Sturmwarnung

Havoc_07.tif

1

Seth legte den Kopf in den Nacken und blickte besorgt zum Himmel auf, an dem sich dunkle Gewitterwolken zusammenbrauten. Einige der finsteren Wolkengebilde kamen ihm vor wie riesige Klauen, die nach ihm zu greifen schienen. Eine unerklärliche Angst überfiel ihn und schnürte ihm die Kehle zu.

Begleitet von bedrohlichem Donnergrollen setzte er eilig seinen Weg durch die Straßen und schmalen Gassen der kleinen Stadt Hathern fort, während die Wolken über ihm in rasendem Tempo den Himmel verdunkelten– wie schwarze Tinte, die sich über ein weißes Blatt Papier ergießt. Feiner Sprühregen setzte ein und ließ die Temperaturen des ohnehin schon kalten Oktobernachmittags schlagartig noch um ein paar Grad sinken. Ein schneidend kalter Wind begann an Seths schwarzen Haaren zu zerren und peitschte sie ihm schmerzhaft ins Gesicht.

Er hatte die kleine Skulptur unter seiner Jacke fest an den Körper gepresst und rannte, so schnell er konnte, heimwärts. Irgendetwas in ihm sagte ihm, dass es klüger war, die Skulptur zu verstecken. Als lauerten am dunklen Gewitterhimmel wachsame Augen, die jeden seiner Schritte verfolgten.

Als er endlich zu Hause angekommen war, schüttete es bereits wie aus Kübeln. Seth knallte die Haustür hinter sich zu und ließ sich keuchend mit dem Rücken dagegenfallen. Seine Eltern saßen im Wohnzimmer vor dem Fernseher– wie immer.

»Scheint ein richtig schlimmes Gewitter zu sein da draußen«, hörte er seine Mutter sagen. Sein Vater gab nur ein zustimmendes, aber nicht sonderlich interessiertes Brummen von sich.

Merkten sie es denn nicht? Spürten sie nicht, wie bedrohlich dieser Gewittersturm war? Dass er sie zu verschlingen drohte? Nein, natürlich nicht. Sie nahmen nur die Dinge wahr, über die im Fernsehen oder in den Zeitungen berichtet wurde.

Seth lief eilig nach oben in sein Zimmer. Der Wind hatte an Stärke sogar noch zugenommen und der Regen prasselte wütend gegen die Fensterscheiben. Obwohl es noch nicht einmal vier Uhr nachmittags war, schien draußen schon die Nacht anzubrechen, so dunkel war es. Normalerweise ließ Seth sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen, aber jetzt hatte er Angst. Entsetzliche Angst.

Hastig zog er die Vorhänge zu, holte die kleine Skulptur hervor und legte sie aufs Bett.

Bei ihrem Anblick lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken. Aus leblosen Augen blickte ihm ein krakenartiges Ungetüm entgegen, das in seinen steinernen Fangarmen eine Art Ei aus einem milchig weißen Mineral hielt. Aber abgesehen von ihrer abstoßenden Hässlichkeit war an der Skulptur eigentlich nichts Auffälliges zu entdecken.

Ein Blitz zuckte über den Himmel und tauchte das Zimmer trotz der zugezogenen Vorhänge für einen Moment in ein gespenstisches Licht. In der Ferne ertönte laut das markerschütternde Kreischen einer Katze.

Seth holte tief Luft und hob die Skulptur wieder auf. Sie fühlte sich kühl an. Er hielt sie sich dicht vor die Augen, um das in den Tentakeln des Seeungeheuers steckende Ei näher zu betrachten.

Da! In seinem Inneren glühte etwas auf. Ein winziges Lichtfädchen, das sich unruhig hin und her wand wie ein dünner Wurm. Die Skulptur schien in seinen Händen langsam wärmer zu werden, und das Leuchten wurde immer intensiver, bis Seth beinahe die Augen zusammenkneifen musste, um nicht geblendet zu werden.

