In Crouch Hollow

Havoc_242.tif

1

Vielleicht waren sie erst eine Stunde unterwegs, vielleicht aber auch schon vier. Gefangen in diesem Wirklichkeit gewordenen Albtraum, hatte Alicia jegliches Zeitgefühl verloren. Sie wagte es nicht, sich zu rühren, traute sich kaum zu atmen. Sicher würde es nicht mehr lange dauern, bis Scratch sie hinter dem Beifahrersitz kauernd entdeckte. Wenn ihm während der Fahrt nichts auffiel, würde er sie garantiert finden, sobald sie ihr Fahrtziel erreicht hatten. Er würde nach seinem Mantel greifen und unweigerlich spüren, dass jemand darunter verborgen war.

Aber bis dahin blieb ihr nichts anderes übrig, als sich so still wie möglich zu verhalten. Ihr ganzer Körper schmerzte von der gekrümmten Sitzposition und die Beine spürte sie schon gar nicht mehr. Trotzdem bewegte sie keinen Muskel und atmete, so flach sie konnte, um so wenig wie möglich von dem beißenden Raubtiergestank zu riechen. Aber das Schlimmste war die Angst, entdeckt zu werden. Sie raubte ihr fast den Verstand.

Angespannt lauschte sie auf alles, was um sie herum vorging. Das Röhren des Motors verriet ihr, ob Scratch den Wagen beschleunigte oder abbremste. Anhand des Reifengeräuschs konnte sie erkennen, welche Beschaffenheit die Fahrbahn hatte, glatter Asphalt oder eher holperig und mit Schlaglöchern übersät. Nachdem sie losgefahren waren, glitten sie bald in gleichmäßigem Tempo dahin und Alicia ahnte, dass sie auf der Autobahn waren. Mit jeder Meile, die sie zurücklegten, entfernte sie sich weiter von zu Hause.

Was würde Lemar machen, wenn er sie anrief und feststellte, dass sie ihr Handy ausgeschaltet hatte? Und wie würden ihre Eltern reagieren, wenn sie heute Abend nicht nach Hause kam?

Aber darüber durfte sie jetzt nicht nachdenken. Alles, was sie im Moment tun konnte, war, sich still zu verhalten– sehr, sehr still– und verzweifelt zu hoffen und zu beten.

Icarus Scratch wechselte ständig die Sender des Autoradios, gab Kommentare zu den Songs ab, die gespielt wurden, beschimpfte andere Autofahrer und sang gelegentlich mit seiner unerträglich hohen Falsettstimme falsch mit.

Nachdem er im Radio nichts gefunden hatte, was ihm gefiel, schaltete er es ab und verfiel in Schweigen. Aber es dauerte nicht lange, bis Scratch wieder anfing, Selbstgespräche zu führen.

»Ich hätte ihm den Hals umdrehen sollen, als ich noch die Gelegenheit dazu hatte«, murmelte er. »Hätte ich dieses verfluchte Haus doch niemals betreten!«

Von wem spricht er? Und welches Haus hätte er niemals betreten sollen? Redet er von Crouch Hollow?

»Aber das ist mal wieder typisch für mein verpfuschtes Leben. Armer, armer Icarus. Ein Pechvogel bist du. Nie läuft auch mal etwas glatt für dich. Ständig rackerst du dich für andere ab und hast selbst nichts davon.« Er seufzte und schwieg einen Moment, bis der nächste vor Selbstmitleid triefende Redeschwall aus ihm hervorbrach. »Wer hätte denn auch ahnen können, dass Daddy so ein Anwesen besaß? Wer hätte je gedacht, dass er es mir vererben würde? Und anfangs hat es sich ja auch großartig angehört… aber dann! Wie dumm ich war! Ich hätte alles verkaufen sollen, ich hätte Millionen machen können! Aber nein! Icarus Scratch hat einfach nie Glück im Leben. Ich wette, das hat dieser blasenschwache, gehässige Greis von Anfang an so geplant. Ich wette, er wusste ganz genau, dass Grendel dort oben auf dem Dachboden hockte und nur darauf wartete, dass der arme, ahnungslose Icarus über ihn stolperte. Ich hätte ihm gleich den Hals umdrehen und das Haus verkaufen sollen. Dann wäre ich jetzt wenigstens reich!«

