Im Terminus
1
Als sich die Türen des Waggons zischend öffneten, drängten die Passagiere auf den Bahnsteig. Die Vielfalt der Bewohner von Malice war wirklich atemberaubend. Kady sah insektenartige Geschöpfe mit dunkler Haut und riesigen Facettenaugen, kugelrunde Klopse auf Stummelbeinen, die sich ächzend durch die schmalen Türen pressen mussten, um den Zug zu verlassen, und spindeldürre kleine Wichte mit spitzen Mäusezähnchen.
Und das war nur eine kleine Auswahl. Innerhalb des Terminus wimmelte es von den verschiedenartigsten Lebewesen, die sich zu Tausenden aneinander vorbei durch das Gewühl des größten Bahnhofs der Stadt schoben.
Staunend blickte Kady sich um, nachdem sie aus dem Zug gestiegen war, und legte den Kopf in den Nacken, um das gigantische Kuppeldach zu bewundern. Der Bahnhof sah aus wie eine Mischung aus einem mittelalterlichen Palast, einer Jazzkneipe aus den Dreißigerjahren und einer gotischen Kathedrale– ein Bauwerk, das nur dem Hirn eines wahnsinnigen Architekten entsprungen sein konnte. Die überwältigende Pracht und schier grenzenlose Weite um sie herum vermittelten ihr das Gefühl, winzig klein zu sein.
»Kannst du vielleicht ein bisschen weniger aussehen wie eine Touristin«, hörte sie Justins Stimme hinter sich.
Kady zeigte mit einer ausschweifenden Geste auf die riesige Bahnhofshalle. »Kannst du vielleicht ein bisschen beeindruckter sein?«
»Oh, wow! Ein Bahnhof!«, sagte Justin ironisch.
»Kunstbanause!« Kady seufzte frustriert und blickte sich dann nach den anderen Mitgliedern von Havoc um. Aus Sicherheitsgründen waren sie alle in unterschiedlichen Waggons gefahren. Und da kam auch schon Tatyana auf sie zugetrottet und rieb ihren Kopf an Kadys Schenkeln.
Sie kraulte die Säbelzahntigerin zur Begrüßung hinter den Ohren, worauf Tatyana ein zufriedenes, blechernes Schnurren von sich gab. Was für eine Stadt, wo man in Begleitung einer mechanischen Säbelzahntigerin herumlaufen konnte, ohne dass auch nur irgendjemand mit der Wimper zuckte!
Die kleine Gruppe der Widerstandskämpfer traf sich am Ende des Bahnsteigs. Dutzende weitere Bahnsteige reihten sich aneinander. Allein in dieser Halle standen mindestens sechs Züge, aber Kady hatte gehört, dass es auch noch andere Hallen gab. Der Terminus war der größte Bahnhof in ganz Malice. Von hier aus konnte man in sämtliche Viertel der Stadt und alle Außenbezirke– oder Domänen, wie Justin sie genannt hatte– fahren. Ringsum herrschte ein dichtes Gewimmel von Leuten, die gerade abfuhren, ankamen, umstiegen oder andere Reisende abholten. Das Stimmengewirr war ohrenbetäubend.
Wie groß ist Malice wirklich?, fragte Kady sich nicht zum ersten Mal. Und wo endet diese Welt?
Obwohl sie mittlerweile schon einige Teile von Malice gesehen hatte, hatte sie immer noch keine genaue Vorstellung davon, wie groß die Comicwelt tatsächlich war. Dies war die Metropole, aber sie wusste, dass es noch viele andere Städte und Dörfer geben musste. Wo waren die Grenzen dieser Welt? Könnte sie in einen der Züge steigen und bis zum Rand von Malice fahren, wo sie dann vor einem riesigen Ozean stehen würde? Sie wusste es nicht, hatte nie eine Landkarte gesehen und von den Leuten, die sie gefragt hatte, hatte ihr keiner eine Antwort geben können.
Nachdem die Gruppe vollzählig versammelt war, gab Jan im Flüsterton ein paar knappe Anweisungen. »Die Tür zu den Kontrollräumen liegt am anderen Ende der Halle«, sagte er. »Folgt mir unauffällig und lasst euch auf keinen Fall anmerken, dass ihr nervös seid.«
Er bedachte Tatyana mit einem finsteren Blick. Dass die Tigerin mitgekommen war, passte ihm ganz und gar nicht. Aber als sie am Morgen zum Bahnhof aufgebrochen waren, hatte sie sich im Wald wie selbstverständlich zu ihnen gesellt und sich nicht abwimmeln lassen. Irgendwann hatte Kady es schließlich geschafft, Jan dazu zu überreden, sie mitkommen zu lassen. »Sie ist eine wertvolle Verbündete«, hatte sie ihm versichert. »Du kannst dir sicher sein, dass sie uns mit ihrem Leben verteidigen wird, wenn irgendwas schiefläuft.«
Jan hatte sich nur widerstrebend einverstanden erklärt. Denn eines war klar: Tatyana war vielleicht eine wertvolle Verbündete, aber sie war Kadys Verbündete. Es störte ihn auch, dass Scotty und Dylan dabei waren. Schließlich hatten sie Kady und Justin aus der Zelle befreit, aber die beiden waren von Anfang an in die Aktion miteinbezogen gewesen und so hatte er nicht auf sie verzichten können.
