In der Morgendämmerung
1
Ein paar Tage später saß Seth auf einem Hügel und blickte auf eine von Geröll übersäte Ebene hinaus, in deren Zentrum das Haus des Todes stand.
Die Morgendämmerung hatte bereits eingesetzt, aber noch glitzerten Sterne um den Vollmond am halbdunklen Himmel. Während der Nacht hatte sich dichter, nach fauligen Eiern stinkender Nebel über die Ebene gesenkt. Gelegentlich riss der Wind die gelblichen Schleier an einigen Stellen auf und Seth konnte undeutliche, sich bewegende Schatten erkennen.
Tall Jake versammelte seine Armee.
Aus dem Nebelmeer in der Ebene ragte riesenhaft das Haus des Todes empor. Ein schwarzer Gebäudekomplex aus Stahl– eine monströse Fabrik, aus deren zahllosen Schloten übel riechender Qualm quoll. Die auf mehreren Ebenen errichteten Gebäude waren durch Brücken miteinander verbunden und von einem stählernen Schutzwall umgeben. Aus der Ferne sah es beinahe so aus, als würde das Haus des Todes glühen. Der Feuerschein der unermüdlich arbeitenden Öfen, mit denen die Maschinen angetrieben wurden, drang durch unzählige Risse nach außen. Das Dach wirkte wie mit spitzen Stacheln bewehrt, wegen der unzähligen Kanonen, die dort in Stellung gebracht worden waren.
Das Haus sah aus wie das Tor zur Hölle.
Der Hügel, auf dem Seth saß, lag am Fuße einer mächtigen Bergkette. Auf dem Abhang hinter ihm hatte sich eine Armee zusammengefunden. Ein Heer aus Katzen und Menschen, den unterschiedlichsten Bewohnern von Malice und den unheimlich aussehenden Anhängern der Laq, die sich selbst »Coven« nannten. Es waren Tausende. Viel zu viele, um sich Tall Jake unbemerkt zu nähern. Seine Späher hatten sie mit Sicherheit bereits entdeckt. Aber waren es genug, um ihn im Kampf zu besiegen? Seth ließ seinen Blick nachdenklich über die Ebene wandern.
Sie würden im Morgengrauen angreifen. Der Gedanke an die bevorstehende Schlacht jagte ihm Angst ein. Angst um sein Leben, aber vor allem um das der anderen. Was, wenn Justin starb? Oder Kady? Er würde es nicht ertragen, einen der beiden zu verlieren.
Kady hatte ihm vorgeworfen, er würde die Gefahr lieben, und wenn er ehrlich darüber nachdachte, musste er ihr sogar Recht geben. Tief in seinem Inneren hatte er sich niemals vorstellen können, dass ihm tatsächlich etwas Schlimmes zustoßen könnte. Er war immer überzeugt davon gewesen, alles überstehen zu können, wenn er nur mutig und klug handelte. Insgeheim hatte er sich wohl für unbesiegbar gehalten. Für einen wahren Helden.
Aber das hier war nicht nur ein gefährliches Abenteuer. Es war ein Krieg. Dort unten auf dem Schlachtfeld würde er keine Kontrolle über das haben, was geschah. Er würde einer von Tausenden sein und schlussendlich würde nur der Zufall darüber entscheiden, wer überlebte und wer starb.
Er fuhr herum, als er Schritte hinter sich hörte. Kady kam in Begleitung von Tatyana den Hügel hinauf. Sie sah erschöpft aus, lächelte aber, als sie ihn sah.
»Da bist du«, sagte sie. »Ich konnte nicht schlafen.«
»Kann überhaupt irgendwer schlafen?«
»Wahrscheinlich nicht.« Sie stellte sich neben Seth. Tatyana forderte ihn mit einem Nasenstupser auf, sie zu streicheln, und schnurrte behaglich, als er sie hinter dem Ohr kraulte.
Kady ließ ihren Blick über das Nebelmeer und das Haus des Todes schweifen. »Was ist da unten?«, fragte sie gedankenverloren. »Was erwartet uns?«
»Das will ich gar nicht so genau wissen«, brummte Seth.