Dieses Ding fühlte sich lebendig an. Als würde in dem Ei etwas stecken, was… lebte.

»Die sind hinter dir her, stimmt’s?«, flüsterte Seth. »Die sind hinter uns beiden her.«

2

Seth nahm seinen Rucksack vom Haken an der Tür, stopfte hastig ein paar Kleidungsstücke hinein und legte auch die Skulptur dazu, die er behutsam in ein T-Shirt gewickelt hatte. Kaum hatte er sie losgelassen, war das Licht im Inneren des Eies erloschen.

Anschließend holte er seine Geldkassette hervor. Er hatte sie ganz unten in einer Kiste versteckt, in der er seine alten Baseballsachen und ein paar Ersatzteile für sein BMX-Rad aufbewahrte. Hobbys, die er angefangen und bald wieder aufgegeben hatte, weil sie ihm auf Dauer nicht aufregend genug gewesen waren. Genau das war sein großes Problem: Er langweilte sich schnell und war immer auf der Suche nach etwas gewesen, was ihm einen noch größeren Kick verschaffen konnte– bis er eines Tages Malice entdeckt hatte. Eine ungeahnte, fremde neue Welt im Inneren eines Comichefts.

Seth schloss die Kassette auf, griff nach den zerknitterten Scheinen, die darinlagen, und stopfte sie sich in die Hosentaschen. Er hatte keine Ahnung, wann er zurückkehren würde. Vielleicht nie.

Ein Scharren auf dem Dachboden ließ ihn plötzlich zusammenzucken. Es hörte sich an, als würden unzählige winzige Krabben über die Holzplanken wuseln. Seth hob den Kopf und lauschte. Eine eisige Hand umklammerte sein Herz.

Ich kenne dieses Geräusch.

Er durfte keine Zeit verlieren. Draußen zuckten Blitze über den Himmel, auf die ohrenbetäubender Donner folgte. Das Gewitter kam näher. Seth schlüpfte eilig in eine Regenjacke und warf sich den Rucksack über die Schultern. Als er gerade hinausstürzen wollte, wurde die Tür von der anderen Seite aufgestoßen.

»Hast du schon mal so ein Gewitter erlebt?«, rief seine Mutter fröhlich. »Es kommt einem vor, als würde jeden Moment die Welt unter…« Sie hielt mitten im Satz inne und betrachtete Seth, der mit Regenjacke und Rucksack vor ihr stand. »Du willst doch nicht etwa bei diesem Wetter vor die Tür gehen?« Ein erstaunter Ausdruck huschte über ihr rundes Gesicht. Sie trug einen bequemen Jogginganzug. Ihre blonden Haare, die zu einer praktischen Kurzhaarfrisur geschnitten waren, schienen von Tag zu Tag grauer und farbloser zu werden.

Genauso werde ich sie in Erinnerung behalten, dachte Seth traurig. Mit diesem verwirrten Gesichtsausdruck. Sie hat noch nie etwas verstanden.

»Ich muss los«, sagte er ungeduldig.

»Aber wo willst du denn hin?«, fragte sie.

»Keine Ahnung. Weg.«

Sie starrte ihn verständnislos an. Er hätte sich eine Ausrede einfallen lassen können, irgendetwas, nur damit sie ihn vorbeiließ und er endlich aus dem Haus kam. Aber Seth schätzte Ehrlichkeit über alles. Er war kein Lügner.

»Ich hab keine Zeit, Mum«, drängte er, als sie sich ihm in den Weg stellte. »Lass mich bitte vorbei.«

Tränen glitzerten in ihren Augen und sofort bereute er seinen gereizten Tonfall. Er war so oft genervt von seinen Eltern, deren Leben ihm so unendlich langweilig und vorhersehbar erschien, dass er darüber vergaß, dass auch sie Gefühle hatten.

