8
Unsichtbar

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Marcia war auf der Porter Fähre. Ein Hai knallte gegen die Bordwand, und nur sie wusste, warum – er wollte an Septimus heran und ihn fressen.
Bum! Bum! Bum!
Septimus, der in der Kammer neben der Tür schlief, sprang aus dem Bett und nahm Habachtstellung ein, in der Magengrube das vertraute mulmige Gefühl, das er immer hatte, wenn er zu einer Kämpf-oder-stirb-Übung hinausmusste. Er dauerte eine volle Minute, ehe ihm wieder einfiel, dass er gar nicht mehr in der Jungarmee war und nichts zu befürchten hatte.
Bum! Bum! Bum!
Septimus öffnete die Tür der Kammer und spähte in die Diele, die eine kleine Nachtkerze schwach erhellte.
Bum! Bum! Bum!
Die massive Eichentür erzitterte unter den Schlägen – jemand versuchte, die Tür zur Suite aufzubrechen. Septimus tapste zu Marcias Tür, doch gerade als er nach dem Knauf fassen wollte, flog sie auf.
»Septimus?«, fragte Marcia verschlafen in ihrem lila Nachthemd. »Was geht hier vor?«
Bum! Bum! Bum!
»Da ist jemand an der Tür«, antwortete Septimus überflüssigerweise.
»Marcia!«, rief eine Stimme. »Ich bin’s, Alice!«
Marcia ging hin und öffnete. »Alice? Du lieber Himmel, Sie sehen ja schrecklich aus. Treten Sie ein.«
»Marcia, es tut mir furchtbar leid, dass ich Sie geweckt habe, aber …« Alice warf einen Blick über die Schulter, in Sorge, DomDaniel könnte hinter ihr auf dem dunklen Flur lauern und lauschen. Sie senkte die Stimme zu einem Flüstern. »DomDaniel ist da draußen.«
»Was?«, stieß Marcia hervor.
»Sehen Sie selbst.« Alice führte Marcia – der Septimus auf dem Fuß folgte – über den Treppenabsatz zu dem runden Fenster, das auf den Hafenplatz hinausging. Sie schaute hinunter, und ihre Enttäuschung war groß. Der Platz war noch voller geworden, und die Hallowseeth-Feiernden drängten sich begeistert um das Hexentheater am Kai. Von DomDaniel war keine Spur zu sehen.
Alice schüttelte den Kopf. »Ich kann ihn nicht entdecken. Es sind so viele Leute.«
Marcia blickte hinab in die Menge wunderlicher Gestalten. Sie schätzte Alice wirklich sehr, aber sie konnte sich nicht helfen – Alice musste einen Verkleideten irrtümlich für DomDaniel gehalten haben. Wie sollte man in einem solchen Getümmel einen Unterschied erkennen, noch dazu bei Nacht? Marcia seufzte. Was für ein unglücklicher Zeitpunkt für ihren Ausflug nach Port. Warum hatte sie nicht daran gedacht, dass in der Stadt heute Hallowseeth gefeiert wurde?
Alice war die Sache furchtbar peinlich. »Ich bin wirklich untröstlich, dass ich Sie geweckt habe, Marcia. Aber es war DomDaniel, da bin ich mir sicher. Er ist an mein Fenster gekommen und hat mich angestarrt. Und er hat diesen Ring getragen, den mit den zwei grünen Fratzengesichtern …« Alice erschauderte. »Es war grausig.«
Marcia sah, wie erschüttert Alice war, und sie wusste, dass Alice nicht zu Überspanntheiten neigte. »Machen Sie sich keine Gedanken, Alice«, sagte sie. »Ich gehe runter und sehe mich einmal um.«
»Ich komme mit«, bot Alice an.
»Ich auch«, sagte Septimus rasch.
»Nein, Septimus«, entgegnete Marcia. »Du bleibst hier.«
»Aber ich bin jetzt Ihr Lehrling. Es ist meine Aufgabe, mitzukommen.«
»Diesmal nicht, Septimus. Ich möchte nicht, dass du diesem hinterhältigen alten Schwarzkünstler zu nahe kommst. Du darfst zusehen, wenn es unbedingt sein muss.«
Marcia eilte in ihr Zimmer zurück, schnallte über dem lilafarbenen Nachthemd den Gürtel der Außergewöhnlichen Zauberin um, warf sich den Mantel über die Schultern und schlüpfte in ihre spitzen lila Pythonschuhe. Sie war bereit.
Marcia und Alice traten unbemerkt aus dem Zollhaus. Auf dem Hafenplatz wimmelte es derart von seltsam kostümierten Leuten, dass eine Außergewöhnliche Zauberin im Nachthemd nicht auffiel.
»Da drüben.« Marcia deutete zu der Stelle, wo das Getümmel am größten war. »Da ist etwas im Gang.«
»Das ist eine Art Straßentheater, glaube ich«, erwiderte Alice. »Über den Porter Hexenzirkel.«
In diesem Moment setzte ein Gesang ein, und die Menge begann, im Rhythmus dazu zu klatschen und mit den Füßen zu stampfen.