Eine Weile war er wieder still, dann stieß er wütend hervor: »Ich kann nur hoffen, dass es das alles wert ist. Das ist nämlich mein verdammtes Geld, das in dem Laden steckt und in der verdammten Druckerei und dem verdammten Comic! Und was hab ich bis jetzt davon gehabt? Nichts! Keinen verdammten Penny! Wir drucken einen Comic und sorgen dafür, dass sich die Leute darum reißen, und was machen wir damit? Wir verschenken ihn! Und wer hat die ganze Arbeit? Wer muss ständig mit den verfluchten Zeichnungen hin- und herfahren, Tag für Tag im dunklen Laden stehen und dafür sorgen, dass niemand hinter unser Geheimnis kommt? Icarus Scratch! Ich kann nur hoffen, dass es die Mühe wert ist und dass Tall Jake sein Versprechen hält und mir gibt, was mir zusteht. Wir Scratches sind nämlich bekannt dafür, dass wir ein Elefantengedächtnis haben. Oh ja. Wir vergessen niemals! Tall Jake sollte wissen, dass man sich Icarus Scratch lieber nicht zum Feind macht!«

Er schnaubte empört, sagte aber kurz darauf in versöhnlicherem Tonfall: »Ein Gutes hat die Sache immerhin. Wenigstens das Personal ist billig!« Er stieß ein keckerndes Lachen aus. Dann schaltete er das Radio wieder ein, fand einen Jazzsender, der ihm offensichtlich zusagte, und schwieg für den Rest der Fahrt.

2

Alicia konnte hören, dass es immer noch stark regnete. Irgendwann bogen sie von der Autobahn auf eine etwas holperigere Straße ab. Der Wagen fuhr viele Kurven und bremste immer wieder ab. Alicia nahm an, dass sie jetzt außerhalb der Stadt waren und über Landstraßen fuhren. Sie versuchte sich auf jedes Detail zu konzentrieren, um so viel wie möglich mitzubekommen, außerdem half es ihr, einen halbwegs kühlen Kopf zu bewahren und vor Panik nicht hysterisch zu werden.

Auf einmal fuhr Scratch den Wagen rechts ran und zog die Handbremse. Alicia hörte, wie er sich im Sitz umdrehte, und spürte im nächsten Moment seine Hand auf ihrem Rücken! Ihr blieb beinahe das Herz stehen. Scratch griff nach seinem Mantel.

Als Nächstes merkte sie, wie der Wagen leicht hin- und herschaukelte, und hörte, wie Scratch sich den Mantel ächzend anzog. Lautlos stieß sie den angehaltenen Atem aus. Er hatte sie nicht bemerkt! Sie konnte ihr Glück kaum fassen.

Scratch stieg aus dem Wagen und schlug die Tür hinter sich zu. Alicia hörte Schritte und gedämpfte Stimmen. Sie nahm all ihren Mut zusammen, hob die Decke ein paar Zentimeter an und spitzte die Ohren.

Obwohl wegen des trüben Regenwetters nur dämmeriges Licht in den Wagen fiel, musste sie blinzeln, als die ungewohnte Helligkeit ihre Augen traf. Sie lauschte auf die Stimmen, um sich zu vergewissern, dass Scratch nicht in der Nähe stand. Aber er und derjenige, mit dem er sich unterhielt, waren so weit vom Wagen entfernt, dass sie nicht verstand, worüber sie redeten. Mutig geworden hob sie den Kopf und spähte aus dem Seitenfenster.

Der Wagen parkte vor einem riesigen gusseisernen Tor, das in eine hohe rote Backsteinmauer eingelassen war. Es wirkte wie die Einfahrt zu einem herrschaftlichen Anwesen, nur dass das Tor völlig verrostet und von Kletterpflanzen überwuchert war. Links davon stand ein verfallenes Pförtnerhäuschen. Riesige, alte Bäume verdeckten den Blick auf die Einfahrt und hinter der Mauer schloss sich ein dichter Wald an.

Scratch stand mit einem anderen Mann im strömenden Regen vor dem Pförtnerhaus. Alicia nahm an, dass es sich um eine Art Wachmann handelte. Er trug einen grünen Regenmantel mit Kapuze und kehrte ihr den Rücken zu. Dafür sah Alicia Icarus Scratch jetzt zum ersten Mal von vorn und ihr lief ein kalter Schauder über den Rücken. Sein teigiges aufgedunsenes Gesicht war völlig unbehaart. Er hatte weder Augenbrauen noch Wimpern, sodass er aussah wie eine unfertige Schaufensterpuppe.

