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Eine Belohnung?

Marcia Overstrand, die Außergewöhnliche
Zauberin, bereute ihren Entschluss. Es war das erste Mal, dass sie
mit ihrem neuen Lehrling Septimus Heap einen Ausflug außerhalb der
Burg unternahm, und der entwickelte sich zu einem Albtraum.
Septimus hatte nun sechs Monate lang fleißig im
Zaubererturm gearbeitet und sich, wie Marcia fand, eine Pause
verdient. Also hatte sie sich eine Belohnung für ihn ausgedacht:
eine Schnitzeljagd durch die Buchläden von Port, bei der Septimus
ein Buch suchen sollte, das er, wie sie wusste, liebte: Hundert Geschichten für gelangweilte Jungen. Marcia
hatte das Buch bereits in Woollie Wotterys Geschirr- und
Buchhandlung aufgestöbert, einem schrulligen kleinen Laden, der ihr
sehr gut gefiel. Zusammen mit Woollie Wottery, der Eigentümerin,
hatte sie eine Spur gelegt, die Septimus zu dem Buch führen sollte,
das Woollie in einer Zauberkiste unter der Ladentheke versteckt
hatte. Aber Septimus sollte bei der Schnitzeljagd nicht nur seinen
Spaß haben, sondern nebenbei auch lernen, sich gefahrlos durch Port
zu bewegen. Marcia war mit ihrer Idee sehr zufrieden gewesen – bis
jetzt.
Im Augenblick saßen sie und Septimus nämlich
auf der Porter Fähre fest. Und die wiederum saß auf einer Sandbank
fest, die, wie die Skipperin beteuerte, in der Nacht
hierhergewandert sein musste. Die Fahrt mit der Porter Fähre hatte
zu Marcias Plan gehört. Sie wollte Septimus beibringen,
selbstständig zu reisen, damit er nicht immer auf seine
Zauberkünste oder die Fähre des Zaubererturms angewiesen wäre –
wenn man die nahm, wusste nämlich immer gleich alle Welt, wohin man
fuhr und warum. Nun aber ärgerte sich Marcia, dass sie nicht den
bequemeren Weg gewählt hatte.
Marcia war durchnässt und fror, und obendrein
fühlte sie sich angestarrt von den anderen Passagieren aus der
Burg, die nicht damit gerechnet hatten, dass ihnen die
Außergewöhnliche Zauberin an Bord Gesellschaft leisten würde. Und
Marcia wiederum hatte nicht damit gerechnet, dass ihre Mitreisenden
so sonderbar aussehen würden. Wie zum Beispiel die drei jungen
Männer, die von Kopf bis Fuß in Verbände gewickelt waren, noch dazu
in Verbände voller Flecken, von denen sie nur hoffen konnte, dass
sie nicht von echtem Blut herrührten. Oder die beiden jungen
Frauen, die vollkommen mit schwarzer Netzkleidung ausstaffiert
waren. Oder der Passagier im Frettchenkostüm, der die ganze Fahrt
über kein einziges Mal den Frettchenkopf abnahm. Marcia vermutete,
dass sie alle zu einem Kostümfest wollten.
Nachdem nun auch noch die Wellen der
einsetzenden Flut an die Bootswand klatschten und die Dämmerung
anbrach, fühlte sich Marcia richtig elend, doch zu ihrer
Erleichterung stellte sie fest, dass Septimus von ihrer
Vergnügungsfahrt noch immer ganz begeistert war. Als sie ihm den
Ausflug vorgeschlagen hatte, war sie über seine Reaktion bestürzt
gewesen. Offensichtlich hatte es Septimus nicht für möglich
gehalten, dass man nur zum reinen Vergnügen irgendwo hinfahren
konnte. Das Herz schnürte sich ihr zusammen, und Tränen stiegen ihr
in die Augen, als sie begriff, dass die einzigen Ausflüge, die ihr
Lehrling bis dahin unternommen hatte, die grauenvollen Manöver der
Jungarmee gewesen waren, bei denen er stets die begründete Furcht
haben musste, nicht heil zurückzukehren. Das hatte sie nur in dem
Wunsch bestärkt, Septimus in Port ein paar schöne Tage zu
bescheren. Und als sie ihn jetzt dabei beobachtete, wie er
aufgeregt und mit einem strahlenden Lächeln zu den verlockend nahen
Lichtern von Port blickte, da begriff sie, dass es im Leben
Wichtigeres gab, als sich über eine gestrandete Fähre zu ärgern,
und lächelte ebenfalls.
