Im Zeichenatelier

Havoc_257.tif

1

Alicia drehte leise den Schlüssel im Schloss und öffnete dann vorsichtig die Tür. Dahinter lag ein hoher, schmaler Treppenaufgang, der so dunkel war, dass die Stufen im schwarzen Nichts zu verschwinden schienen.

Diese Treppe führte bestimmt zum Dachboden hinauf.

Auf ihrem Weg in das oberste Stockwerk war ihr niemand mehr begegnet. Crouch Hollow war offenbar völlig verlassen. Außer Icarus, Miss Benjamin und Tall Jake schienen hier nur noch Spinnen und Mäuse zu leben. Und die Schatten einer grausigen Vergangenheit.

Falls dieses Haus tatsächlich einmal ein Krankenhaus gewesen war, ähnelte es in nichts den Krankenhäusern, die Alicia kannte. Auf allen Stockwerken gab es vergitterte Zellen. Sie hatte einen Raum mit einer hölzernen Liege gesehen, an der lederne Gurte befestigt waren. Darauf lag eine Kopfbedeckung aus Metall, von der Drähte zu einer altmodischen Maschine mit vielen Schaltern und Hebeln führten. Wahrscheinlich hatte sie dazu gedient, den Patienten Elektroschocks zu verpassen. Alicia war auch an einem schäbigen Autopsiesaal vorbeigekommen, in dessen Abflüssen immer noch altes, getrocknetes Blut geklebt hatte.

Auf dem Haus lastete eine schwere, düstere Atmosphäre, als wären die Qualen, die die Menschen hier erlitten hatten, noch spürbar. Alicia hatte beinahe das Gefühl, immer noch die Schreie der Gepeinigten zu hören, wenn sie in die Stille lauschte.

Schaudernd trat sie in das kleine Treppenhaus und tastete die Wand nach einem Lichtschalter ab. Ihre Finger fanden einen kleinen Messinghebel und legten ihn um.

Die Dunkelheit wich vor dem Licht zurück– ja, sie floh geradezu vor der Helligkeit wie ein Schwarm Küchenschaben, der sich eilig in Sicherheit brachte. Es klackerte und raschelte und scharrte, als würden Millionen winziger Klauen über den Boden huschen.

Genau wie die Ratten auf Philip Gormleys Dachboden.

Alicia erstarrte. Die Schatten zogen sich zurück, drückten sich in Ecken und verkrochen sich in den Holzritzen der Treppenstufen.

Am Ende der Treppe befand sich eine weitere Tür. Von der Decke baumelte eine flackernde Glühbirne.

Alles in Alicia sträubte sich dagegen, die Treppe hinaufzusteigen. Aber hatte sie denn überhaupt eine andere Wahl? Sie war hier in Crouch Hollow, wo Tall Jake offensichtlich ein- und ausging, praktisch gefangen. Ihre einzige Fluchtmöglichkeit bestand darin, sich noch einmal in Icarus Scratchs Wagen zu verstecken, wenn er in die Stadt zurückfuhr, und zu hoffen, dass er sie auch diesmal nicht bemerken würde. Aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie ein zweites Mal so viel Glück haben würde.

Von jetzt an kann ich nur noch vorwärtsgehen, es gibt kein Zurück mehr, hatte Seth zu ihr gesagt, als sie sich am Bahnhof in Birmingham voneinander verabschiedet hatten. Damals hatte sie ihn nicht verstanden. Aber jetzt wusste sie, was er damit gemeint hatte. Genau wie er hatte sie sich auf das Abenteuer eingelassen und jetzt gab es auch für sie kein Zurück mehr.

Es wird alles gut gehen, sprach sie sich selbst Mut zu. Als kleines Mädchen hattest du auch Angst vor der Dunkelheit und hast sie überwunden. Es sind doch nur ein paar Meter und dann bist du schon oben.

Sie holte tief Luft und setzte wie in Zeitlupe den Fuß auf die erste Stufe. Nichts passierte. Um sie herum war zwar nach wie vor unruhiges Scharren zu hören, doch sonst blieb alles still.

Mutig nahm sie die nächsten beiden Stufen. Immer noch drückten sich die Schatten in die Ecken.

Nicht stehen bleiben. Und dreh dich auf keinen Fall um. Du hast es beinahe geschafft.

Langsam schlich sie weiter, als plötzlich mit einem lauten Rums die Tür hinter ihr ins Schloss fiel.