Kady setzte sich und eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander. Es gab so vieles, was Seth ihr gern gesagt hätte. Aber ihm fehlten einfach die Worte, um auszudrücken, was ihm wirklich auf dem Herzen lag. Deshalb schwieg er lieber.
»Sie wollen dich sehen«, sagte Kady schließlich leise.
»Wer?«
»Die Laq und die Königin der Katzen.«
»Gut.« Seth stand auf. »Dann lasse ich sie besser nicht warten.«
Kady warf ihm einen Blick zu, dem anzusehen war, dass sie ihn gern gefragt hätte, was los war, aber sie traute sich nicht.
Sag es mir, Seth. Was hast du?
Doch er wich ihrem Blick aus.
Als sie auf das Lager zugingen, sahen die Wachen der Coven sie kommen und unterhielten sich aufgeregt in ihrer Sprache, die aus Klick- und Zischlauten bestand. Bei ihrem Anblick bekam Seth eine Gänsehaut. Das erste Mal hatte er sie in der Oubliette gesehen– zunächst nur als Statuen, die den Eingang bewachten, dann als Skelette im Tempel der Laq. Er wusste auch jetzt noch nicht, wie sie unter ihren fremdartigen, eng am Körper anliegenden Rüstungen aussahen. Die Coven hatten Beine wie Pferde und lange, schmale Köpfe, die von schwarzen Metallhelmen verhüllt waren, aus denen nur die dunklen Augen hervorglitzerten. Sie waren mit Furcht einflößenden Piken bewaffnet, deren scharfe Doppelklingen im Dämmerlicht funkelten.
Kady und Seth gingen schweigend an den Wachen vorbei durch das Lager, das aus Hunderten von Zelten errichtet worden war. Die Kämpfer saßen rings um Feuerstellen, reinigten und schärften ihre Waffen und sprachen in gedämpftem Tonfall über die bevorstehende Schlacht. Es war Kady gelungen, eine beeindruckende Zahl von Mitstreitern zu mobilisieren. Havoc bestand hauptsächlich aus Jugendlichen, aber Tall Jake hatte auch unter den erwachsenen Bürgern von Malice viele erbitterte Feinde. Tausende von ihnen waren gekommen, um endlich ihre Rechnung mit ihm zu begleichen. Es war ein bunt zusammengewürfelter Haufen, der nur mit viel Wohlwollen als Armee bezeichnet werden konnte: Mitglieder von Stämmen, die hoch oben im Gebirge lebten, Bürgerwehren aus den Dörfern, Gelehrte aus den Städten. Aber sie alle trieb ein gemeinsames Ziel an: Tall Jake zu stürzen.
Die vielen einzelnen Gruppen hatten jeweils ihre eigenen Anführer, weshalb die Gefahr bestand, dass sie sich untereinander niemals einig werden würden. Die Laq und die Königin der Katzen hatten Kady deshalb vorsorglich zu ihrer Mittlerin ernannt. Dadurch wurde sie so etwas wie die inoffizielle Anführerin, auch wenn niemand das offen zugegeben hätte. Welcher Erwachsene nahm schon gern Befehle von einem Mädchen entgegen?
Als sie durchs Lager gingen, stieß Justin zu ihnen. »Was dagegen, wenn ich mitkomme?«, fragte er. »Es ist ein bisschen langweilig, darauf zu warten, von Tall Jakes Zombiearmee in Stücke gerissen zu werden.«
»Klar, das muss echt wahnsinnig langweilig sein«, sagte Kady trocken.
2
Sie fanden die Königin der Katzen und die Laq in der Mitte eines Kreises aus riesigen verwitterten Felsbrocken, der auf einem Hügel errichtet worden war. Einige der Steine waren von Blitzen gespalten worden, sodass man in das geschwärzte Innere blicken konnte. Sechs große Raubkatzen patrouillierten als Wachen um den Kreis herum.
Am Rand des Steinkreises blieb Kady stehen, wandte sich zu Seth um und legte ihm eine Hand auf den Unterarm.
»Du musst das, worum sie dich bitten werden, nicht tun«, sagte sie mit besorgtem Gesichtsausdruck.