Als der Pförtner kurz darauf den Kopf drehte, konnte sie auch sein Gesicht sehen. Er hatte einen schmalen Kopf mit Pferdegebiss und eine krumme Hakennase, sah aber– abgesehen davon, dass er ziemlich hässlich war– völlig normal aus. Dann trieb eine heftige Windböe den Regen gegen das Wagenfenster und durch die an der Scheibe herablaufenden Schlieren blickte Alicia für den Bruchteil einer Sekunde in ein verrunzeltes Fratzengesicht mit Reißzähnen und horizontal geschlitzten Augen wie die einer Ziege.

Entsetzt sog sie die Luft ein. Was war das?

Einen Moment später deutete Scratch auf die Mauer und die dahinterliegenden Bäume und sagte etwas, woraufhin die beiden auf das Auto zuschlenderten. Alicia duckte sich hastig und zog die Decke über sich. Die Tür wurde aufgerissen und Scratch setzte sich wieder hinters Steuer.

»Ich möchte, dass Sie in der nächsten Zeit ganz besonders gut aufpassen, hören Sie? Irgendjemand ist in unser Haus in Kensington eingedrungen, und wir wissen nicht, welche Informationen er dort gefunden hat. Es könnte sein, dass er weiß, wo Crouch Hollow liegt, und bereits auf dem Weg hierher ist.«

»Machen Sie sich da mal keine Sorgen«, versicherte ihm der Pförtner mit näselnder Stimme. »Die Viecher im Wald werden jedem, der über die Mauer klettert, alle Glieder einzeln herausreißen und anschließend genüsslich verspeisen. Der einzig sichere Weg nach Crouch Hollow führt durch dieses Tor und das lasse ich nicht aus den Augen.«

»Das will ich auch hoffen«, knurrte Scratch und zog die Wagentür zu. Alicia hörte ein metallisches Quietschen, als das Eisentor geöffnet wurde, dann startete Scratch den Wagen und fuhr langsam hindurch.

Alicia kauerte regungslos unter der Decke und hatte die Augen fest zugekniffen, aber das Gesicht des Pförtners hatte sich tief in ihre Netzhaut eingebrannt. Nicht zum ersten und– wie sie ahnte– bestimmt auch nicht zum letzten Mal wünschte sie sich, sie hätte sich niemals darauf eingelassen, Seth zu helfen.

Nach ein paar Minuten Fahrt hielt Scratch wieder an, öffnete die Tür und stieg aus. Angestrengt lauschte Alicia den sich entfernenden Schritten auf dem Kiesweg nach, bis sie verklungen waren und nur noch der Regen zu hören war, der weiter erbarmungslos auf das Autodach trommelte.

Trotzdem blieb Alicia noch eine Weile bewegungslos in ihrem Versteck sitzen. Sie konnte kaum glauben, dass sie es tatsächlich geschafft hatte, sich die ganze Fahrt über im Wagen zu verstecken, ohne entdeckt zu werden, und musste sich schwer zusammenreißen, um vor lauter Angst und Erschöpfung nicht loszuheulen. Aber was jetzt? Sie konnte sich schließlich nicht ewig hier verstecken. Außerdem war ihre Mission noch lange nicht beendet. So schnell durfte sie nicht aufgeben, dafür war sie jetzt schon viel zu weit gekommen. Sie würde noch einmal all ihren Mut zusammennehmen müssen.

Sobald sie sich sicher war, dass Scratch wirklich weg war, warf sie die Decke von sich und spähte aus dem Fenster. Der Wagen parkte vor einem riesigen Backsteingebäude, das aussah, als wäre es früher einmal ein Krankenhaus oder ein Sanatorium gewesen. Die Fenster waren blind und an der Fassade rankten sich Kletterpflanzen empor. Die Steine waren mit Moos und Flechten bewachsen und der Putz bröckelte. In der Einfahrt lagen zerbrochene Schindeln, die vom Dach heruntergeweht worden waren. Alles in allem sah der Bau ziemlich heruntergekommen aus.

Vor dem Gebäude befand sich ein weitläufiger, aber vollkommen verwilderter Park, in dem das Gras hüfthoch stand. Das gesamte Grundstück war von dicht stehenden Bäumen umgeben, deren Äste sich unter der Last des starken Regens bogen und deren Blätter unheilvoll rauschten.

Alicia öffnete die Tür, kletterte aus dem Wagen, streckte ihre schmerzenden Glieder und blickte sich dann ängstlich um. Nirgendwo ein Lebenszeichen.