Sofort wurde das Klackern wieder lauter. Es klang wie das Zähneklappern eines hungrigen Raubtiers. Alicia wirbelte herum und stellte entsetzt fest, dass sich die Dunkelheit in den Ecken regte und wie schwarze Tinte über den Boden auf sie zugeflossen kam.

Panisch stürzte sie die Treppe hinunter, während die aus allen Ritzen sickernde Dunkelheit bereits an ihren Stiefeln leckte und versuchte, sie auszubremsen. Unten angekommen, stürzte Alicia zum Türknauf, drehte und rüttelte daran, aber die Tür wollte sich nicht mehr öffnen lassen. Verzweifelt warf sie sich mit der Schulter dagegen. Vergeblich.

Das scharrende, klickende Geräusch schwoll immer lauter an, die Schwärze breitete sich im gesamten Treppenaufgang aus, arbeitete sich die Wände hoch, ergoss sich über die Decke und kroch am Kabel hinab auf die Glühbirne zu.

Alicia presste sich die Hände auf die Ohren und blickte sich gehetzt um. Hier unten kam sie nicht weiter, also blieb ihr nichts anderes übrig, als doch wieder nach oben zu laufen. Sie war ungefähr auf der Hälfte der Treppe angekommen, als über ihr plötzlich ein lauter Knall ertönte und die Glühbirne erlosch.

Jetzt herrschte totale Finsternis. Alicia lief in blinder Verzweiflung weiter, glitt aus und stürzte. Die Tasche rutschte ihr von der Schulter und polterte die Stufen hinunter. Und dann berührten ihre Finger etwas, was sich bewegte, es fühlte sich an wie ein dicker Teppich aus winzigen Tierchen. Hastig zog sie die Hand zurück, aber da spürte sie schon, wie winzige Beinchen über ihren Unterarm krabbelten und sich von dort in rasender Geschwindigkeit auf ihren ganzen Körper verteilten.

Sie schrie hysterisch, während sie verzweifelt versuchte, die Insekten von sich abzuschütteln, aber es waren einfach zu viele. Sie krabbelten in ihre Stiefel, wuselten durch ihre Haare, krochen über ihr Gesicht. Wimmernd schleppte sie sich weiter die Stufen hinauf.

Alicia hatte sich nie vorstellen können, wie es sich anfühlte, vor lauter Angst wahnsinnig zu werden– jetzt wusste sie es.

Mit letzter Kraft warf sie sich gegen die Tür und tastete blind nach dem Knauf. Aber kaum hatte sie ihn gefunden und die Hand darum geschlossen, ließ sie ihn schreiend wieder los– er war über und über mit den widerlichen Krabbeltierchen bedeckt.

Sie hämmerte heulend gegen die Tür, schrie und kreischte wie von Sinnen. Dann verstummte sie plötzlich und fing an zu würgen und zu spucken. Ihr Mund war voller Insekten. Sie wuselten über ihren Gaumen, ihre Zunge, krabbelten ihre Kehle hinunter. Die Dunkelheit war jetzt in ihr, schwappte in ihre Lunge hinunter, flutete in ihren ganzen Körper hinein, bis sie glaubte, daran zu ersticken.

Sie würde sterben.

Und dann wurde auf einmal die Tür aufgerissen und sie stolperte nach vorn. Durch den schwarzen Insektenschleier, der ihre Sicht trübte, blickte sie in einen dämmerig schwachen Lichtschein. Licht! Plötzlich beugte sich eine riesige, massige Gestalt über sie, griff nach ihrem Arm und riss sie mit einem so heftigen Ruck zu sich herein, dass ihr die Brille von der Nase fiel.

Sie stürzte schwer auf Hände und Knie, hörte, wie die Tür hinter ihr zugeschlagen wurde, und rang keuchend nach Atem. Aber da war keine Luft mehr in ihrer Lunge, nur noch Schwärze. Im nächsten Moment zogen sich ihre Eingeweide zusammen und sie erbrach sich auf den Holzdielen. Was jedoch aus ihrem Mund strömte, war kein Erbrochenes, sondern nichts als wuselnde schwarze Dunkelheit. Eine Dunkelheit, die sich wie Teer über den Boden ergoss und sich trippelnd ausbreitete.

Der Anblick war zu viel für sie. Wieder umfing sie Dunkelheit– aber diesmal eine gnädigere– und dann verlor sie das Bewusstsein.