»Nein, du gehst nicht«, sagte seine Mutter leise. Und dann wiederholte sie noch einmal etwas lauter und bestimmter: »Nein, du gehst nicht! Nicht nach dem, was letztes Mal passiert ist. Ich lasse nicht zu, dass du noch einmal verschwindest!«

Sie trat einen Schritt auf ihn zu und versuchte unbeholfen, ihm den Rucksack vom Rücken zu zerren.

»Lass mich los, Mum!«

»Du wirst nicht noch einmal verschwinden! Das lasse ich nicht zu!«

»Mum, ich…«

Er wollte sie nur aus dem Weg schieben, stieß sie aber im Eifer des Gefechts mit solcher Wucht von sich, dass sie rückwärts gegen den Kleiderschrank taumelte, sich den Ellbogen anschlug und in Tränen ausbrach.

»Warum tust du uns das immer wieder an?«, schluchzte sie.

Seth hasste sich dafür, ihr solchen Kummer zu bereiten. Seine Eltern hatten einen Sohn verdient, auf den sie stolz sein konnten, nicht einen, der es kaum ertrug, mit ihnen im selben Raum zu sein. Sie konnten schließlich nichts dafür, dass sie so waren, wie sie nun mal waren. Er streckte die Hand nach seiner Mutter aus, ließ sie aber gleich wieder sinken. Wie sollte er ihr begreiflich machen, dass er es auch für sie tat? Dass die, die es auf ihn abgesehen hatten– wer auch immer sie waren–, ihnen allen den Tod bringen konnten? Wie sollte er ihr etwas erklären, was er selbst kaum verstand? »Es tut mir wirklich leid, Mum«, sagte er traurig. »Aber ich habe keine andere Wahl.«

Er rannte aus dem Zimmer, die Treppe hinunter. Seine Mutter stürzte ihm hinterher. »Mike! Mike!«, rief sie mit durchdringender Stimme nach seinem Vater. »Seth will wieder weglaufen. Du musst ihn aufhalten!«

Seth hatte gerade die Haustür aufgerissen und schon einen Fuß nach draußen gesetzt, als eine starke Hand ihn am Unterarm packte.

»Hiergeblieben, Junge!«, sagte sein Vater streng. Seth spürte eine unglaubliche Wut in sich aufsteigen und riss sich mit einem Ruck los. Warum interessierte sich sein Vater immer nur dann für ihn, wenn er um seine Autorität fürchtete?

Vater und Sohn standen sich in der Tür gegenüber und funkelten sich zornig an. Seths Mutter war auf der Treppe stehen geblieben, presste eine Hand vor den Mund und beobachtete die beiden mit angstvoll geweiteten Augen. Seth hatte vielleicht noch nicht die Kraft, es tatsächlich mit seinem Vater aufzunehmen, aber er würde sich nicht kampflos geschlagen geben.

»Ich muss gehen«, sagte er mit fester Stimme. »Sobald ich kann, komme ich wieder zurück.«

»Oh nein! Du wirst nirgendwo hingehen«, sagte sein Vater drohend. »Ich lasse nicht zu, dass du deiner Mutter noch mal das Herz brichst. Ist das etwa der Dank für das schöne Leben, das wir dir bieten?«

»Es gibt Dinge, die wichtiger sind, als zu Hause zu hocken und fernzusehen, Dad«, entgegnete Seth.

Sein Vater setzte gerade zu einer wütenden Antwort an, als ein furchterregender Schrei zum Himmel emporstieg. Es klang wie das Heulen eines Wolfes aus einem blutrünstigen Horrorfilm. Seths Vater wurde bleich.

»Was war das?«, flüsterte seine Mutter.