Schnell huschte sie zum überdachten Eingangsportal des Hauses und drückte die Klinke der schweren Eichentür hinunter. Sie war unverschlossen und ließ sich mit einem leisen Knarren öffnen. Mit klopfendem Herzen trat sie ins Haus.

3

Alicia stand in einem großen, halbrunden Raum, der früher wohl einmal der Empfangsbereich gewesen war. Hinter einer Theke befanden sich verstaubte Regale, in denen sich alte Ordner und Unterlagen stapelten. Es war kalt und zugig und ein unangenehm modriger Geruch lag in der Luft. Von der Decke tropfte Wasser, das sich in kleinen Lachen auf dem Boden sammelte.

Von der Eingangshalle gingen mehrere Türen ab, aber nur zu einer davon führte ein Pfad aus feuchten Fußspuren. Alicia zögerte. Scratch zu folgen, bedeutete, mit ihrem Leben zu spielen, aber wenn sie mehr über die geheimnisvolle Comicwelt herausfinden wollte, war das die einzige Möglichkeit.

Auf Zehenspitzen lief sie zu der mit Metallblech beschlagenen Tür und öffnete sie vorsichtig. Sie führte in einen Flur mit stockfleckigen Wänden hinaus, von denen der Putz abbröckelte. Der Boden sah aus, als wäre er seit einer Ewigkeit nicht mehr gefegt worden. Die hintere Hälfte des Flurs war durch ein massives Metallgitter vom vorderen Teil abgetrennt. In das Gitter war eine Tür eingelassen, die jedoch nicht verschlossen war. Dahinter führte der Flur an einer Reihe von Türen entlang, die mit kleinen, runden Fensterchen versehen waren. Durch ein Bullauge lugte Alicia in eines der winzigen Zimmerchen: kahle, mit Kritzeleien bedeckte Wände und ein fest mit der Wand verschraubtes Bett ohne Matratze. Es sah aus wie eine Gefängniszelle. Aber keine von ihnen schien belegt zu sein.

Was war das für ein merkwürdiges Haus?

Plötzlich hörte sie Stimmen durch die leeren Gänge des Gebäudes hallen und ging ihnen nach. Nach ein paar Metern kam sie an einem Raum vorbei, der wie ein Schwesternzimmer aussah, dahinter machte der Flur eine Biegung. Alicia spähte um die Ecke und blickte durch eine offen stehende Flügeltür am Ende des Ganges in einen großen Saal, vermutlich eine Art Gemeinschaftsraum. Sie konnte nur wenig erkennen, weil durch die verschmutzten Fenster kaum Tageslicht hereinfiel. Als sie sich etwas weiter vorbeugte, kam eine fette Gestalt in ihr Blickfeld.

Icarus Scratch. Er unterhielt sich mit jemandem. Alicia blieb wie angewurzelt stehen und lauschte.

»Ich weiß genau, dass sie es waren. Diese widerwärtigen, nichtsnutzigen Blagen– Seth Harper und Kady Blake!«

»Er könnte es gewesen sein, aber sie ganz bestimmt nicht«, fauchte eine Frau, die Alicia nicht sehen konnte. »Sie ist die ganze Zeit über in Malice gewesen und macht uns dort erhebliche Schwierigkeiten.«

»Hätte ich die Kleine doch nur früher erkannt, als sie damals in meinen Laden kam! Ich hatte gleich das Gefühl, dass ich sie schon einmal in einem der Comics gesehen hatte, aber es ist nun mal nicht so einfach, jemanden wiederzuerkennen, den man nur von einer Zeichnung kennt…« Scratch schnaubte und ging aufgebracht im Zimmer auf und ab. »Trotzdem frage ich mich, wie ich sie überhaupt vergessen konnte. Immerhin ist sie die Anführerin von Havoc gewesen!«

»Und nach der kleinen Vorstellung im Terminus ist davon auszugehen, dass sie es bald wieder sein wird.«

Scratch stieß einen unterdrückten Fluch aus.