2

Als Alicia die Augen aufschlug, wusste sie im ersten Moment nicht, wo sie war. Sie lag auf einer weichen Unterlage und war in grobe Wolldecken gewickelt. Ein muffiger Geruch stieg ihr in die Nase und sie hatte einen widerlich bitteren Geschmack im Mund. Blinzelnd sah sie sich um, konnte aber nur verschwommene Umrisse erkennen. Offenbar lag sie in einem Bett, das sich bei genauerem Hinsehen allerdings als auf dem Boden liegende, durchgewetzte Matratze ohne Laken entpuppte.

Vorsichtig richtete sie sich auf und hätte sich beinahe den Kopf an der Dachschräge über ihr gestoßen. Sie befand sich in einer Art Schlafhöhle, die durch mehrere nebeneinanderstehende Staffeleien und Leinwände vom übrigen Teil des Raums abgetrennt war. Überall standen Malutensilien: Farbtuben und -dosen, mit Terpentin gefüllte Einmachgläser, aus denen Pinsel ragten, Stifte und Kreiden, Berge zusammengerollter Skizzen. Es stank durchdringend nach Schweiß, Lösungsmittel und Ölfarbe.

Aber alles war besser als der Albtraum, aus dem sie gerade erwacht war. Bei der Erinnerung an die klamme, klebrige Dunkelheit, die sie zu ersticken gedroht hatte, schüttelte es sie wieder vor Entsetzen.

Es ist vorbei, sagte sie sich. Wo auch immer du bist und was auch immer passiert ist– jetzt ist es vorbei.

Sie ließ sich auf die Matratze zurücksinken. Eine Weile lag sie einfach nur da und atmete. Sie spürte blaue Flecken am ganzen Körper, wo sie sich bei ihrer panischen Flucht vor der wimmelnden Schwärze gestoßen hatte, und ihre Schulter schmerzte von dem heftigen Ruck, mit dem sie in Sicherheit gezerrt worden war.

Ich bin in Sicherheit, dachte sie. Irgendjemand hat mich gerettet. Aber wer? Und warum?

Hinter der Wand aus Staffeleien hörte sie ein schabendes Geräusch, das sie sofort erkannte. So klang es, wenn ein Stift über Papier kratzte. Dann ertönte ein Grunzen wie von einem Tier.

Vorsichtig schob sie die Decke von sich. Obwohl sie wahnsinnige Angst hatte, zwang sie sich dazu, logisch zu denken. Warum war sie gerettet und sogar fürsorglich in ein Bett gelegt worden? Wahrscheinlich wollte derjenige, der sie gerettet hatte, ihr nichts Böses– aber wahrscheinlich hieß nicht, dass sie sich wirklich darauf verlassen konnte. Sie tastete vergeblich nach ihrer Brille. Dann fiel ihr wieder ein, dass sie heruntergefallen war, bevor sie das Bewusstsein verloren hatte. So geräuschlos wie möglich stand sie auf und schlich sich auf Zehenspitzen durch die Unordnung, peinlich darauf bedacht, nichts umzustoßen. Dann spähte sie vorsichtig an einer der Staffeleien vorbei in den Raum.

Der Dachboden war riesig und durch die langen, in die Dachschrägen eingelassenen Fenster fiel dämmeriges Licht herein. Also musste es bereits später Nachmittag sein. Da draußen alles still war, hatte es wohl inzwischen auch aufgehört zu regnen.

Unter einem der Fenster bewegte sich etwas. Aus der Entfernung konnte sie ohne Brille nur verschwommene Umrisse erkennen, aber aus denen schloss sie, dass es ein Mensch war. Genauer gesagt, ein Koloss von einem Menschen, der auf einem Hocker vor einem schräg gestellten Tisch saß und… zeichnete.

Das ist er, dachte sie. Das muss Grendel sein.

Ihr lief es kalt über den Rücken, als ihr schlagartig wieder bewusst wurde, wo sie sich befand. Von all den Geheimnissen um Malice war dies hier das bestgehütete. Seit sie das erste Mal von dem Comic gehört hatte, wusste sie, dass Grendels Identität Gegenstand leidenschaftlicher Diskussionen unter den Malice-Fans war. Und jetzt war sie mit dem geheimnisvollen Schöpfer des Comics in ein und demselben Raum. Sie fragte sich, ob irgendjemand außer den engsten Vertrauten von Tall Jake ihn jemals zu Gesicht bekommen hatte.

