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Bohrasseln

Entsetzte Stille senkte sich über den
Hafenplatz, als die Masten der drei Schiffe, auf die der größte
Teil des Sternenregens niedergegangen war, vor den Augen der Menge
zu Staub zerfielen. Es dauerte viele lange Sekunden, bis die
fassungslosen Gespenster, Kobolde, Mumien, Grula-Grulas, Schimären
und Gragulls begriffen, dass dies alles tatsächlich geschah. Erst
als das dumpfe Prasseln der auf die Decks stürzenden Segel und Taue
über den Hafenplatz hallte und anschließend die Decks mit einem
lauten Krachen auseinanderplatzten wie nasse Papiertüten, erst da
lösten sich die Menschen aus ihrer Erstarrung. Viele liefen an die
Kaikante und riefen den Seeleuten auf den Schiffen zu, über Bord zu
springen. Andere rannten zum Schiffsbedarfsladen, um Taue und
Rettungsbojen zu holen. Mehrere junge Gespenster sprangen beherzt
ins Wasser und zogen jeden heraus, den sie zu fassen bekamen.
Der Ruf »Alle Mann von
Bord!« erfüllte den Hafen, als die Zerstörung auch bei den
anderen Schiffen sichtbar wurde. Masten fielen wie Kegel, Rümpfe
zerbrachen wie Eierschalen. Der Hafenmeister lief, mit
Rettungsbojen behangen, am Kai entlang und warf eine Boje nach der
anderen ins Wasser, das inzwischen schwarz war von Trümmern und
zappelnden Seeleuten, von denen viele nicht schwimmen
konnten.
Mitten in dem Durcheinander schlich sich Daphne
zurück, um ihre leere Holzwurmbüchse zu holen. Sie stellte sie
vorsichtig in die Schubkarre und stahl sich in Richtung der Krummen
Fischbauchgasse davon. Daphne hatte die Nase voll, sie wollte nach
Hause. Doch als sie an der Steinbank vorbeikam, auf der DomDaniel
lag und mit offenem Mund schnarchte, sprang ihr die Tüte mit den
Hallowseeth-Heringen ins Auge. Sie konnte nicht widerstehen. Also
setzte sie sich und begann, die mittlerweile kalten, aber immer
noch köstlich salzigen kleinen Fische zu verschlingen – mitsamt
Kopf und Schwanz. Daphne war keine gesittete Esserin, und ihr
geräuschvolles Zuzeln an den Gräten fand den Weg in DomDaniels
Träume und weckte ihn schließlich.
Daphne kippte sich die restlichen
Heringsschuppen in den Mund, knüllte die Tüte zusammen und warf sie
zornig nach einem vorbeikommenden Krokodil, dem eine Axt im Kopf
steckte. »Dieses Miststück«, sagte sie.
»Das Krokodil?«, fragte DomDaniel
schlaftrunken.
»Nein, Linda. Sie hat alle meine schönen
Holzwürmer ermordet. Ich hasse sie.«
Aus irgendeinem Grund mochte DomDaniel Daphne.
Es war ein komisches Gefühl, jemanden zu mögen, und DomDaniel hatte
keineswegs die Absicht, es zu vertiefen. Dennoch griff er in seine
Manteltasche und zog eine kleine Silberdose mit Onyx-Marmoreinsatz
im Deckel heraus. »Hast du Dukey noch?«, fragte er.
Daphne blickte ihn erstaunt an. »Woher wissen
Sie von Dukey?«
DomDaniel schmunzelte, und seine Lippen glitten
über seinen Zähnen auseinander wie alte Vanillepuddinghaut. »Ich
habe es mir zur Aufgabe gemacht, alles zu hören, was um mich herum
vorgeht«, antwortete er.
»Ja«, flüsterte Daphne, »ich habe Dukey
noch.«
»Dann lass ihn uns mal ansehen.«
Verdutzt zog Daphne Dukey aus der Tasche.
