickte ihn entsetzt an. »Aber …«
Ein schrilles Lachen hallte durch das Observatorium wie das Quietschen einer Tür, die wild in den Angeln schwang. »Zum Aufstützen, Heap – zum Aufstützen. Hahaha.« Und dann kam es drohend: »Du bringst mich noch auf Gedanken!«
Simon und DomDaniel machten sich an den langen Abstieg durch das kalte Schiefergestein. Am Fuß der Treppe blieb DomDaniel vor der Magog-Kammer stehen und zog die Lippen auseinander, was wohl, wie Simon vermutete, ein Lächeln darstellen sollte. Dadurch ermutigt, fragte Simon den Meister, wohin sie eigentlich gingen.
DomDaniel blickte ihn verzweifelt an. »Warum gerate ich immer an die Dümmsten? Kröte, Junge – Kröte!«
»Aha«, sagte Simon, kein bisschen klüger.
»Wir werden unserem Fanklub in Port einen kleinen Besuch abstatten.«
»Wie nett«, erwiderte Simon höflich, obwohl er noch nie von einem Fanklub DomDaniels in Port gehört hatte. Wahrscheinlich weil der ziemlich klein war, sagte er sich.
DomDaniel fand Simons verdutztes Gesicht offenbar komisch. Ein piepsiges Kichern drang aus seiner Kehle. »Du hast wohl nicht gewusst, dass ich einen Fanklub habe, wie? Haha! Hahaha!« DomDaniels Kopf klappte hin und her, als hinge er an einem Scharnier.
Simon verzog entsetzt das Gesicht.
»Du hast allen Grund, so entgeistert zu gucken, Heap. Wir besuchen nämlich den Porter Hexenzirkel! Hoppla!«
DomDaniels Kopf tat erneut einen Wackler und fiel dann zu Boden.