Insgesamt waren sie zu dreizehnt. Außer ihnen waren Jans drei Schläger mitgekommen sowie vier weitere Mädchen und Jungen, die Kady nicht kannte (oder besser gesagt– an die sie sich nicht erinnerte). Die Übrigen waren in der Unterwasserstation geblieben. Jan hatte nur die Hartgesottensten unter ihnen ausgesucht.
Kady war erleichtert, dass sich wenigstens ein paar Mitglieder von Havoc in Sicherheit befanden. Sie war nach wie vor nicht von Jans Plan überzeugt. Wenn alles klappte, würden sie Tall Jake zwar einen empfindlichen Schlag versetzen, doch falls etwas schiefging, würden die Folgen verheerend sein.
Während sie sich durch das Gewühl auf den Bahnsteigen schoben, sah Kady sich unauffällig um. Überall in der Halle waren Beobachtungsplattformen errichtet, auf denen Regulatoren standen, die ihre Harpunen im Anschlag haltend alles überblickten. Andere schritten paarweise durch die Menge und hielten nach möglichen Unruhestiftern Ausschau.
Als Kady zur Decke blickte, entdeckte sie einen Greifer, der regungslos an einer Kette hing– eine Art mechanische Riesenspinne, die mit Wurfspießen bewaffnet war. Der Greifer hatte seine acht Beine um den runden Körper geschlungen, lediglich seine rot leuchtenden Linsenaugen bewegten sich wachsam hin und her. Kady lief es kalt über den Rücken, als sie daran dachte, wie vielen Unschuldigen es das Leben kosten konnte, falls es zu einem offenen Schusswechsel kam.
»Das sind keine Menschen«, hatte Jan gesagt, als sie ihm ihre Befürchtungen mitgeteilt hatte. »Warum verschwendest du überhaupt einen Gedanken an sie? Das sind doch alles bloß Mutanten.«
Aber Kady musste an Shaddly Bletch denken, der sie und Justin so freundlich aufgenommen hatte, an die weise Seherin Skarla aus der Oubliette und den Bäcker Nibscuttle. Dass der eine ständig irgendwelche Körperteile verlor, die andere eine Art Pflanzenwesen war und der Dritte zwei Köpfe hatte, störte sie nicht. Sie waren vielleicht keine Menschen, hatten aber Gedanken und Gefühle wie sie.
Besorgt folgte sie Jan quer durch die Halle zu einem Pfeiler, hinter dem sich die Tür zu den Kontrollräumen befand. Der Pfeiler war so breit, dass sie halbwegs vor neugierigen Blicken abgeschirmt waren. Die Tür bestand aus massivem Stahl, in den wie bei einem Tresor drei Drehknöpfe eingelassen waren. Parker versammelte die Gruppe so um sich, dass sie die Tür verdeckten. Während sie so taten, als würden sie den Plan mit den Abfahrtszeiten der Züge studieren, machte Jan sich an den Drehknöpfen zu schaffen. Zwei Regulatoren kamen vorbeimarschiert, von denen einer sich noch einmal zu ihnen umdrehte und sie misstrauisch beäugte, dann aber doch weiterging, ohne stehen zu bleiben.
Einen Augenblick später drehte Jan sich mit triumphierendem Grinsen um. »Unser Informant hat uns den richtigen Code gegeben«, verkündete er stolz. »Die Tür ist jetzt offen.«
Als er sich wieder zur Tür umdrehen wollte, packte Kady ihn am Arm. Jan fuhr herum und funkelte sie wütend an.
»Bitte, Jan!«, flehte sie. Sie musste wenigstens noch ein letztes Mal versuchen, ihn von dieser riskanten Aktion abzuhalten. »Es ist noch nicht zu spät. Die Sache ist einfach viel zu gefährlich. Wenn es nicht so klappt wie geplant…«
»Das wird es aber«, sagte Jan kalt.
»Du hast ja noch nicht mal einen Fluchtplan ausgearbeitet«, sagte sie vorwurfsvoll.