DomDaniel betrachtete den dicken, mit Flusen bedeckten Wurm. »Er
wird wieder gesund«, versprach er und schnippte den Deckel der
Silberdose auf, die innen ganz blau war und funkelte wie ein
Edelstein. »Leg ihn hinein«, forderte er Daphne auf.
Gerührt über so viel Zuwendung vom großen
DomDaniel, setzte Daphne ihren letzten, heiß geliebten und
mausetoten Holzwurm in die Dose. DomDaniel klappte den Deckel zu.
»Halte die Dose vierundzwanzig Stunden geschlossen«, sagte er zu
Daphne. »Wenn du sie dann öffnest, wirst du darin einen
unbegrenzten Vorrat finden. Bald wirst du dein Völkchen
wiederhaben.«
Daphne betrachtete die kleine Silberdose
verwundert. »D…danke«, stammelte sie.
»Aber zu niemandem ein Wort«, mahnte
DomDaniel.
Daphne verstand. »Natürlich nicht.«
Dann saßen sie in geselligem Schweigen da,
Daphne strahlend vor schierem Glück, DomDaniel in wachsender Sorge,
da er das Gefühl hatte, seine Haut würde gleich abfallen.
Während am dunklen Eingang zur Krummen
Fischbauchgasse Ruhe einkehrte, herrschte im Hafen noch heilloses
Chaos. Der Kai wimmelte von allen möglichen Geschöpfen, die Taue
und Bojen herbeischleppten und ins Hafenbecken schleuderten. Einige
sprangen, den Bohrasseln tapfer die Stirn bietend, in ihre Boote
und versuchten verzweifelt, zu den im Wasser strampelnden Seeleuten
zu rudern. Nicht alle Boote schafften es unbeschadet zurück. Marcia
konzentrierte ihre Zauberkräfte darauf, jene Seeleute
wiederzubeleben, die halb – oder manchmal auch vollständig –
ertrunken aus dem Wasser gefischt wurden. Wenn sie innerhalb von
drei Minuten nach dem Ertrinken bei ihnen war, hatte sie eine
Chance, die Männer zu retten.
Auch Simon leistete Schwerstarbeit. Unbemerkt
in dem Gewimmel, zog er Seeleute aus dem Wasser, und einen brachte
er sogar zu Marcia, ohne dass sie Simon erkannte. Er war der
Erschöpfung nahe, als er einen kleinen Jungen entdeckte, der sich
an ein Rundholz klammerte, das unter den Attacken der Bohrasseln
rasch zerfiel. Er hechtete in den Sägemehlbrei, der auf dem Wasser
trieb, und zog den Jungen ans rettende Ufer. Als er dem zitternden
Rotschopf die Treppe hinaufhalf, rief eine Frauenstimme: »Oh, das
arme Kerlchen! Lassen Sie mich ihn nehmen, Simon Heap.«
Entkräftet übergab er den Jungen. Erst ein paar
Minuten später, als er wieder zu Atem gekommen war, fragte er sich
verwundert, woher die Frau seinen Namen gekannt hatte.
Vom Fenster des Zollhauses hatte
Septimus das dramatische Geschehen verfolgt – zuerst begeistert von
dem schönen Lichterspektakel und dann, als er begriff, dass eine
Katastrophe im Gang war, tief enttäuscht, weil er nicht unten am
Hafen sein und helfen konnte. Doch er hielt sich an das, was Marcia
zu ihm gesagt hatte, und blieb brav, wo er war.
Aber als er sah, wie drei bösartig aussehende
Frauen in Hexenmänteln einen strampelnden Jungen, der nur knapp dem
Ertrinken entronnen war, fortzerrten, geriet er ins Wanken. Und als
der Junge ihn am Fenster bemerkte und »Hilf
mir!« heraufrief, da konnte ihn nichts mehr halten. Er warf den
Lehrlingsmantel über, schnallte den Lehrlingsgürtel um und sauste
die Treppe hinunter. Doch als er unten ins Freie trat, waren der
Junge und die Hexen verschwunden.
Marcias letzter Wiederbelebungszauber
hatte funktioniert. Der Seemann setzte sich auf und stöhnte. »Sie
sind bald wieder wohlauf«, versprach sie ihm und half ihm auf die
Beine.