»Du kennst mich«, entgegnete Seth und verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. »Man nennt mich nicht umsonst Sir Knight.« Er wandte den Blick ab und sagte leise: »Ich tue, was ich tun muss.«
Dann straffte er die Schultern und trat in den Steinkreis. Seine beiden Freunde blieben außerhalb stehen.
Die Raubkatzen kniffen misstrauisch die Augen zusammen, ließen ihn aber passieren. Die Königin der Katzen thronte wie eine Sphinx in der Mitte. Statt ihrer Juwelen hatte sie jetzt eine prächtige Rüstung angelegt. Die Laq stand aufrecht da wie eine wunderschöne Statue aus purem Eis.
Als die Königin der Katzen Seth ansah, hielt er ihrem Blick ruhig stand.
Du solltest vor mir niederknien.
»Sollte ich?«, entgegnete Seth kühl. In ein paar Stunden würden sie womöglich alle tot sein. Nein, er würde ganz bestimmt nicht vor ihr niederknien. Sie war nicht seine Königin. Und wahrscheinlich hätte er sich noch nicht einmal vor der englischen Königin niedergekniet.
Die Königin wandte empört den Kopf ab, während die Laq ihn mit ihrem feinen Lächeln bedachte. Sie verstand ihn und das erfüllte ihn mit einem unerklärlichen Glücksgefühl.
Du hast den Tempel von der Blutbestie befreit und uns den Shard gebracht, mein Held. Jetzt habe ich eine letzte Bitte an dich.
Seth wartete stumm ab.
Niemand kann vorhersagen, ob wir die bevorstehende Schlacht gewinnen werden. Tall Jake hat einen grossen Vorteil. Er tritt uns auf seinem eigenen Territorium gegenüber und hat mit dem Haus des Todes eine nahezu uneinnehmbare Festung im Rücken. Sollten wir ihm überlegen sein, wird er sich dorthin zurückziehen. Die auf dem Dach aufgestellten Kanonen werden dafür sorgen, dass ein Angriff auf die Mauern des Hauses des Todes viele von uns das Leben kosten wird.
»Und was ist der Plan?«
Der Plan ist, das Haus des Todes zu zerstören, während er abgelenkt ist. Doch dazu benötigen wir deine Hilfe.
Seth verstand. »Die Route durch die Fabrik. Sie waren damals in Birmingham dabei, als ich und Alicia die Verbindung zufälligerweise entdeckt haben.«
So ist es. Du kennst den Hintereingang zum Haus des Todes. Tall Jake weiss zwar, dass du in seine Festung eingedrungen bist– er hat zweifellos den Comic gelesen–, aber er weiss nicht, wie.
Die Laq hielt ein kleines Kästchen in die Höhe, das etwa die Größe einer Zigarettenschachtel hatte, und reichte es Seth. Es bestand aus zusammengeschweißten Metallhülsen, auf denen in der Mitte eine Art Zifferblatt angebracht war. Zwischen den Hülsen befanden sich zwei Glasröhrchen. In dem einen flackerte ein grelles Licht, das andere war so unendlich dunkel, dass Seth Angst bekam, in die Schwärze gesogen zu werden, wenn er zu lange hineinschaute.
Das Universum besteht aus vielen verschiedenen Elementen, sagte die Laq. Einige sind nicht dazu bestimmt, sich zu vermischen. Wenn es dennoch geschieht, dann… Sie blies in ihre Handfläche und spreizte die Finger, um eine Explosion anzudeuten.
»Sie wollen, dass ich das Ding in das Haus des Todes schmuggle?«
Die Laq nickte. Wir können nicht in eure Welt reisen, denn dort sind wir kaum mehr als ein schwacher Schatten unserer selbst und praktisch machtlos. Nur Katzen besitzen die Fähigkeit, mühelos zwischen Welten und Geschichten hin und her zu wandeln und selbst unter ihnen gelingt es nur den Allerkleinsten.
Die Königin der Katzen schnurrte stolz.