Fünf Minuten später brachen die Passagiere in
Beifall aus, denn die Porter Fähre war von der Sandbank
freigekommen. Bald darauf legte sie am Burg-Kai an, wo die
Skipperin ihre sonderbaren Passagiere beschämt verabschiedete und
ins nächtliche Port entließ.
Wie allen Außergewöhnlichen Zauberern stand
Marcia im Zollhaus, das am Haupthafen lag, eine Gästesuite zur
Verfügung. Sie freute sich schon auf das Abendessen am warmen
Kaminfeuer, das sie dort erwartete. Mit Septimus im Schlepptau
eilte sie durch die verwinkelten Gassen, die zum Haupthafen
führten. Nach gut zehn Minuten fragte Septimus, der kaum
hinterherkam: »Sind wir nicht bald da?«
Marcia verkniff sich eine bissige Antwort.
Schließlich sollte der Ausflug Spaß machen. Und so sagte sie nur:
»Gleich.«
Zehn kalte Minuten später bemerkte Septimus:
»Hier waren wir vorhin schon mal.«
Marcia blieb stehen. »Mist!«
»Haben wir uns verlaufen?«, fragte
Septimus.
»Nein«, behauptete Marcia, »wo denkst du
hin!«
Septimus zog ein zerknülltes Stück Papier aus
der Tasche. »Wie gut, dass ich einen Stadtplan mitgenommen
habe.«
»Einen Stadtplan?« Marcia wünschte, sie hätte
selbst daran gedacht.
»Ja. Ein Narr, wer ohne Karte, die den Weg ihm
weist, zu unbekannten Orten reist.«
»Ich muss doch sehr bitten!«, rief Marcia
aufbrausend, besann sich aber sogleich. »Ach so, das ist einer von
euren Jungarmee-Merksprüchen, nicht wahr?«, fragte sie in dem
sanften Ton, den sie immer anschlug, wenn sie über seine
Vergangenheit sprach.
Septimus nickte. »Die sind wirklich recht
nützlich«, erwiderte er – ehe ihm einfiel, dass sie auch einige
gemeine Sprüche über Marcia hatten auswendig lernen müssen. »Na,
jedenfalls die meisten«, fügte er hinzu.
Septimus übernahm mit dem Stadtplan die
Führung, und schon bald traten sie aus dem Gewirr der Gassen heraus
auf eine breite, hell erleuchtete Straße.
»Ich habe mir gedacht«, erklärte Septimus,
»dass wir die Gassen besser meiden und die größeren Straßen zum
Hafen nehmen. Bei Dunkelheit ist das sicherer.«
»Gute Idee«, stimmte Marcia zu und dachte im
Stillen, dass Septimus möglicherweise gar nicht zu lernen brauchte,
wie man sich in Port gefahrlos bewegte.
Kalter Regen setzte ein, und Septimus überlief
ein Schauder. Die Straße war ihm nicht geheuer, und aus irgendeinem
Grund, den er nicht verstand, sträubten sich ihm die Nackenhaare.
Marcia marschierte zügig weiter, und Septimus hastete hinterher. Im
Gehen suchte er auf dem Stadtplan die erste Abzweigung zum Hafen.
Plötzlich hörte er Marcia zischen: »Unsichtbarkeitszauber Nummer
drei, Septimus. Los, sofort!« Erschrocken
über die Dringlichkeit in ihrer Stimme, die ihm sagte, dass es ihr
ernst war, kam er der Aufforderung unverzüglich nach.
Ein paar Sekunden später setzten sie als
unsichtbare Schatten ganz leise ihren Weg fort und beobachteten
dabei zwei Gestalten, die ihnen auf der anderen Straßenseite
entgegenkamen. Die eine war in einen dunklen Mantel gehüllt und
hatte eine Kapuze über den Kopf gezogen, die andere bot einen
höchst merkwürdigen Anblick.