»Ich bringe ihn zur Hafenmeisterei«, erbot sich
Alice. »Sie öffnen gerade die Schlafbaracke für Notfälle hinterm
Haus.«
Marcia sah Alice nach, wie sie den triefend
nassen Matrosen langsam über den Hafenplatz führte. Dann drehte sie
sich um und blickte wieder ins Hafenbecken. Das Wasser erinnerte
sie an einen von Tante Zeldas Eintöpfen – dickflüssig, braun und
voller länglicher weißer Fäden. Tatsächlich glich das Hafenbecken
jetzt eher einer Kloake. Die Überreste von dreizehn Schiffen –
hauptsächlich ineinander verknäulte Taue, Segel und Fischernetze –
trieben in einem zähen Schaum aus Holzmehl. Bestürzte Porter Bürger
waren herbeigeeilt und fielen einander traurig in die Arme. Nicht
nur dass alle dreizehn Schiffe zerstört waren, auch der Hafen
selbst war jetzt nicht mehr befahrbar. Unter dem Holzbrei, auf dem
Grund des Hafenbeckens, lagen die Eisenteile von dreizehn Schiffen
und, wie sie befürchteten, die sterblichen Überreste nicht weniger
ertrunkener Seeleute. Marcia begab sich zu den anderen. Sie
verspürte ein Gefühl der Ohnmacht, denn sie konnte nichts mehr tun.
Kein Zauber vermochte den Ertrunkenen jetzt noch zu helfen oder die
Schiffe wieder instand zu setzen. Erschüttert schüttelte sie den
Kopf – der Porter Hexenzirkel hatte Schreckliches
angerichtet.
Plötzlich hörte sie eine Stimme »Marcia!«
rufen. Sie wirbelte herum und sah Septimus herbeirennen.
»Septimus, ich habe dir doch gesagt, du sollst
im Haus bleiben«, sagte sie, erfolglos bemüht, streng zu klingen
und nicht zu zeigen, wie sehr sie sich freute, ihn zu sehen.
»Es tut mir leid«, stieß Septimus keuchend
hervor, »aber die Hexen … sie …« Er blieb stehen und rang
nach Atem.
»Ich weiß«, antwortete Marcia. »Es ist
furchtbar.«
»Sie … sie haben einen Jungen
entführt!«
Marcia horchte auf. Dieses Vorhaben der Hexen
würde sie noch rechtzeitig vereiteln können. »Los«, sagte sie, »die
holen wir ein. Welchen Weg haben sie genommen?«
Septimus deutete zur Krummen Fischbauchgasse.
»Sie sind da hinein, glaube ich.«
Am Eingang zur Krummen Fischbauchgasse blieben
sie neben einer leeren Bank stehen. Von der Gasse zweigten
zahlreiche Seitengassen ab – oder Twieten, wie sie in Port genannt
wurden.
Septimus spähte verzagt die Gasse hinunter.
»Sie können überall abgebogen sein.«
Aber Marcia war nicht gewillt, aufzugeben.
»Dann müssen wir es eben auf gut Glück versuchen.«
Just in diesem Augenblick endete die Lauschzeit
der Dunkelkröte. Sie hüpfte aus dem Regenrohr, und Septimus sah die
Bewegung aus dem Augenwinkel. »Oh!«, rief er. »Eine Kröte.« Zu
Marcias Missfallen bückte er sich und hob sie hoch. Auf seiner Hand
sitzend, glotzte ihn die Kröte vorwurfsvoll an. Septimus erwiderte
ihren Blick, und da fiel ihm ein derber Spruch über DomDaniel ein,
der in der Jungarmee heimlich die Runde gemacht hatte:
Willst du wissen, wo DomDaniel saß,
dann folge dem Gestank nach Aas.
Willst du wissen, wo er ging,
’ne fette Kröte führt dich hin.
Denn wo er auch geht,
eine Kröte niemals fehlt.
Die Kröte bringt dich auf den Weg.