»Sehen wir uns das mal näher an«, sagte Marcia. »Alther hat immer gesagt: Wenn es irgendwo Ärger gibt, dann findest du DomDaniel mittendrin.«
Alice lächelte bei der Erwähnung Althers. »Genau dort war DomDaniel, bevor er an mein Fenster kam.«
»Na bitte«, sagte Marcia. »Sehen wir nach.«
Das Gedränge war so dicht, dass Marcia und Alice außen herum gehen mussten. Sie kamen an dem Torbogen vorbei, der in die Krumme Fischbauchgasse führte – ein dunkler und abstoßender Ort, an dem es nach altem Kohl roch. Marcia blieb stehen.
»Was ist?«, flüsterte Alice.
Marcia schüttelte den Kopf. Etwas Schwarzmagisches war in der Nähe, aber es war nicht so stark schwarzmagisch, wie sie es erwarten würde, wenn es von DomDaniel ausginge. »Ich weiß nicht«, antwortete sie.
»Ist es er?«, fragte Alice.
»Hm. Sehen wir nach.« Marcia zog eine kleine Glaskugel aus ihrem Gürtel der Außergewöhnlichen Zauberin, wärmte sie kurz in der Hand, nahm sie zwischen Zeigefinger und Daumen und hielt sie vorsichtig in den dunklen Torbogen. Die Kugel begann hell zu leuchten, doch zu ihrer Überraschung erblickte Marcia keinen einzigen schwarzmagischen Schatten – nur eine alte Steinbank zu ihrer Linken und vor sich die gewundene, von Fackeln erleuchtete Gasse mit ihren Zauberbuchläden, auf deren gemeinsamen Besuch mit Septimus sie sich schon freute. »Das ist merkwürdig«, sagte sie zu Alice. »Ich war mir sicher, dass hier etwas wäre.«
In ihrem Versteck unter der Steinbank hatte die Dunkelkröte Schutz vor den schwergestiefelten Porter Füßen gesucht. Für die Dunkelkröte sahen alle Menschenfüße gleich aus – groß, hässlich und, wenn sie ihre Fußpanzer trugen, gefährlich. Doch als ein Paar spitze lila Pythonschuhe vor ihr stehen blieb, wich sie schaudernd zurück. Das waren die furchterregendsten Schuhe, die sie jemals gesehen hatte. Die Magie, die sie umgab, war ebenso stark wie der grässliche Schlangengeruch, den sie verströmten. In der Hoffnung, dass die Schlangen sie nicht verfolgen würden, schlüpfte die Dunkelkröte eilends in ein Regenrohr. Dort verharrte sie ängstlich, bis die Schlangen endlich kehrtmachten und davongingen. Dann suhlte sie sich, um das magische Kribbeln loszuwerden, in einer Schlammpfütze, die sie praktischerweise in direkter Nähe entdeckte. Fünf Minuten später hatte ihr Meister sie gefunden.
DomDaniel setzte sich ganz vorsichtig auf die Steinbank und stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus. Zwar hatte er beim Gehen ständig das unangenehme Gefühl, dass in seinem Innern etwas verrutschte, aber seine umhüllten Knochen verrichteten ihren Dienst immerhin so gut, dass er imstande gewesen war, einen Dunkelschirm zu errichten und die beiden Frauen mit einem Unsichtbarkeitszauber zu narren, der nur für sie wirkte. Die alte Marcia Overstrand – oder Schrulla Overstrand, wie er sie gern nannte – und diese andere, die bei ihr war. Wie hieß sie noch gleich? Almies Hafendampf, genau. Natürlich hätte er es auf einen Entscheidungskampf ankommen lassen können, aber damit wartete er lieber auf den richtigen Zeitpunkt. Für die alte Schrulla hatte er sich nämlich etwas ganz Besonderes ausgedacht, und das wollte er sich nicht verderben.
DomDaniel spähte unter dem Torbogen hervor und beobachtete das Treiben des Hallowseeth-Volks auf dem Hafenplatz. Er stellte sich vor, wie lustig es wäre, sie in das zu verwandeln, als was sie sich verkleidet hatten – die würden sich anschauen! Er schmunzelte. Vielleicht nächstes Jahr, wenn die Schrulla abgesetzt und er wieder Außergewöhnlicher Zauberer sein würde. Aber jetzt stand ihm der Sinn nach einem Nickerchen.
Als Simon Heap, wie befohlen, mit einer Tüte heißer Hallowseeth-Heringe (eine Porter Spezialität) für seinen Meister zurückkam, fand er ihn schnarchend vor. Er legte die Heringe auf die Bank und schlich auf Zehenspitzen wieder davon, um sich ins Getümmel zu stürzen. Das normale Leben – soweit man in Port an Hallowseeth von normal sprechen konnte – zog ihn unwiderstehlich an.