»Du meine Güte, bin ich erschrocken!«,
flüsterte Marcia Septimus zu. »Im ersten Moment dachte ich, da
kommt DomDaniel. Der Kerl hat sein Gesicht, aber sieh dir nur an,
wie er geht – er wackelt hin und her wie eine große
Marionette.«
»Er sieht verkleidet aus wie die Leute auf der
Fähre«, erwiderte Septimus. »Aber trotzdem ist er mir
unheimlich.«
Marcia war mit ihrem Lehrling zufrieden. »Ganz
recht«, sagte sie, »ich habe den Verdacht, das ist eine Art
schwarzmagische Sinnestäuschung. Leider kann man solche Dinge hier
verschiedentlich kaufen.« Sie seufzte. »In Port begegnet man schon
sehr sonderbaren Leuten, Septimus.«
Septimus nickte. Er hatte noch nie so viel
Merkwürdiges an einem Ort gesehen.
Marcia beobachtete, wie die beiden Gestalten um
eine Ecke bogen und in der Dunkelheit verschwanden. »Wir können den
Unsichtbarkeitszauber jetzt wieder aufheben, Septimus«, sagte
sie.
Am Ende der Straße fand Septimus die gesuchte
Abkürzung zum Hafen. Die Gasse hieß Düsterweg und führte an der
Rückseite kleiner, geduckter Häuser vorbei, war aber trotz ihres
Namens hell erleuchtet und machte einen freundlichen Eindruck. Im
Weitergehen fiel Septimus und Marcia auf, dass die Lichter, die
ihnen leuchteten, ungewöhnlich verschiedenartig waren. Auf den
Fenstersimsen standen alle erdenklichen Sorten von ausgehöhlten
Kürbissen mit brennenden Kerzen darin, und in die Kürbisse waren
grinsende Fratzengesichter geschnitzt, die von oben in die Gasse
herabglotzten und über sie zu lachen und zu feixen schienen.
Septimus war begeistert.
Marcia weniger. »Höchst merkwürdig«, sagte
sie.
Bald wurde es noch merkwürdiger – als sie um
die Ecke bogen, kamen ihnen drei weißgesichtige Ghule entgegen, die
einen Hund an der Leine führten. Die Ghule lachten vergnügt, was
solchen bösen Dämonen eigentlich gar nicht ähnlichsah. Und als sie
sich Marcia und Septimus näherten, riefen sie fröhlich: »Wir
wissen, wer ihr seid!«
»Na prima«, erwiderte Marcia frostig.
»Haha. Sehr gut. Genau das würde sie sagen,
habe ich recht?«, fragte einer der Ghule seine Begleiter, die ihre
Unterhaltung unterbrachen und zustimmend lachten.
»Ja, aber die echte Marcia ist viel
furchterregender.«
»Ach ja?«, erwiderte Marcia.
»Und größer«, setzte ein anderer Ghul
hinzu.
»Genau, mindestens einen Kopf größer, würde ich
mal sagen. Und richtig gruselig. Der echten möchte ich lieber nicht
allein in dunkler Nacht im Düsterweg begegnen, haha!«
»Also das ist doch die Höhe!«, rief Marcia.
»Eine Unverschämtheit!«
»Großartig! Sie fällt nicht aus der Rolle.
Einfach köstlich. Bis dann – Marcia!« Die
Ghule zogen lachend weiter. Einer drehte sich noch einmal um und
rief: »Und der neue Lehrling ist auch klasse. Eine gute Wahl.
Schönen Abend noch!«
Verdutzt schaute Marcia ihnen nach. »Also ich
weiß nicht, Septimus«, sagte sie. »Port überrascht mich doch immer
wieder.«
Zehn Minuten später saßen Septimus und
Marcia an einem kleinen – und höchst luxuriösen – Kohlenfeuer.
Septimus hatte noch nie glühende Kohlen gesehen und staunte über
die Hitze, die sie abgaben. Draußen regnete es in Strömen, und der
Wind vom Meer blies so kräftig, dass auf den Booten, die nur wenige
Meter vom Zollhaus entfernt im Hafen ankerten, die Taue an die
Masten schlugen. Septimus war glücklich – zum ersten Mal in seinem
Leben war er fernab der Burg und dennoch nicht im Freien bei
schlechtem Wetter. Und er hatte, was noch erstaunlicher war, keine
Angst. Kein bisschen. Er kuschelte sich in den warmen, weichen
Sessel und sog tief die Luft ein. Ein köstlicher Duft stieg ihm in
die Nase.
»Abendessen«, sagte Marcia. »Wird aber auch
Zeit.«