»Sie sind hinter mir her, Mum«, sagte Seth ruhig. »Ich muss weg, bevor sie mich kriegen.«

»Du bleibst gefälligst hier, verstanden?«, befahl sein Vater, aber mit einem Mal war alle Autorität aus seiner Stimme verschwunden, und er war nur noch ein Mann mittleren Alters mit Bierbauch und schütterem Haar, der Angst vor der Dunkelheit hatte. »Und jetzt komm endlich rein und mach die Tür hinter dir zu. Im Haus ist es wenigstens sicher.«

Ein Blitz zuckte über den Himmel, begleitet von einem ohrenbetäubenden Donnern, und tauchte die Straße sekundenlang in blendend weißes Licht. Das Gewitter tobte mittlerweile direkt über ihrem Haus.

»Es ist nirgendwo mehr sicher, Dad«, sagte Seth. Und dann drehte er sich um und rannte davon.

3

Seth zog sich die Kapuze seiner Regenjacke über den Kopf und lief geduckt die Einfahrt hinunter. Der sintflutartige Regen hatte die Straße in einen reißenden Fluss verwandelt, strömte in Sturzbächen am Dach der Kirche herunter, schoss aus den Fallrohren, pladderte auf die Fensterbretter der alten Pfadfinderhütte und peitschte gegen das rostige Klettergerüst im Pausenhof der Grundschule. Dazu fegte heulend der Wind durch die Gassen, begleitet von den kläglichen Schreien der Katzen aus der Nachbarschaft. Irgendwo da draußen musste etwas Grauenhaftes lauern.

Im Laufen warf Seth einen Blick über die Schulter. Seine Eltern standen in der Haustür. Seine Mutter rief irgendetwas und versuchte sich von seinem Vater loszureißen. Doch der hielt sie fest, zog sie ins Haus und knallte die Tür zu.

Seth war erleichtert. Möglicherweise hatte sein Vater, als er das markerschütternde Heulen gehört hatte, auf einmal doch gespürt, dass es Dinge gab, über die nicht in den Zeitungen berichtet wurde, die nicht in Talkshows von Politikern und Wissenschaftlern erklärt werden konnten und die dennoch existierten. Dinge, die ihm eine Heidenangst einjagten.

Seth ging davon aus, dass seine Eltern im Haus sicher waren, schließlich waren sie hinter ihm her. Genauer gesagt, hinter der Skulptur. Dem Shard.

Seth rannte bis zur nächsten Straßenkreuzung und blieb dann einen Moment lang unschlüssig stehen. Er hatte keine Ahnung, wohin er gehen sollte, wusste nur, dass er schleunigst von hier verschwinden musste. Blitze durchbrachen die Wolkendecke und tauchten die Bäume, die sich rings um die Kirche ächzend unter der Wucht des Sturms bogen, in ein unheimliches Licht. Auf den Straßen waren weder Fußgänger noch Autos unterwegs. Alles, was Beine hatte, schien sich vor dem Gewitter in Sicherheit gebracht zu haben.

Seth spähte vorsichtig um eine Häuserecke und erstarrte, als er einen Mann in seine Richtung eilen sah. Sein riesiger, massiger Körper wurde von einem langen Regenmantel verhüllt. Er trug einen grauen Herrenhut, den er sich tief in die Stirn gezogen hatte, sodass man sein Gesicht nicht erkennen konnte. Aber Seth brauchte es nicht zu sehen, um zu wissen, wer dieser Mann war. Icarus Scratch.

Mit klopfendem Herzen drehte Seth sich um, rannte die Straße ein kurzes Stück zurück und lief dann quer über den Friedhof. Bäume säumten den ausgetretenen Weg und ihr Rascheln jagte ihm eine Gänsehaut über den Rücken. Es war fast, als würden sie seinen Feinden zuzischeln: Hier ist er! Hier! Der Junge ist hier!

Als er auf der anderen Seite des Friedhofs durch das Tor stürmte, fand er sich in einer kleinen Wohnstraße wieder. Straßenlaternen gingen flackernd an und tauchten die dunkle Gasse in tröstliches gelbes Licht. Die Gasse mündete in eine breite Hauptverkehrsstraße, an der die weiterführende Schule mit ihren großen Sportplätzen lag. Dahinter begannen die Felder und Wälder, von denen Hathern umgeben war. Seth entschied sich spontan, in dieser Richtung weiterzulaufen, obwohl es letzten Endes wahrscheinlich sowieso keine Rolle spielte, welchen Weg er einschlug.