»Weil wir keinen Fluchtplan brauchen!«, stieß Jan zwischen den Zähnen hervor. »Ich wusste von Anfang an, dass du Schwierigkeiten machen würdest, Kady. Ich hätte dich niemals mitnehmen sollen. Du kannst es einfach nicht ertragen, mal nicht die erste Geige zu spielen, was? Aber was hast du schon groß erreicht, während du das Kommando über Havoc hattest? Nichts! Das, was wir heute hier vorhaben, wird spektakulär, Kady! Ganz Malice wird danach über Havoc reden.«
»Und dann? Wie geht es danach weiter?«, fragte sie und stemmte die Hände in die Hüften. »Im Moment sind wir für Tall Jake nichts weiter als eine Gruppe von Kindern, die hier und da für ein bisschen Ärger sorgt. Danach wird er uns als Staatsfeind Nummer eins betrachten. Und er wird nicht eher ruhen, als bis er uns gefunden und zur Strecke gebracht hat.« Sie blickte in die Gesichter der anderen. »Seid ihr wirklich bereit, dieses Risiko einzugehen?«
Ein paar kratzten sich unsicher am Kopf. Als Jan ihre skeptischen Mienen sah, schnarrte er: »Für einen Rückzieher ist es jetzt zu spät, Kady. Also halt endlich die Klappe und hör auf, die Truppe zu demoralisieren! Ich hab genug davon, dass du ständig alles kritisieren musst.«
»Wenn ein Plan gut ist, habe ich auch nichts zu kritisieren«, sagte Kady, aber Jan hörte ihr gar nicht mehr zu.
»Da du offensichtlich zu feige bist mitzumachen, kannst du gern hierbleiben und Schmiere stehen.«
Kady öffnete den Mund, um zu protestieren, aber Jan hob die Hand. »Ich will nichts mehr von dir hören!«, blaffte er und sah dann Scotty an. »Du bleibst bei ihr. Sorg dafür, dass sie nicht abhaut oder auf die Idee kommt, uns die Regulatoren auf den Hals zu hetzen.«
»Was soll der Quatsch?«, sagte Scotty. »Ich meine– hallo? Das ist Kady!«
»Sie ist ein Risiko«, antwortete Jan. »Und der Tiger bleibt auch hier. Alle anderen kommen mit. Und damit eins klar ist: Wer sich weigert, kann seine Sachen packen, sobald wir wieder zurück sind. Havoc kann es sich nämlich nicht leisten, Feiglinge durchzufüttern.«
Damit war alles gesagt. Er drehte sich um und öffnete die Tür. Dylan klopfte Scotty aufmunternd auf die Schulter, als er an ihm vorbeiging. Justin warf Kady einen entschuldigenden Blick zu. Sie funkelte ihn wütend an. Natürlich wusste sie, dass ihm gar nichts anderes übrig blieb, als mitzugehen, wenn er nicht aus der Gruppe geworfen werden wollte. Trotzdem fühlte sie sich verraten. Außerdem hatte sie den Verdacht, dass er gar nichts dagegen hatte, Jan zu folgen. Die Vorstellung, den gesamten Zugverkehr lahmzulegen, war viel zu verlockend für ihn. Diesen Spaß wollte er sich garantiert nicht entgehen lassen.
Die Tür fiel mit einem Knall ins Schloss und weg waren sie. Tatyana gähnte, legte sich auf den Boden und schlief auf der Stelle ein. Kady schäumte vor Wut. Scotty beobachtete sie nervös.
»Vielleicht geht ja alles gut«, sagte er, aber statt sie zu beruhigen, machte er sie nur noch wütender.
»Er spielt mit Menschenleben!«, stieß sie hervor. »Dabei ist das Ganze doch nichts weiter als ein einziger großer Ego-trip!«
»Damit zeigt er allen in Malice, dass es Leute gibt, die gegen Tall Jake kämpfen.«
»Ach was, da gibt es bessere Methoden«, schnaubte Kady. »Er setzt rücksichtslos das Leben seiner Leute aufs Spiel. Redet ihnen ein, sie wären so eine Art Guerilla-Armee, dabei sind wir nichts weiter als eine Handvoll Jugendliche. Zugegeben, die Aktion klingt vielversprechend, und falls es tatsächlich klappt, hätten wir Tall Jake mächtig eins ausgewischt. Aber Jan geht es doch vor allem darum, allen zu zeigen, was für ein toller Kerl er ist. Ein wirklich guter Anführer würde für seinen eigenen Ruhm niemals das Leben seiner Freunde aufs Spiel setzen.«
Scotty hob hilflos die Schultern und sah zu Boden. »Genau deswegen brauchen wir dich, Kady.«
Kady lehnte sich gegen den Pfeiler und ließ sich daran zu Boden gleiten. Scotty setzte sich neben sie. Für Vorübergehende sahen sie aus wie zwei müde Reisende mit ihrem mechanischen Haustier.