Mit zusammengekniffenen Augen sah Alicia sich weiter auf dem Dachboden um. Überall lagen zerknüllte Zeichenblätter, verschmierte Lumpen und Teller mit verschimmelten Essensresten herum. Im hinteren Teil des Raums sah sie ein braunes Rechteck in der Wand, das die Tür sein musste. Das war vermutlich der einzige Weg, der nach draußen führte, aber sie wusste nur allzu gut, was dahinter lauerte. Die Treppe und die alles verschlingende Dunkelheit. Nichts würde sie dazu bringen, jemals wieder durch diese Tür zu gehen.

Alicia zuckte zusammen, als Grendel wieder ein Geräusch von sich gab, das wie das Grunzen eines Schweins klang. Aber er schien noch nicht bemerkt zu haben, dass sie aufgewacht war.

Sie räusperte sich und sagte leise: »Hallo?«

Jedenfalls versuchte sie es, aber ihre Kehle war so ausgetrocknet, dass nur ein heiseres Krächzen herauskam. Sie schluckte und versuchte es noch einmal.

»Hallo?«

Grendel brummte etwas und zeichnete unbeirrt weiter. Er schien sie überhaupt nicht wahrzunehmen.

Alicia ging ein paar Schritte auf ihn zu. Verwundert fragte sie sich, warum er sie vor dem sicheren Tod bewahrt hatte, nur um sie jetzt zu ignorieren.

Als sie sich ihm ängstlich näherte, nahmen seine Umrisse allmählich klarere Formen an. Er saß mit dem Rücken zu ihr. Doch auch wenn sie ihn nur von hinten sah, reichte das, um ihren ersten Eindruck zu bestätigen: Grendel glich einem riesigen menschlichen Fleischberg. Den massigen Oberkörper dicht über den Zeichenblock gebeugt, wirkte er angestrengt konzentriert wie ein Riese, der versucht, einen Faden in ein Nadelöhr zu fädeln. Sein Stift glitt unablässig über das Papier und er schien völlig in seine Arbeit versunken.

Alicia trat noch einen Schritt näher an ihn heran und sah jetzt, dass sein Körper seltsam missgestaltet war. Er hatte einen Buckel und eine unnatürlich schiefe Sitzhaltung, als wäre seine Wirbelsäule verkrümmt. Seine Arme waren dick wie Baumstämme und von sehnigen Muskelsträngen überzogen.

»Hallo?«, versuchte sie es noch einmal und sagte dann zögernd: »Ich… äh… ich bin Alicia. Und Sie sind Grendel, stimmt’s?«

Grendel reagierte zwar nicht, schien sich aber auch nicht gestört zu fühlen. Sie nahm all ihren Mut zusammen und stellte sich neben ihn, um einen Blick auf seine Arbeit zu werfen. Ihr stockte der Atem.

Er zeichnete Malice. Der Stift tanzte über das Papier, auf dem in rasender Geschwindigkeit ein Comicbild nach dem anderen entstand. Anscheinend benötigte er keine Bleistiftvorzeichnung, sondern brachte alles aus dem Kopf direkt aufs Blatt. Alicia musste ihre Motive immer erst skizzieren, bevor sie sie mit Tusche nachzeichnete, sonst bekam sie die Proportionen und die Perspektive nicht richtig hin, aber Grendel hatte das offenbar nicht nötig.

Er war gerade dabei, einen Jungen mit längeren braunen Haaren zu zeichnen, der eine steile Klippe emporkletterte. Sein Gesicht war vor Todesangst verzerrt. Im nächsten Kästchen sah man, dass er von einem Monster verfolgt wurde, das wie eine Mischung aus einer Gottesanbeterin und einem Skorpion aussah, allerdings mit dem Unterschied, dass es so groß wie ein Tiger war. Alicias Augen huschten weiter über die Kästchen des Comics, bis sie sah, wie der Junge sich an einem Felsvorsprung festklammerte, der plötzlich abbrach, sodass er in die Tiefe stürzte

Sie musste den Blick abwenden. Das war nicht bloß irgendeine ausgedachte Comicgeschichte. Irgendwo in Malice war in diesem Moment tatsächlich ein Junge in den sicheren Tod gestürzt. Sie wollte gar nicht sehen, wie es weiterging.

Grendel beugte sich noch tiefer über das Papier, sodass die Stahlmine seines Tuschefüllers direkt vor seiner Nase über das Blatt kratzte. Sein Kopf war im Vergleich zu seinem Körper winzig klein, saß direkt auf seinen massigen Schultern und war bis auf ein pechschwarzes Haarbüschel vollkommen kahl. Der Schädel wirkte an einer Seite merkwürdig aufgedunsen und war von Beulen übersät.