Er sah sich noch einmal prüfend um, ob Scratch ihm auch nicht gefolgt war, und lief dann auf die Kreuzung zu, als plötzlich jemand aus dem Dunkel zwischen zwei Häusern trat.

Seth blieb wie angewurzelt stehen. Es war eine dünne Frau in einem altmodischen schwarzen Kostüm. Ihre blonden Haare waren zu einem strengen Dutt frisiert, der ihr schmales Gesicht noch spitzer wirken ließ. Mit der einen Hand presste sie eine große Tasche an ihren Körper, in der anderen hielt sie einen Regenschirm.

»Ein scheußliches Unwetter ist das«, rief sie, während sie geduckt auf ihn zueilte. »Meine Güte, Junge, du bist ja völlig durchnässt! Warte. Ich habe noch einen Ersatzregenschirm in der Tasche.« Sie hielt ihm ihren eigenen Schirm hin. »Könntest du den kurz für mich halten, dann hole ich ihn schnell heraus.«

Warum nicht?, dachte Seth. Die Frau sah völlig harmlos aus und einen Regenschirm konnte er tatsächlich gut gebrauchen. Er streckte die Hand danach aus, als plötzlich ein Blitz über sie hinwegzuckte. Das freundlich lächelnde Gesicht der Frau verwandelte sich für den Bruchteil einer Sekunde in das Antlitz eines Dämons: eine von Falten durchfurchte Fratze mit blitzenden Reißzähnen und gelb glühenden, horizontal geschlitzten Augen, die direkt aus einem Albtraum entsprungen zu sein schien.

Seine Freundin Kady hatte ihm von dieser Frau erzählt. Sie hieß Miss Benjamin. Und sie war noch viel gefährlicher als Icarus Scratch.

Sobald Miss Benjamin seine erschrockene Miene bemerkte, verzerrte sich ihr Gesicht zu einer höhnischen Grimasse. Ihre Hand schnellte nach vorne, um seinen ausgestreckten Arm zu packen, aber Seth zog ihn gerade noch rechtzeitig zurück, sodass ihre spitzen Fingernägel nur seine Jacke streiften. Seth drehte sich um und rannte, so schnell er konnte, durch den strömenden Regen davon.

»Du kannst uns nicht entkommen, Seth Harper!«, kreischte sie ihm hinterher. »Wir finden dich, ganz egal, wohin du auch gehst. Gib uns den Shard!«

Panik stieg in ihm auf. Der Anblick des Dämons hatte ihm das Blut in den Adern gefrieren lassen. In Todesangst floh er durch die Straßen. Der Regen lief ihm übers Gesicht, der Sturm zerrte an seiner völlig durchnässten Kleidung und bei jedem Schritt schlug ihm der Rucksack mit der schweren Skulptur gegen den Rücken. Er rannte durch schmale Gässchen, hetzte durch Vorgärten und drückte sich an Häuserwänden entlang. Gelegentlich erhaschte er einen Blick auf eine Katze, die neben ihm herhuschte oder ihn von einem Dach aus beobachtete. Überhaupt schienen alle Katzen im Ort von einer seltsamen Unruhe befallen zu sein. Immer wieder hörte er sie jämmerlich maunzen oder schreien. Seth fragte sich, auf wessen Seite sie waren. Verrieten sie seinen Feinden, wo er war, oder wollten sie ihn warnen, so schnell wie möglich das Weite zu suchen?

Mittlerweile war er bei der Schrebergartensiedlung angelangt. Der Regen hatte die Erde der Gemüse- und Blumenbeete in schwarzen Matsch verwandelt. Hinter den Gärten begann der Wald. Dazwischen lag nur eine Landstraße.