Kady seufzte. Sie war nicht hier, um Anführerin zu werden. Genau genommen hatte sie Justin nur begleitet, weil sie niemanden sonst gehabt hatte, nachdem Seth wieder in die reale Welt zurückgekehrt war, um den Shard zu holen. Justin war derjenige gewesen, der unbedingt bei Havoc hatte mitmachen wollen.
Aber nun hatte sich alles geändert. Sie hatte erfahren, dass sie früher einmal die Anführerin dieser Gruppe gewesen war, und es gab immer noch einige Mitglieder, die sie dafür bewunderten und respektierten.
Kady verspürte der Gruppe gegenüber eine gewisse Verantwortung und das war genau das, was Jan fürchtete. Sie wurde automatisch zu seiner Rivalin und früher oder später würde sie gezwungen sein, seine Führung offiziell infrage zu stellen. Auch wenn Jan nach außen hin großspurig auftrat, war er im tiefsten Inneren unsicher. Er spielte ein gefährliches Spiel, ohne an die Konsequenzen zu denken, und wenn er so weitermachte, würde jemand mit dem Leben dafür bezahlen müssen.
Sie ließ ihren Blick über die verschiedenartigen Wesen in der Bahnhofshalle schweifen, als sie sich plötzlich ruckartig aufsetzte. Das war doch… nein, das konnte nicht sein… war das etwa…
Doch!
Im nächsten Moment war sie auch schon aufgesprungen und schob sich durch das Gedränge. Scotty rappelte sich erstaunt auf. »Hey!«
Tatyana öffnete ein Auge, entschied, dass nichts passiert war, wofür es sich lohnte aufzuwachen und klappte es wieder zu.
»Entschuldigung, darf ich mal? Kann ich bitte durch!«, rief Kady aufgeregt, während sie sich einen Weg durch die Menge bahnte und immer wieder suchend den Kopf reckte. Wo war er? Hatte sie sich womöglich geirrt? Aber sie hatte doch seinen Rucksack erkannt…
Und dann stand sie plötzlich direkt hinter ihm, packte ihn an der Schulter und wirbelte ihn zu sich herum. Als sie den überraschten Ausdruck auf seinem Gesicht sah, lachte sie und rief überglücklich: »Seth!«
Er breitete die Arme aus und drückte sie so fest an sich, dass sie kaum noch Luft bekam. Kady spürte, wie sein Herz gegen ihre Rippen schlug. Er lebte! Sie konnte kaum fassen, dass er tatsächlich da war.
»Du bist zurückgekommen!«, flüsterte sie. »Du hast mich gefunden!«
»Hab ich dir doch versprochen«, sagte Seth. »Und den Shard hab ich auch mitgebracht…«
Sie musste gegen die Tränen anblinzeln, die ihr in die Augen schossen. »Ich hätte es wissen müssen. Sir Knight hält eben immer Wort.«
Plötzlich ließ Seth sie los. »Wo ist Justin?«, fragte er besorgt.
Erst jetzt bemerkte Kady, dass seine Jacke an der Schulter zerrissen war und der Stoff sich mit Blut vollgesogen hatte.
»Seth! Du bist verletzt!«
Er winkte ab. »Sieht schlimmer aus, als es ist. Ich hab mir die Wunde im Zug angesehen. Sie hat stark geblutet, ist aber nicht tief.«
»Was ist passiert?«
»Ich bin jemandem über den Weg gelaufen, der mich fressen wollte. Das Übliche.« Er grinste. »Aber jetzt sag schon– wo steckt Justin?«
Kady zeigte auf die Tür, die zu den Kontrollräumen führte. »Da drinnen. Zusammen mit ein paar Leuten von Havoc. Sie wollen in die Schaltzentrale.«
Seth sah sie erschrocken an. »Wir müssen sie aufhalten!«, rief er.
»Wieso? Was ist los?«
»Sie laufen direkt in eine Falle!«
2
Kady rannte auf Scotty zu und blieb atemlos vor ihm stehen. »Wir müssen ihnen hinterher«, rief sie.
Scotty starrte sie verwundert an und musterte dann den Jungen, der vor Tatyana kniete und gerade die Arme um ihren Hals schlang. Die Säbelzahntigerin war sofort aufgesprungen und auf ihn zugelaufen, als sie ihn entdeckt hatte, und leckte ihm jetzt mit ihrer Blechzunge zärtlich übers Gesicht.