Es ist einfacher, dich zu schicken, Seth, denn du stammst aus dieser Welt, und sie will dich zurück. Nimm diese Apparatur mit in das Haus des Todes. Es wird jetzt verlassen sein. Tall Jake hat alle seine Leute um sich geschart. Du musst Sie im Herzen des Gebäudes, dem Maschinenraum, verbergen und dann den Weg wieder zurückgehen, den du gekommen bist. Wenn es uns gelingt, das Haus des Todes zu zerstören, versetzen wir Tall Jake damit einen empfindlichen Schlag. Mit vereinten Kräften kann es uns dann gelingen, ihn ganz zu überwältigen.
Seth betrachtete die Bombe in seiner Hand und spürte, wie sein Herz vor Angst stärker klopfte.
»Sie wollen also, dass ich in die reale Welt zurückkehre?«
Ich bitte dich, uns zu helfen, Tall Jake zu besiegen, mein Held.
Doch das war nicht alles, was sie von ihm verlangte. Selbst wenn es ihm gelang, die Bombe ungesehen ins Haus des Todes zu schmuggeln, würde er durch die Fabrik zurückgehen müssen, und das bedeutete, dass er in Birmingham herauskam. Ohne ein Rückfahrticket nach Malice.
Und wenn es ihm gar nicht erst gelang, sich in das Haus des Todes zu schleichen? Möglicherweise hatte Tall Jake die Route durch die Fabrik irgendwie blockiert oder man konnte den Weg nur ein einziges Mal gehen. Was sollte aus ihm werden, wenn er anschließend in der realen Welt gefangen war und nie mehr nach Malice zurückfand? Dieser Gedanke machte ihm mehr Angst als alles andere.
Aber auch wenn er Zweifel hatte, wusste er, dass es keine Alternative gab. Es ging hier nicht um ihn, es ging darum, Luke und Colm und all die anderen, die Tall Jake auf dem Gewissen hatte, zu rächen. Es ging um all diejenigen, die ihn gerufen hatten und bisher noch nicht geholt worden waren, wie Alicia und Philip Gormley. Es ging um die vielen Eltern und Geschwister, deren Leben zerstört worden war. Und er war der Einzige, der tun konnte, worum die Laq bat. Der Einzige, der schon einmal dort gewesen war.
Manchmal hasste er sich dafür, dass er sich immer für alle verantwortlich fühlte. Aber er konnte nun mal nicht aus seiner Haut.
»Ich muss mich aber noch verabschieden.«
Die Laq sah ihm tief in die Augen.
Ich weiss, wie weh dir das tut, Seth. Ich kann dir deinen Schmerz nehmen.
Einen kurzen Moment lang war er versucht, ihr Angebot anzunehmen. Er wollte Luke vergessen. Er wollte aufhören, sich um seine Eltern Sorgen zu machen und sich zu fragen, wie es ihnen jetzt ging. Er wollte die Verletzbarkeit und die Verwirrung loswerden, die er jedes Mal empfand, wenn er an Kady dachte.
Aber ganz so einfach wollte er es sich dann doch nicht machen. Außerdem war das Angebot der Laq auch gefährlich. Er erinnerte sich noch gut daran, was die Königin der Katzen ihnen in der Höhle im Regenwald gesagt hatte: Seid vorsichtig, meine Gäste. Zuerst nimmt sie euch den Schmerz und dann den Rest von euch.
»Danke, aber ich behalte mein Schmerz lieber für mich«, sagte er. »Ohne ihn könnte ich die glücklichen Zeiten nicht mehr so genießen.«
Er trat aus dem Steinkreis und ging zu seinen Freunden.
»Und?«, fragte Justin.
»Sie wollen, dass ich ins Haus des Todes gehe und es in die Luft sprenge.«
»Was hast du gesagt?«, fragte Kady.
Seth hatte den Verdacht, dass sie bereits gewusst hatte, worum die Laq ihn bitten würde. Und anscheinend hoffte sie, er würde ablehnen. Vielleicht hatten sie sich doch nicht so weit voneinander entfernt, wie er befürchtet hatte.