»Wenigstens wissen wir, dass sie jetzt beide in Malice sind«, sagte die Frau. »Hier werden sie uns jedenfalls erst einmal keinen Ärger mehr machen können.«

»Aber was, wenn sie Komplizen haben, Miss Benjamin? Diesem Seth ist es vor ein paar Tagen in Hathern irgendwie gelungen, dem Schleicher zu entgehen. Das kann er unmöglich ohne fremde Hilfe geschafft haben.«

Der Schleicher? Meinten sie damit die monströse Raubkatze? Und wer ist diese Miss Benjamin?, fragte sich Alicia verzweifelt und verfluchte sich dafür, Seth nicht noch mehr Fragen gestellt zu haben, als sie die Gelegenheit dazu gehabt hatte. Aber sie wusste, warum sie es nicht getan hatte. Weil sie es nämlich gar nicht so genau hatte wissen wollen.

»Da könnten Sie Recht haben«, sagte Miss Benjamin nachdenklich. »Als ich im Internet mit ihm geplaudert habe, war er jedenfalls nicht allein.«

Alicia stockte der Atem. Dann war Miss Benjamin also Mim aus dem Chatroom! Sie erinnerte sich noch allzu gut daran, dass sie Seth damit gedroht hatte, ihn zu töten– und jeden, der versuchen sollte, ihm zu helfen

Sie dachte an das, was Philip gesagt hatte, als sie ihn gefragt hatten, wer Mim war. »Lass dich bloß nicht auf Mim ein. Die ist immer online und geht allen tierisch auf die Nerven, weil sie ständig versucht, einen dazu zu überreden, sich im Real Life mit ihr zu treffen, um Infos über Malice auszutauschen. Ich glaub, die ist ziemlich einsam und hat keine Freunde.«

Wenn er wüsste, wie sehr er sich geirrt hatte! Alicia fragte sich, was aus den Jugendlichen geworden war, die sich darauf eingelassen hatten, sich im wahren Leben mit ihr zu treffen.

»Falls sie es waren, die in unser Haus eingebrochen sind, ist es durchaus möglich, dass sie auch die Adresse der Druckerei gefunden haben«, sagte Icarus Scratch mit besorgter Stimme. »Möglicherweise wissen sie inzwischen sogar, wo Crouch Hollow liegt. Wenn sie genug herausfinden, kommen sie vielleicht auf die Idee, Erwachsene einzuschalten, und dann sieht es für uns gar nicht gut aus.«

Sie haben den Shard! Das macht mir viel grössere Sorgen.

Alicia durchrieselte ein eiskalter Schauder. Diese Stimme! Sie klang wie das Röcheln aus einer Gruft.

»Der Shard ist in Malice, Tall Jake«, erwiderte Scratch. »Das ist Ihre Abteilung, nicht meine. Ich kümmere mich nur um den Comic.«

Alicias Knie zitterten. Tall Jake? Tall Jake befindet sich in diesem Zimmer?

»Wenn die Erwachsenen herausfinden, was wir hier tun, wird es bald keinen Comic mehr geben«, fuhr Scratch fort. »Und ohne den Comic haben wir nichts mehr in der Hand, um die Gerüchte weiterzuschüren. Wenn keine Gerüchte mehr in Umlauf sind, werden die lieben Kleinen bald nicht mehr an Sie glauben, Tall Jake. Und Sie wollen doch, dass sie an Sie glauben, nicht wahr? Sie sind sogar darauf angewiesen

»Was können die Erwachsenen schon ausrichten?«, fragte Miss Benjamin. »Wie sollten sie uns jetzt noch aufhalten können? Das ist völlig absurd, Scratch.«

»Ach ja? Und wie würden Sie denen erklären, wo wir die Arbeiter herhaben, die in der Druckerei beschäftigt sind? Eine Meute hirntoter Zombies, die von den Fleischzerteilern im Haus des Todes so umoperiert wurden, dass sie weder schlafen noch essen müssen und täglich vierundzwanzig Stunden durcharbeiten können? Ich brauche Ihnen ja wohl nicht zu sagen, dass das gegen die hier geltenden Arbeitsschutzbestimmungen verstößt.«

»Ach, Ihre Welt und Ihre dummen Gesetze«, schnaubte Miss Benjamin. »Die politischen Führer hier sind einfach viel zu verweichlicht.«

Scratch ignorierte ihren Kommentar. »Sollten die Eltern auch nur den leisesten Verdacht hegen, ihre kostbaren Lieblinge könnten durch den Comic verdorben werden, wird es einen Riesenskandal geben. Sämtliche Medien würden darüber berichten und am Ende könnten wir einpacken. So funktioniert diese Welt nun mal, Miss Benjamin. Für die Menschen gibt es nichts Schöneres, als wenn sie sich über etwas aufregen können.«

»Lächerlich!«

»Es ist eine Tatsache, Miss Benjamin. Und wenn Sie hier geboren wären, dann wüssten Sie das auch. Aber das sind Sie nicht und genau aus diesem Grund brauchen Sie mich.«

Sie haben mein Vertrauen, Scratch. Bisher haben Sie uns wertvolle Dienste geleistet. Dank Ihrer Idee mit dem Comic glauben mittlerweile so viele junge Menschen an Malice, dass es immer mehr Schnittstellen gibt, an denen unsere Welt auf die Ihre überzugreifen beginnt. Und mit jedem Gläubigen, der neu hinzukommt, wächst meine Macht.