»Wer ist das?«
»Das ist mein Freund Seth, von dem ich dir schon erzählt habe«, erklärte Kady. »Er hat den Shard mitgebracht!«
Scotty fiel die Kinnlade herunter. »Was… im Ernst?«
Kady nickte. »Ja, aber jetzt müssen wir erst mal da rein und die anderen aufhalten. Seth hat den neuen Comic gelesen und alles über Jans Plan erfahren, und das bedeutet, dass Tall Jake auch davon weiß.«
Scotty riss die Augen auf. »Warum stehst du dann noch hier rum? Du musst sie warnen!«
»Was ist mit dir? Kommst du nicht mit?«
»Jemand muss die Tür bewachen. Stell dir mal vor, ihr kommt da raus und lauft direkt irgendwelchen Regulatoren in die Arme. Klopft dreimal von innen an die Tür, dann lasse ich euch raus, sobald die Luft rein ist.«
Kady nickte zustimmend. »Du hast Recht. Wie gut, dass du mitdenkst.« Sie sah Seth an. »Los, komm schon! Wir dürfen keine Zeit verlieren!«
Seth sprang auf und nickte Scotty kurz zu. Als der Moment günstig war und niemand auf sie achtete, öffnete Scotty die Tür und sie schlüpften, gefolgt von Tatyana, hastig hindurch.
Sie fanden sich in einer Art Vorraum wieder, von dem aus eine Wendeltreppe in die Tiefe führte. Kühle, feuchte Luft wehte ihnen von unten entgegen. Hinter ihnen fiel die Tür ins Schloss.
Tatyana stieg als Erste die Stufen hinunter, hinter ihr folgte Seth und Kady bildete die Nachhut. In ihre Freude über das überraschende Wiedersehen mischte sich auch ein Hauch von Enttäuschung. Sie hatte sich so sehr danach gesehnt, Seth endlich wiederzusehen, und sich immer wieder ausgemalt, wie sie ihm ausführlich erzählen würde, was in der Zwischenzeit alles passiert war. Aber jetzt hatten sie nur ein paar Minuten für sich gehabt, bevor sie sich schon wieder in das nächste Abenteuer stürzen mussten.
Die Treppe endete auf einem stählernen Steg, der sich wie eine schmale Brücke quer über einen Abgrund spannte. Sie befanden sich jetzt in einem riesigen Gewölbe, das auf mächtigen Pfeilern ruhte. Der untere Teil des Raums war mit Wasser geflutet und lag wie ein rechteckiger tintenschwarzer See unter ihnen. Ein Zug, der über ihre Köpfe hinwegrumpelte, brachte die Oberfläche des Sees zum Zittern. Auch die Lampen, die an dem schmalen Steg hingen, pendelten hin und her und ließen die unzähligen winzigen Wellen glitzern.
Aber sie hatten keine Zeit, den Zauber dieses Anblicks zu genießen, sie mussten sich beeilen und die anderen einholen, bevor es zu spät war. Nach ein paar Metern blieben sie abrupt stehen. In der Mitte des Stegs lag etwas. Es hatte einen gelb glänzenden Messingpanzer, war mit schlaff herunterhängenden Scheren bewehrt und sah aus wie eine mechanische Roboterkrabbe. Ihr Körper war ringsum mit einem Kranz kleiner Äuglein bedeckt, die dunkel und leblos wirkten. Mit größter Vorsicht näherten sie sich der Kreatur.
»Ich nehme an, das ist so eine Art Wächterdrone«, flüsterte Kady.
Tatyana knurrte drohend und schnupperte an dem Ding.
»Kann sie überhaupt etwas riechen?«, fragte Seth. »Ich meine, weil in ihrem Inneren doch alles mechanisch funktioniert.«
Plötzlich schlitterte die Drohne quer über den Boden auf Tatyanas Schnauze zu. Tatyana heulte auf und warf den Kopf hin und her. Die Drohne schien an ihrer Schnauze festzukleben.
Kady und Seth schafften es nur mit Mühe, das Ding loszureißen.
»Sie ist magnetisiert«, erklärte Kady. »Wahrscheinlich ist sie von einem Blocker getroffen worden.«
»Was ist das?«
»Eine elektromagnetische Granate. Die setzt jede Maschine sofort außer Gefecht.«
»Dann sei ab jetzt lieber vorsichtig, Tatyana«, warnte Seth. Die Säbelzahntigerin schnaubte beleidigt und trottete wieder voraus.
»Du weißt doch, dass sie es nicht mag, wenn man sie als Maschine bezeichnet«, flüsterte Kady.
»Aber ich wollte doch nur…« Seth seufzte. »Warum müsst ihr Mädchen nur immer so wahnsinnig empfindlich sein!«
Schweigend setzten sie ihren Weg fort. Der Steg endete vor einer geöffneten Tür, hinter der ein Gang lag, der sich nach wenigen Schritten gabelte. »Tja, und jetzt? Welchen nehmen wir?«, fragte Seth.