Er sah Kady ernst an. »Ich habe gesagt, dass ich es machen werde.«
Justin rieb sich die Hände. »Alles klar. Wann geht’s los?«
Seth schüttelte den Kopf. »Das muss ich alleine erledigen. Ich kann dich nicht bitten, mich zu begleiten. Dazu ist es zu gefährlich.«
Justin schnaubte. »Wer sagt, dass du mich bitten musst?«
»Wir müssen dafür in unsere Welt zurückkehren. Vielleicht sehen wir Malice dann nie wieder.«
Das brachte Justin einen Moment zum Nachdenken, aber schließlich sagte er: »Du bist der einzige Mensch, den ich kenne, dem es sogar noch wichtiger ist als mir, nach Malice zurückzukehren. Wenn du glaubst, dass wir es schaffen, bin ich dabei.«
Seth kämpfte gegen ein Lächeln an. »Justin, ich kann von dir nicht verl…«
»Ich komme mit«, fiel Justin ihm ins Wort und rammte ihm den Zeigefinger in die Brust. »Ende der Diskussion.«
Seths breitete die Arme aus und zog Justin lächelnd an sich. Justin wurde knallrot und versuchte sich aus der Umarmung zu befreien. »Hey, hey! Das wird mir hier langsam aber ein bisschen zu viel mit der Kuschelei, Alter. Muss ich mir Sorgen um dich machen?«
Aber Seth konnte nicht anders, als ihn fest an sich zu drücken. Bis zu diesem Moment war ihm selbst nicht klar gewesen, wie viel Angst er tatsächlich davor hatte, ganz allein ins Haus des Todes zu gehen. Mit Justin war er im Uhrenturm, in der Oubliette und in Akropolis gewesen. Gemeinsam konnten sie alles schaffen. Justin war der Freund, den er sich immer gewünscht hatte. Verlässlich wie ein Uhrwerk und immer auf seiner Seite. Es gab nicht viele Menschen wie ihn.
Nachdem Justin sich schließlich aus der Umarmung befreit hatte, sah Seth Kady an. Sie erwiderte traurig seinen Blick.
»Ich kann nicht mit euch gehen«, sagte sie leise. »Ich werde hier gebraucht.«
»Ich weiß.« Seth nickte. Es kam ihm vor, als müssten sie in letzter Zeit ständig Abschied voneinander nehmen. Aber auch diesmal brachte er es nicht über sich, ihr seine wahren Gefühle zu zeigen, und sagte bloß: »Tja, dann… bis später, oder?«
»Ja, genau«, murmelte Kady. »Bis später.«
Tatyana stieß ihn sanft mit dem Kopf an. Seth kniete sich hin und rieb seine Stirn an ihrer.
»Du musst hierbleiben und auf Kady aufpassen«, sagte er. »Sorg dafür, dass sie die Schlacht heil übersteht.«
Die Säbelzahntigerin nickte.
Dann stand Seth auf, warf einen letzten Blick auf Kady und ging zusammen mit Justin in den Kreis zurück.
»Darf mein Freund mitkommen?«, fragte er die Laq.
Ja.
»Und… äh… wäre es nicht gut, wenn wir irgendwelche Waffen hätten?«, fragte Justin. Er dachte an die Elektrolanzen, mit denen sie so lange trainiert hatten.
Waffen sind zu empfindlich. Sie wür-den den übertritt in eure Welt nicht überstehen.
Justin fluchte leise. »Dann dürfen wir uns eben einfach nicht erwischen lassen, was?«
»Werden wir uns denn erinnern?«, fragte Seth. »Nachdem ihr uns zurückgeschickt habt, meine ich? Ich will nicht schon wieder mein Gedächtnis verlieren.«
Ich werde dafür sorgen.
Seth und Justin sahen sich an. Justin zuckte mit den Achseln.
»Okay, dann…«
Seth wandte sich an die Laq. »Wir sind bereit.«
Ja, sagte sie. Das seid ihr.
Und bevor sie begriffen, was sie damit sagen wollte, waren sie auch schon auf dem Weg.
3
Es fühlte sich an, als würden sie ruckartig aus dem Schlaf hochschrecken. Seth zog keuchend Luft ein, riss den Kopf hoch und war woanders.