Mitleid überfiel sie. Sie hatte noch nie einen so grausam missgestalteten Menschen gesehen.

Aber er beachtete sie immer noch nicht.

»Hallo«, sagte sie noch einmal leise und berührte ihn sanft an der Schulter.

Diesmal reagierte Grendel sofort und fuhr mit einem gereizten Knurren herum. Der Anblick seines Gesichts versetzte Alicia den nächsten Schock. Es war ebenfalls völlig deformiert und hing auf der einen Seite nach unten. Unter der von tiefen Falten durchfurchten Stirn saß ein winziges verkümmertes Auge, das andere war weit aufgerissen und blitzte wütend. Aus seinen schiefen Kiefern standen die Zähne kreuz und quer hervor. Dazu hatte er eine Hasenscharte, eine offene Spalte, die von der Oberlippe bis zur Nase reichte und ihn aussehen ließ, als würde er permanent verächtlich grinsen. Verärgert darüber, dass sie ihn beim Zeichnen gestört hatte, funkelte er sie an. Aber trotz seines monströsen Äußeren hatte Alicia keine Angst vor ihm. Aus irgendeinem Grund spürte sie, dass er nicht böse war, auch wenn sein Aussehen das Gegenteil vermuten ließ. Ihr stiegen Tränen in die Augen.

»Sie armer, armer Mann«, flüsterte sie.

Die Wut in Grendels Augen erlosch und er sah sie verblüfft an.

»Ich heiße Alicia«, stellte sie sich noch einmal vor und lächelte zaghaft.

Grendel ließ seine entstellten Augen einen Moment lang musternd über ihr Gesicht wandern, dann grunzte er kurz und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.

Alicia machte sich daran, den Dachboden nach ihrer Brille abzusuchen und wurde tatsächlich bald fündig. Wie durch ein Wunder war sie sogar heil geblieben.

Nachdem sie nun wieder alles klar erkennen konnte, stellte sie fest, dass der Dachboden sogar noch größer war, als sie ursprünglich angenommen hatte. Überall standen Leinwände herum, Gemälde von Gebäuden, Landschaften, Menschen und Monstern. Alles Szenen aus Malice. Einige waren hastig hingeworfen, andere sorgfältig in Öl ausgeführt. Dazu hing an den Wänden ein einziges Durcheinander aus Kohle- und Tuschezeichnungen, Aquarellen und Bleistiftskizzen. Die Ausbeute eines schöpferischen Geists, der sich über Papier und Leinwand ergossen hatte. Grendels überschäumende Fantasie, die sich Raum geschaffen hatte.

An der Wand lehnte ein riesiges Aquarell, auf dem ein trostloses Tal mit einer fremdartig aussehenden Stadt zu sehen war. Das Ölgemälde daneben zeigte einen dürren, hochgewachsenen Mann, der einen Dreispitz trug und einen langen Mantel mit hochgeklapptem Kragen, hinter dem sein Gesicht verborgen lag. Im Schatten des Hutes waren nur seine bösartig glitzernden Augen zu sehen. Er war in Lebensgröße gemalt und sah so unglaublich realistisch aus, dass Alicia Angst hatte, er könnte jeden Augenblick aus dem Bild treten und nach ihr greifen. Schaudernd wandte sie sich ab.

Hätte sie doch nur ihr Handy bei sich gehabt, dann hätte sie Hilfe rufen können. Aber das steckte leider in der Tasche, die sie auf der Treppe verloren hatte, und bei dem Gedanken, noch einmal dort hinauszugehen, um sie holen, begann sie am ganzen Körper zu zittern. Niemals.

Nach der anfänglichen Erleichterung machte sich allmählich wieder Unruhe in ihr breit. Auf dem Dachboden war sie zwar fürs Erste sicher, aber es gab keine Möglichkeit, von hier fortzukommen und etwas zu unternehmen. Grendel war wieder völlig in seine Arbeit versunken und schien ihre Anwesenheit schon vergessen zu haben. Ihr blieb nichts anderes übrig, als zu warten, bis er mit dem Zeichnen fertig war und dann noch einmal zu versuchen, sich mit ihm zu unterhalten.