»Keine Ahnung. Such dir einen aus.«
Seth entschied sich spontan für den rechten der beiden Gänge. Als sie nach etwa dreißig Metern auf die nächste reglose Drohne trafen, wussten sie, dass sie auf dem richtigen Weg waren. Diesmal lief Seth voraus, während Tatyana vorsichtig einen großen Bogen um die magnetisierte Krabbe machte.
»Seth! Warte!«, rief Kady und rannte ihm hinterher.
Sie folgte ihm durch den verwinkelten Korridor, bis sie an eine Tür kamen, die offen stand. Sie führte in einen kleinen Vorraum, an dessen Ende sie eine weitere Tür entdeckten, die jedoch geschlossen war.
Seth blieb misstrauisch stehen. Irgendetwas beunruhigte ihn. Als er vorsichtig in den Raum hineinspähte, sah Kady aus dem Augenwinkel eine Eisenstange, die direkt auf Seths Kopf niedersauste! Kady presste die Hand auf den Mund und schloss die Augen…
…aber der Schlag blieb aus.
»Seth?«, fragte eine erstaunte Stimme.
Als Kady die Augen wieder öffnete, stand Justin mit der immer noch erhobenen Eisenstange vor ihnen.
»Könntest du bitte dieses Ding aus meinem Gesicht nehmen?«, fragte Seth.
Lachend warf Justin die Stange zur Seite und fiel seinem Freund um den Hals. Kady stemmte die Hände in die Hüften. »Sag mal, bist du jetzt völlig durchgedreht? Du hättest ihm beinahe den Schädel eingeschlagen!«
Plötzlich traten auch Jan, Dylan, Parker und die Übrigen hinter der Tür hervor.
»Wir haben eure Schritte gehört und dachten Tall Jakes Leute würden uns verfolgen.« Justin kratzte sich verlegen am Kinn. »Als wir dann diesen Vorraum hier fanden, haben wir uns versteckt, um sie mit der Eisenstange zu empfangen.« Er zuckte mit den Schultern. »Schien uns in dem Moment eine gute Idee zu sein…«
Seth nahm ihm die beinahe tödlich verlaufene Begrüßung nicht übel. Er strahlte übers ganze Gesicht. »Trotzdem schön, dich zu sehen!«, sagte er. »Auch wenn du ganz schön, übel zugerichtet aussiehst. Hast wohl wieder mal deine freche Klappe nicht halten können, was?«
»So ähnlich.« Justin betrachtete Seths blutverschmierte Jacke. »Du siehst aber auch ziemlich mitgenommen aus, Alter.«
»Okay, das reicht jetzt«, fuhr Jan gereizt dazwischen. »Wer bist du?«
»Das ist mein Freund Seth«, stellte Kady ihn vor. »Und jetzt hört mal bitte alle zu. Er hat euch nämlich was Wichtiges zu sagen.«
»Viel besser«, sagte Seth. »Ich kann es euch sogar zeigen.« Er griff in seinen Rucksack, zog ein paar zusammengefaltete Seiten heraus und reichte sie Jan. Zweieinhalb Comicseiten von Grendel. Das letzte Blatt– eine Großansicht des Terminus– war nur zur Hälfte ausgedruckt.
Jan starrte stirnrunzelnd auf die Zeichnungen. Die anderen, die sich um ihn geschart hatten, schrien entsetzt auf. Im Comic war ganz klar zu erkennen, wie Jan, Justin und Kady gerade im Hauptquartier der Forschungsstation den Aktionsplan besprachen.
»Er hat uns in der Tauchstation gesehen«, sagte Dylan. »Grendel hat uns beobachtet.«
»Wenn er uns in der Tauchstation gesehen hat, könnte es gut sein, dass Tall Jakes Leute jetzt in diesem Moment auf dem Weg dorthin sind«, sagte Parker.
»Da wäre ich mir nicht so sicher«, widersprach Dylan. »Man sieht ja nur das Innere und kann nicht erkennen, wo sie sich befindet. In Malice gibt es viele Seen und Tall Jake ist nicht allwissend.«
»Trotzdem sollten wir auf dem Rückweg äußerst vorsichtig sein«, sagte Kady. »Nur für den Fall.«
»Kady hat Recht«, sagte Dylan. »Wir müssen ab jetzt echt verdammt aufpassen.«
Justin betrachtete die Comicseiten. »Hey, Kady. Als Comicfigur siehst du gar nicht schlecht aus«, sagte er. »Viel besser als in echt.«
»Kann es sein, dass du am linken Kiefer noch keinen blauen Fleck hast?«, fragte Kady. »Ich kann mich gern darum kümmern, wenn du willst.«
»Das ist eine Fälschung«, sagte Jan leise.