Hinter der halb geöffneten Tür huschte ein langer, dünner Schatten durch den Raum. Alicia presste sich eine Hand auf den Mund. Tall Jake! Obwohl sie nur für den Bruchteil einer Sekunde einen Blick auf den Dreispitz und den langen Mantel mit dem hochgeschlagenen Kragen erhaschte, traf sie der Anblick mit der Wucht eines Hammerschlags. Er war wie eine verzerrte Spiegelung der Realität. Etwas, was es in Wirklichkeit gar nicht geben dürfte.

Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis ich stark genug bin, um die Kluft zwischen hier und Malice endgültig zu überbrücken und meine Armee einzuschleusen. Sobald alle meine Oger und dunklen Dämonen Fleisch und Blut geworden sind und ich sie über meine geheimen Routen aus dem Haus des Todes in diese Welt entlasse, werden ALLE hier an mich glauben.

»Ja. Und dann werde ich endlich meine Belohnung bekommen«, erinnerte Scratch ihn. »Sie haben mir die Herrschaft über die Britischen Inseln versprochen, daran werden Sie sich doch halten?«

Alles wird so kommen, wie wir es vereinbart haben, Scratch. Sie können schon bald nach Gutdünken über Grossbritannien herrschen. Schon sehr bald.

Scratch kicherte wie ein kleines Mädchen. »Ich habe mir schon überlegt, worin meine erste Amtshandlung bestehen wird. Ich werde sämtliche meiner ehemaligen Mitschüler holen lassen, ihnen höchstpersönlich jedes einzelne Haar am Körper ausreißen und sie dann zwingen, nackt durch die Straßen zu laufen und sich zum öffentlichen Gespött zu machen. Ha! Wer zuletzt lacht, lacht am besten!«

»Ihre kleinlichen Rachegelüste sind so ermüdend«, gähnte Miss Benjamin.

Sie hatte kaum den Mund geschlossen, als ein Schatten blitzschnell durchs Zimmer stürzte. Eine Sekunde später drang ein ersticktes Röcheln aus Miss Benjamins Kehle.

Mach dich nicht über ihn lustig, drohte Tall Jake ihr mit Grabesstimme. Als Scratch mich gefunden hat, war ich kaum mehr als ein schwacher Schatten meiner selbst. Nichts weiter als eine Fantasie des schwachsinnigen Gottes, der dort oben auf dem Dachboden haust. Aber dann haben wir einen Pakt geschlossen– Scratch und ich. Er versprach mir, Menschen zu finden, die an mich glauben, wenn ich ihn im Gegenzug zum Herrscher dieses Landes mache, sobald ich die Macht über diese Welt besitze. Ohne ihn gäbe es den Comic nicht. Ohne ihn hätte ich nicht die Kraft gehabt, dich aus Schlamm und Blut und Staub zu erschaffen. Du verdankst ihm dein Leben!

»Vergeben Sie… mir«, krächzte Miss Benjamin.

»Ich vergebe Ihnen«, sagte Scratch großzügig. »Bitte töten Sie sie nicht, Tall Jake. Im Haus sieht es so schon unappetitlich genug aus. Da können wir nicht auch noch herumliegende Leichen gebrauchen.«

Ein dumpfer Schlag war zu hören, gefolgt von keuchenden Lauten. Offensichtlich hatte Tall Jake Miss Benjamin zu Boden fallen lassen.

Alicia trat leise den Rückzug an. Sie ertrug es keine Sekunde länger, in der Nähe dieses furchterregenden Mannes zu bleiben. Außerdem wusste sie jetzt, wo sie hingehen musste. Das war jetzt schon das zweite Mal, dass einer von ihnen jemanden auf dem Dachboden erwähnte. Sie war sich ziemlich sicher, dass sie dort oben auf etwas stoßen würde, was sie weiterbringen würde.

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