Da sie nichts Besseres zu tun hatte, griff sie sich ein Blatt Papier von einem Stapel und einen Bleistift, setzte sich im Schneidersitz auf den Boden und begann Grendel bei der Arbeit zu zeichnen. Anfangs war es für sie nur eine Möglichkeit, die Zeit totzuschlagen, aber nach einer Weile merkte sie, dass es ihr richtig Spaß machte. Von plötzlichem Ehrgeiz gepackt, blickte sie immer wieder kurz vom Blatt auf, um Grendel in allen Details so wirklichkeitsgetreu wie möglich wiederzugeben. Bald war sie genauso in ihre Arbeit vertieft wie er und ihr Stift flog nur so übers Papier.

Das konzentrierte Zeichnen hatte eine beruhigende Wirkung auf sie und half ihr, das schreckliche Erlebnis im Treppenhaus zu verarbeiten. Auf dem Zeichenblatt hatte sie alles unter Kontrolle.

Irgendwann fiel ihr auf, dass es seltsam still geworden war, und als sie aufblickte, sah sie, dass Grendel aufgehört hatte zu zeichnen und sie nun mit neugierigem Blick beobachtete.

Sie hob das Blatt und zeigte es ihm. »Schauen Sie«, sagte sie. »Was meinen Sie? Leider habe ich Ihre Hände nicht so gut hinbekommen. Hände sind immer das Schwierigste, aber… ansonsten finde ich es eigentlich ganz gelungen.«

Er beugte sich vor, nahm ihr das Blatt aus der Hand, betrachtete es und sah sie dann verständnislos an.

»Das sind Sie!«, sagte Alicia und zeigte auf ihn.

Grendel verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. Dann brach er in ein Lachen aus, das an das heisere Grunzen eines Seehunds erinnerte. Er schien sich zu freuen. Alicia war so überrascht, dass sie auch lachen musste.

Beide verstummten abrupt, als unten am Fuß der Treppe an der Tür gerüttelt wurde.

3

Grendels Gesicht nahm schlagartig einen anderen Ausdruck an. Die Freude, die eben noch aus seinen Augen geleuchtet hatte, verwandelte sich in nackte Panik. Er sprang auf, packte Alicia grob am Arm und zog sie in eine Ecke, in der mehrere Staffeleien standen, die von einem Bettlaken verdeckt waren. Er hob das Laken an und machte ihr hektisch Zeichen. Alicia verstand sofort und kroch zwischen die Beine der Staffeleien.

Im nächsten Moment waren bereits Schritte auf der Treppe zu hören. Meine Tasche!, dachte Alicia erschrocken. Meine Tasche liegt immer noch auf der Treppe!

Grendel ließ das Laken über Alicia fallen und machte sich mit schwerfälligen Schritten daran, zu seinem Tisch zurückzukehren, als auch schon die Tür aufgestoßen wurde und Miss Benjamin in den Raum trat.

»Sie haben schon wieder vergessen, die Tür abzuschließen, Scratch!«, rief sie ärgerlich über die Schulter. »Wie oft muss ich Ihnen noch sagen, dass die Tür immer versperrt sein muss?«

Sie hielt die Tür auf, während Scratch noch keuchend die Treppe hinaufstapfte.

»Ich habe an wichtigere Dinge zu denken«, schnaufte er und schob sich an ihr vorbei in den Raum. Als er Grendel nicht an seinem Platz vor dem Zeichentisch sitzen sah, stemmte er empört die Hände in die Hüften. »Was stehst du hier rum!«, schimpfte er, ging auf ihn zu und versetzte ihm einen Schlag auf den Hinterkopf. »Geh gefälligst an die Arbeit zurück! Ich füttere dich hier nicht durch, damit du Däumchen drehen kannst, du widerwärtiges Ungetüm!«

Alicia linste unter dem Saum des Lakens hindurch und sah, wie Grendel sich eingeschüchtert duckte und zu seinem Hocker schlich. Scratch stellte sich neben ihn und betrachtete die Zeichnung, an der er gearbeitet hatte.

»Wer soll das sein?«, fragte er. »Irgendein Bengel, der eine Klippe herunterfällt? Wen interessiert das schon? Weißt du nicht, dass die Leute von Havoc den Shard haben? Zeig uns den Shard! Zeig uns ihr Versteck! Aber diesmal nicht von innen, du Idiot, sondern so, dass wir genau erkennen können, wo es sich befindet!«

Grendel blickte ängstlich zu ihm auf. Offensichtlich verstand er nicht, was Scratch von ihm wollte. Er deutete grunzend auf die Zeichnung, als wollte er sagen: Da! Sehen Sie nicht? Ich zeichne doch!