Alle Augen richteten sich erstaunt auf ihn.
»Das ist eine Fälschung«, sagte er noch einmal und zerknüllte die Seiten in der Hand. »Das. Ist. Eine. Fälschung!« Er schleuderte sie zu Boden.
»Es ist keine Fälschung«, sagte Seth verwundert über Jans Reaktion. »Wenn ich wusste, wo ich euch finden würde, dann weiß Tall Jake es auch. Ihr müsst sofort von hier verschwinden.«
»Hinter dieser Tür liegt die Schaltzentrale.« Jan zeigte auf die Stahltür und wandte sich an die anderen. »Mein Informant, der mir auch den Lageplan und den Zahlencode für die Tür gegeben hat, hat gesagt, dass der Raum nicht bewacht wird. Das bedeutet, dass wir einfach reingehen und einen Blocker auf die Maschine abfeuern können, um damit das gesamte System lahmzulegen. Und zwar für immer.« Er deutete auf Kady. »Niemand weiß, wo sie die ganze Zeit über gesteckt hat. Was, wenn sie inzwischen für die Gegenseite arbeitet?« Er zeigte auf Justin und Seth. »Und diese beiden Typen da, die kenne ich noch nicht einmal!«
Er steigerte sich immer mehr in seine Wut hinein. Offensichtlich ertrug er den Gedanken nicht, dass die Aktion, auf die er die ganze Zeit hingearbeitet hatte, im letzten Moment abgeblasen werden könnte.
»Ich weiß nicht…« Dylan blickte kopfschüttelnd auf die Comicseiten, die zerknüllt am Boden lagen. »Das wäre ziemlich viel Aufwand, nur um uns davon abzuhalten, die Aktion durchzuziehen. Wenn Kady wirklich eine Verräterin wäre, hätten sie sich nicht die Mühe machen müssen, Comicseiten zu fälschen. Sie hätten uns sofort schnappen können, schon in dem Moment, in dem wir aus dem Zug gestiegen sind.«
»Genau darauf will ich doch hinaus!«, rief Jan. »Wenn Tall Jake wüsste, dass wir hier sind, hätte er uns schon längst abgefangen. Aber er weiß es anscheinend nicht. Und ich habe keine Lust, hier wertvolle Zeit zu verplempern. Wir gehen jetzt da rein und ziehen die Sache wie geplant durch. Jede Sekunde, die wir mit sinnlosen Diskussionen verschwenden, ist…«
»Mensch, verstehst du denn nicht?«, schrie Seth. »Ihr lauft direkt in eine Falle! Die warten da drin doch nur auf euch!«
Jans Gesicht nahm einen gefährlichen Rotton an. »Ich bin hier der Chef und ich sage euch, dass wir alles wie geplant durchziehen, verstanden?!«
Kady konnte das nicht länger mit ansehen. »Hört mir zu«, rief sie. »Ihr wisst, dass ich damals losgegangen bin, um den Shard zu suchen, weil wir gehört hatten, dass er uns im Kampf gegen Tall Jake helfen kann.«
Alle, die sich daran erinnern konnten, nickten. Kady griff nach Seths Rucksack, öffnete ihn und zog die Skulptur heraus, die über ein Jahr lang auf ihrem Bücherregal gestanden hatte.
»Hier ist er«, sagte sie.
»Das soll der Shard sein? Wie beeindruckend«, schnaubte Jan.
»Und was machen wir jetzt damit?«, fragte Dylan.
»Das müssen wir erst noch herausfinden«, antwortete Kady. »Aber das werden wir, keine Angst«, fügte sie schnell hinzu. »Die Hauptsache ist, dass wir ihn endlich haben. Ich habe euch damals versprochen, ihn euch zu bringen, und jetzt ist er hier: In diesem Ei steckt Tall Jakes größter Feind. Der Einzige, der ihn besiegen kann.«
Die anderen flüsterten leise miteinander, Jan schäumte vor Wut.