Die Dunkelkröte rutschte unbehaglich auf
Septimus’ Hand herum. Menschliche Wärme konnte sie nur schwer
ertragen.
»Setz das abstoßende Geschöpf wieder auf den
Boden, Septimus«, forderte Marcia. »Du weißt nicht, wo sie sich
herumgetrieben hat.«
»Doch«, erwiderte Septimus, »das weiß
ich.«
»Bestimmt in einer unappetitlichen
Abflussrinne. Setz sie hin.«
»Sie war bei DomDaniel«, entgegnete
Septimus.
Die Selbstgewissheit in seiner Stimme ließ
Marcia aufhorchen. »Ach ja?«, fragte sie.
»Ich denke schon«, antwortete Septimus und hob
sich die Kröte vors Gesicht, sodass sie einander beäugen konnten.
»Das ist eine Dunkelkröte.«
»Die meisten Kröten in Port tragen schwarze
Magie in sich«, bemerkte Marcia. »Das haben wir dem Porter
Hexenzirkel zu verdanken.«
»Aber die hier gehört zu DomDaniel«, sagte
Septimus. »Da bin ich mir sicher.«
Marcia blickte ihn verdutzt an. »Wie meinst du
das?«, fragte sie.
»Na ja, früher hieß es, dass DomDaniel immer
eine Kröte mitnimmt, wenn er jemanden besucht. Und wenn er wieder
geht, lässt er sie als eine Art Spion zurück. Die Kröte bleibt noch
eine Zeit lang dort, nämlich ganz genau … äh …« Septimus
durchforstete sein fotografisches Gedächtnis und schlug in Gedanken
Seite drei in seinem alten Handbuch der Jungarmee auf. »… ganz
genau fünf Minuten und 7,166666666667 Sekunden. Sie erlauscht, was
die Leute über DomDaniel sagen, nachdem er gegangen ist, dann eilt
sie ihm nach und erzählt es ihm. Sie hat schon so manchen in große
Schwierigkeiten gebracht. In der Jungarmee hat man uns gezeigt,
woran man eine Kröte DomDaniels erkennt. Und uns eingeschärft, ja
nie auf eine zu treten. Niemals. In der
Kaserne hingen Schilder, auf denen Achte die
Kröte stand.«
»Dann glaubst du also, dass diese hier gleich
loshüpfen und DomDaniel erzählen wird, was wir gesprochen haben?«,
fragte Marcia.
»Ich vermute es«, antwortete Septimus.
»Nun, dann kann sie ihm von mir ausrichten,
dass ich sehr wohl weiß, dass er hinter all dem hier steckt und er
nicht ungestraft davonkommen wird. Sie kann ihm von mir ausrichten,
dass ich komme und ihn mir hole.«
Doch es war nicht DomDaniel, der Septimus in
diesem Moment Sorgen bereitete, sondern der Porter Hexenzirkel.
»Marcia, Alice Nettles hat doch gesagt, dass sie DomDaniel zusammen
mit dem Porter Hexenzirkel gesehen hat, nicht wahr?«
»Ja, allerdings, Septimus, und ich muss
gestehen, ich dachte, sie hätte sich getäuscht. Aber vielleicht hat
sie sich ja gar nicht getäuscht. Und es gibt nur eine Möglichkeit,
das herauszufinden. Wir lassen die Kröte frei und folgen
ihr.«
Septimus setzte die Kröte auf den Boden, und
sofort hüpfte sie davon. »Die Kröte bringt dich auf den Weg«,
murmelte er.
Marcia sah ihren Lehrling fragend an. »Wieder
so ein Jungarmee-Spruch?«
»Na ja …« Septimus gab es nie gerne zu,
wenn er sich etwas aus der Jungarmee in Erinnerung rief. Irgendwie
kam ihm das Marcia gegenüber wie ein Verrat vor.
Aber Marcia störte sich überhaupt nicht daran.
Sie lächelte. »Manchmal steckt in diesen Sprüchen erstaunlich viel
Wahres«, sagte sie. »Komm Septimus, gehen wir.«