»Schwachsinnige Missgeburt!« Scratch warf verärgert die Hände in die Luft.

Alicia war entsetzt. Niemand hatte es verdient, so behandelt zu werden! Dann fiel ihr wieder ihre Tasche ein. Hatten Scratch und Miss Benjamin sie auf der Treppe gefunden? Oder war sie gar nicht mehr da gewesen? Weil die Dunkelheit sie… aufgefressen hatte?

Wenn Grendel mich nicht gerettet hätte, hätte sie mich mit Haut und Haaren verschlungen.

»Meinen Sie, er zeichnet gedankenlos, was er vor seinem inneren Auge sieht, wie ein Tier, das sich nur von seinen Instinkten treiben lässt?«, fragte Miss Benjamin. Sie war neben die beiden getreten, um sich die Zeichnung ebenfalls anzusehen. »Oder kann er sich in der Welt seiner Fantasie nach Belieben bewegen und entscheiden, was er sehen und zeichnen will?«

»Woher soll ich wissen, was in ihm vorgeht?«, stöhnte Scratch. »Diese erbärmliche Kreatur ist undurchschaubar! Seit ich diese Bruchbude von einer Irrenanstalt geerbt habe und ihn hier oben malend auf dem Dachboden gefunden habe, hat er kein einziges Wort gesprochen. Er macht nichts anderes, als zu zeichnen, und legt nur eine Pause ein, um etwas zu essen oder wenn ich ihn mit nach unten nehme, damit er seine widerwärtigen körperlichen Bedürfnisse verrichten kann. Ich weiß nicht, wo er herkommt oder wer er ist. Vermutlich ein ehemaliger Patient.«

»Und doch haben Sie sich um ihn gekümmert, Icarus. Wie rührend von Ihnen.«

»Pah! Ich dachte, ich könnte seine Zeichnungen verkaufen und das große Geld mit ihm machen«, schnaubte Scratch. »Stattdessen hat er mich fast mein gesamtes Hab und Gut gekostet.«

»Jetzt hören Sie endlich auf mit dem Gejammer. Sie bekommen Ihre Belohnung schon noch.«

»Das will ich auch hoffen.«

Miss Benjamin betrachtete Grendel, der wieder begonnen hatte zu zeichnen und erneut in Trance gefallen zu sein schien. In ihrem Blick lag eine Art widerwilliger Bewunderung.

»Er hat Malice erschaffen. Er hat meinen Meister erschaffen, der wiederum mich erschaffen hat«, sagte sie nachdenklich. »Er hat sich alles so lebhaft in seiner Fantasie vorgestellt, dass es real wurde.« Sie sah Scratch an. »Glauben Sie, dass er wirklich ein Gott ist?«

»Ich halte ihn für eine Missgeburt.«

Miss Benjamin wandte sich ab. Ihr Blick fiel auf etwas, was am Boden lag. Sie bückte sich und hob es auf. Ein Blatt Papier.

Meine Zeichnung.

Alles in Alicia krampfte sich vor Angst zusammen, als Miss Benjamin das Blatt an ihre spitze Nase hob und daran schnupperte. Ihr Gesicht nahm einen bösartigen, hungrigen Ausdruck an.

»Was ist das?« Scratch blickte über ihre Schulter. »Macht er etwa Selbstporträts?«

»Das bezweifle ich.« Miss Benjamin ließ sich auf Hände und Knie nieder und schnüffelte am Boden entlang wie ein Bluthund, der eine Fährte aufgenommen hat.

»Was machen Sie denn jetzt schon wieder?«, fragte Scratch gereizt.

Aber Miss Benjamin ließ sich nicht beirren. Schnüffelnd kroch sie auf die Staffeleien zu… näher… und näher. Dann hob sie ruckartig den Kopf und sah genau auf die Stelle, wo Alicia sich versteckte. Direkt in ihre Augen. Sie kicherte gehässig.

»Ich glaube, wir haben Besuch«, zischte sie. Mit einem Satz war sie bei Alicia und zerrte sie

Havoc_274.tif

ans Licht.