»Jetzt haben wir eine Waffe, mit der wir wirklich etwas ausrichten können«, fuhr Kady unbeirrt fort. »Aber wir müssen sie zielgerichtet einsetzen, versteht ihr? Sinnlose Sabotageakte führen auf Dauer doch zu nichts. Wenn wir den Zugverkehr lahmlegen, wird das Tall Jake nicht weiter stören. Aber mit dem Shard können wir ihn wirklich treffen. Wir können ihn sogar vernichten!«
»Du führst dich auf, als ob du hier was zu sagen hättest. Dabei bin immer noch ich der Anführer von Havoc«, mischte Jan sich wieder ein und wandte sich dann an die Gruppe. »Wir haben das jetzt so lange geplant, Leute! Wir sind ganz dicht dran!«, drängte er. »Ihr könnt jetzt doch nicht doch abspringen!«
»Geht nicht durch diese Tür!«, flehte Kady. »Tall Jake wartet nur darauf.«
»Wie oft muss ich dir das noch sagen. Ich treffe hier die Entscheidungen«, knurrte Jan. »Und ich sage: Wir gehen.«
Dylan schüttelte den Kopf. »Ohne mich.«
Jan sah ihn entgeistert an. »Was?«
»Ohne mich«, wiederholte Dylan. »Wenn Kady sagt, dass es eine Falle ist, dann ist es auch eine. Und ich renne bestimmt nicht freiwillig in den Tod.«
»Dann kannst du gleich abhauen«, fauchte Jan. »Havoc kann auf solche Verräter wie dich gut verzichten. Bin mal gespannt, wie du alleine klarkommst.«
Dylan zuckte mit den Schultern. »Vielleicht bist du ja nicht mehr unser Anführer, wenn du zurückkommst. Falls du überhaupt zurückkommst«, sagte er ruhig und stellte sich demonstrativ neben Kady, Justin und Seth. Die übrigen Mitglieder wechselten unsichere Blicke.
Jan sah Kady mit einem wahnsinnigen Glitzern in den Augen an. »Siehst du, was du anrichtest? Du reißt Havoc auseinander!«
»Vielleicht ist ja genau das nötig«, erwiderte sie kühl und sah die anderen aus der Gruppe fragend an. »Wer von euch kommt mit mir zurück?«
Einen Moment lang rührte sich keiner von ihnen. Dann trat ein Mädchen, das sie nicht kannte, auf ihre Seite über.
»Okay. Du bist auch draußen!«, rief Jan, als sich auch schon die nächsten drei in Bewegung setzten und die Seite wechselten. Allerdings hielten sie die Köpfe gesenkt und wagten es nicht, Jan anzusehen.
Bald waren nur noch er und sein Schlägertrupp übrig. Aber nicht einmal Parker sah sonderlich überzeugt aus.
Jan spuckte auf den Boden. »Ihr seid alle Feiglinge!«, höhnte er. »Erbärmliche Memmen. Aber ihr werdet schon sehen, was ihr davon habt. Mal sehen, wie viele Anhänger du noch haben wirst, wenn ich zurückkomme und wir als Helden gefeiert werden, Kady!«
»Komm endlich zur Vernunft, Jan. Lass uns gemeinsam zurückgehen und in Ruhe…«, versuchte sie ihn noch einmal umzustimmen, aber es war sinnlos. Jan hörte ihr schon gar nicht mehr zu, sondern ging auf die Stahltür zu und zog sie einen Spaltbreit auf. Einen Finger an die Lippen gelegt, winkte er seine drei verbliebenen Mitstreiter zu sich.
»Die Luft ist rein«, flüsterte er. »Los!«
Sie schlüpften an ihm vorbei durch die Tür. Als Parker an der Reihe war, drehte er sich an der Schwelle noch einmal um und öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen. Vielleicht überlegte er, seine Meinung im letzten Moment doch noch zu ändern. Aber Jan packte ihn am Unterarm und befahl ihm, weiterzugehen. Parker gehorchte.
»Feiglinge«, knurrte Jan noch einmal und warf Kady einen letzten, hasserfüllten Blick zu. Dann folgte er den anderen und zog die Tür hinter sich zu.
Kady atmete erschöpft aus. Die direkte Auseinandersetzung mit Jan hatte sie viel Kraft gekostet. Sie legte den Shard in Seths Rucksack zurück und zog den Reißverschluss zu.
»Okay, ich glaube, wir sollten lieber gehen…«, sagte sie, als um sie herum plötzlich ein schrilles Bimmeln ertönte.
»Das ist eine Alarmanlage«, rief einer der Jungs und im nächsten Moment drangen auch schon das surrende Geräusch von Harpunen und markerschütternde Schreie durch die geschlossene Tür.
Kadys Magen krampfte sich zusammen.
»Oh mein Gott«, flüsterte sie und presste eine Hand auf den Mund.
»Raus hier!«, brüllte Justin und scheuchte die anderen in den Gang hinaus.
Geschlossen rannten sie durch die Flure, über den schmalen Steg zur Wendeltreppe zurück und stürmten über die engen Stufen in den Vorraum hinauf, wo Kady hastig dreimal gegen die Tür klopfte, bis sie von Scotty herausgelassen wurden.
Die ganze Zeit über schrillte der Alarm.