Es dauerte einen Augenblick, bis er das verlassene Fabrikgelände in Birmingham wiedererkannte. Er stand auf dem Brachland innerhalb des umzäunten Grundstücks. Die Luft roch hier ganz anders als in Malice: schwerer und öliger, vermischt mit Abgasen von Autos und Fabrikschloten. Es war Abend, und in der Dämmerung wiesen die Straßenlaternen der nahe gelegenen Straße den Weg Richtung Stadt.
Justin stand neben ihm und sah sich angewidert um.
»Krass«, sagte er. »Es ist sogar noch schlimmer als in meiner Erinnerung.«
»Ja, aber fairerweise muss man sagen, dass das auch nicht gerade die schönste Ecke von England ist«, sagte Seth.
»Da könntest du Recht haben.« Justin zog eine Portion Schleim hoch und spuckte ihn aus. »Wie kommt’s, dass du dich hier auskennst?«
»Ich war schon mal hier. Mit einem Mädchen aus meiner Schule. Alicia.« Er stockte kurz. »Vielleicht sollte ich sie schnell anrufen und ihr sagen, dass es mir gut geht. Meinst du, dafür haben wir noch Zeit?«
»Nein«, sagte Justin. »Die Leute in Malice verlassen sich auf uns. Wir bringen es lieber so schnell wie möglich hinter uns, okay?«
Seth nickte. Justin hatte Recht. Außerdem hatte er sowieso kein Handy und konnte sich nicht vorstellen, dass es in der Nähe ein Münztelefon gab– abgesehen davon, hatte er auch gar kein englisches Geld bei sich. »Gibt es nicht irgendetwas, was du gern machen würdest, während wir hier sind? Jemanden anrufen oder so? Ich meine, wenn du könntest.«
Justin scharrte mit der Schuhspitze über den Boden. »Ich will nichts weiter, als so schnell wie möglich wieder zurück, Alter.«
»Ich würde meinen Eltern schon gern sagen, dass ich noch lebe.« Aber nach dem, was letztes Mal passiert war, wagte Seth es sowieso nicht, sie anzurufen. Und falls Tall Jake sie tatsächlich in seiner Gewalt hatte, war es ohnehin besser, wenn er es nicht wusste. Andernfalls würde er alles daransetzen, sie zu retten– und das war genau das, was Tall Jake wollte.
Justin erriet seine Gedanken und schlug ihm tröstend auf die Schulter. »Sieh es von der positiven Seite. Wie oft hat man schon die Chance, die Festung seines Erzfeindes in die Luft zu jagen– in echt, meine ich, nicht im Computer?«
Seth lachte. »Ich hab nie viel Computer gespielt. Aber ich versteh schon, was du meinst.«
»Hey. Wir werden Helden sein!«, rief Justin.
»Und zwar echte Helden«, sagte Seth. »Nicht irgendwelche Fernseh-Pseudostars.«
»Das ist die richtige Einstellung«, lobte Justin seinen Freund, während er sich nach einer am Boden liegenden Eisenstange bückte und sie versuchsweise schwenkte. »Besser als nichts, falls wir von wild gewordenen Zombies angegriffen werden. Such dir lieber auch ’ne Waffe.«
Seth ließ seinen Blick über das Gelände schweifen, bis er etwas Geeignetes entdeckt hatte– ein dickes Stuhlbein aus Holz, das im Gebüsch lag. Er hob es auf und hielt es Justin hin. »Hier. Nimm das für mich mit. Ich muss die hier tragen.« Er hielt die Bombe hoch, die ihm die Laq gegeben hatte.
Der Lichtschein aus dem Glasröhrchen beleuchtete sein Gesicht von unten.
»Leg das Ding doch lieber in den Rucksack«, schlug Justin vor.
»Wir brauchen das Licht«, sagte Seth. »Da, wo wir hingehen, ist es verdammt dunkel.«
»Cool. Mal was ganz Neues«, sagte Justin sarkastisch und schob sich das Stuhlbein in den Gürtel. »Bist du so weit?«
»Jep!«, sagte Seth.
»Dann geh mal vor.«