Havoc
titlepage.xhtml
978_3_473_38433_4_split_000.xhtml
978_3_473_38433_4_split_001.xhtml
978_3_473_38433_4_split_002.xhtml
978_3_473_38433_4_split_003.xhtml
978_3_473_38433_4_split_004.xhtml
978_3_473_38433_4_split_005.xhtml
978_3_473_38433_4_split_006.xhtml
978_3_473_38433_4_split_007.xhtml
978_3_473_38433_4_split_008.xhtml
978_3_473_38433_4_split_009.xhtml
978_3_473_38433_4_split_010.xhtml
978_3_473_38433_4_split_011.xhtml
978_3_473_38433_4_split_012.xhtml
978_3_473_38433_4_split_013.xhtml
978_3_473_38433_4_split_014.xhtml
978_3_473_38433_4_split_015.xhtml
978_3_473_38433_4_split_016.xhtml
978_3_473_38433_4_split_017.xhtml
978_3_473_38433_4_split_018.xhtml
978_3_473_38433_4_split_019.xhtml
978_3_473_38433_4_split_020.xhtml
978_3_473_38433_4_split_021.xhtml
978_3_473_38433_4_split_022.xhtml
978_3_473_38433_4_split_023.xhtml
978_3_473_38433_4_split_024.xhtml
978_3_473_38433_4_split_025.xhtml
978_3_473_38433_4_split_026.xhtml
978_3_473_38433_4_split_027.xhtml
978_3_473_38433_4_split_028.xhtml
978_3_473_38433_4_split_029.xhtml
978_3_473_38433_4_split_030.xhtml
978_3_473_38433_4_split_031.xhtml
978_3_473_38433_4_split_032.xhtml
978_3_473_38433_4_split_033.xhtml
978_3_473_38433_4_split_034.xhtml
978_3_473_38433_4_split_035.xhtml
978_3_473_38433_4_split_036.xhtml
978_3_473_38433_4_split_037.xhtml
978_3_473_38433_4_split_038.xhtml
978_3_473_38433_4_split_039.xhtml
978_3_473_38433_4_split_040.xhtml
978_3_473_38433_4_split_041.xhtml
978_3_473_38433_4_split_042.xhtml
978_3_473_38433_4_split_043.xhtml
978_3_473_38433_4_split_044.xhtml
978_3_473_38433_4_split_045.xhtml
978_3_473_38433_4_split_046.xhtml
978_3_473_38433_4_split_047.xhtml
978_3_473_38433_4_split_048.xhtml
978_3_473_38433_4_split_049.xhtml
978_3_473_38433_4_split_050.xhtml
978_3_473_38433_4_split_051.xhtml
978_3_473_38433_4_split_052.xhtml
978_3_473_38433_4_split_053.xhtml
978_3_473_38433_4_split_054.xhtml
978_3_473_38433_4_split_055.xhtml
978_3_473_38433_4_split_056.xhtml
978_3_473_38433_4_split_057.xhtml
978_3_473_38433_4_split_058.xhtml
978_3_473_38433_4_split_059.xhtml
978_3_473_38433_4_split_060.xhtml
978_3_473_38433_4_split_061.xhtml
978_3_473_38433_4_split_062.xhtml
978_3_473_38433_4_split_063.xhtml
978_3_473_38433_4_split_064.xhtml
978_3_473_38433_4_split_065.xhtml
978_3_473_38433_4_split_066.xhtml
978_3_473_38433_4_split_067.xhtml
978_3_473_38433_4_split_068.xhtml
978_3_473_38433_4_split_069.xhtml
978_3_473_38433_4_split_070.xhtml
978_3_473_38433_4_split_071.xhtml
978_3_473_38433_4_split_072.xhtml
978_3_473_38433_4_split_073.xhtml
978_3_473_38433_4_split_074.xhtml
978_3_473_38433_4_split_075.xhtml
978_3_473_38433_4_split_076.xhtml
978_3_473_38433_4_split_077.xhtml
978_3_473_38433_4_split_078.xhtml
978_3_473_38433_4_split_079.xhtml
978_3_473_38433_4_split_080.xhtml
978_3_473_38433_4_split_081.xhtml
978_3_473_38433_4_split_082.xhtml
978_3_473_38433_4_split_083.xhtml
978_3_473_38433_4_split_084.xhtml
978_3_473_38433_4_split_085.xhtml
978_3_473_38433_4_split_086.xhtml
978_3_473_38433_4_split_087.xhtml
978_3_473_38433_4_split_088.xhtml
978_3_473_38433_4_split_089.xhtml
978_3_473_38433_4_split_090.xhtml
978_3_473_38433_4_split_091.xhtml
978_3_473_38433_4_split_092.xhtml
978_3_473_38433_4_split_093.xhtml
978_3_473_38433_4_split_094.xhtml
978_3_473_38433_4_split_095.xhtml
978_3_473_38433_4_split_096.xhtml