Keuchend hielt Seth darauf zu, sprang über Zäune und stürmte quer durch die Beete. Bei jedem seiner Schritte spritzte Schlamm auf und er drohte mit den Turnschuhen auf dem glitschigen Untergrund auszurutschen. Immer wieder warf er angstvolle Blicke über die Schulter, aber es war so dunkel, dass er kaum etwas sehen konnte.

Und dann ertönte wieder dieses grauenerregende Heulen, das seinen Vater vorhin so erschreckt hatte. Nur dass es diesmal ganz aus der Nähe kam.

Es klang, als würde das Ungeheuer irgendwo in der Schrebergartensiedlung herumstreifen.

Seth hastete durch die Gemüsebeete, ohne darauf zu achten, wo er hintrat, aber der starke Wind, der Regen und der matschige Boden bremsten ihn immer wieder aus. Unter Aufbietung aller Kräfte sprintete er auf die Landstraße zu.

Blitze flammten auf und ließen die Umgebung sekundenlang aus dem Dunkel hervortreten. Da! Irgendetwas Riesiges bewegte sich hinter einem der Holzverschläge. Seth erhaschte bloß einen flüchtigen Blick auf die raubkatzenähnlichen Hinterläufe, doch das reichte, um ihn erstarren zu lassen.

Bitte mach, dass es mich nicht gesehen hat!

Aber alles Flehen war vergeblich. Wieder durchschnitt das lang gezogene Heulen die Nacht, das sich schließlich zu einem hyänenhaften Schrei steigerte. Seth rannte weiter, so schnell die Beine ihn trugen.

Er hatte das Ende der Schrebergartensiedlung fast erreicht, als das Ungeheuer plötzlich knurrend durch eine Hecke brach und ihm in großen Sprüngen hinterherhetzte. Seths Lunge brannte und seine Beine schmerzten wie noch nie in seinem Leben, aber er wusste, dass diese Bestie ihn in Stücke reißen würde, wenn er jetzt auch nur einen winzigen Moment lang Schwäche zeigte.

Mit letzter Kraft sprang er über den Zaun am Rande der Siedlung und schlitterte den dahinterliegenden Abhang hinunter. Er hörte Motorengeräusche, helles Licht blendete ihn, dann ertönte das Kreischen von Bremsen. Er war mitten auf der Fahrbahn vor einem herannahenden Auto gelandet.

Blitzschnell rollte er sich zur Seite, als die Bestie auch schon in riesigen Sätzen die Böschung herabgesprungen kam. Im Lichtkegel der Autoscheinwerfer erhaschte er einen Blick auf sie. Was er sah, war eine grotesk mutierte, löwenartige Raubkatze mit gebogenen Reißzähnen und gelb blitzenden Augen. Aus ihrem struppigen, vor Dreck starrenden Fell wuchsen verdrehte Hörner und Knochenplatten und über dem massigen Schädel trug sie eine mit Widerhaken und spitzen Stacheln besetzte eiserne Maske.

Aber schon in der nächsten Sekunde prallte das Auto mit voller Wucht gegen die Bestie und die Scheinwerfer erloschen schlagartig. Durch den Zusammenstoß wurde das Raubtier mehrere Meter weit weg an den Straßenrand geschleudert, wo es reglos liegen blieb.

Wieder zuckten Blitze über den Himmel und tauchten die Szenerie in gleißendes Licht. Seth sah einen dunkelhäutigen, ungefähr achtzehn Jahre alten Jungen am Steuer des Wagens sitzen, der vor Schreck wie versteinert war. Hinter ihm auf der Rückbank saß ein Mädchen im Halbschatten und starrte mit offenem Mund auf die Fahrbahn.

Die Bestie lag einen Moment lang ganz still, dann begann sie sich langsam wieder zu regen.

Seth zögerte keine Sekunde. Er rannte zum Wagen, riss die hintere Tür auf, ließ sich auf die Rückbank fallen und knallte die Tür zu. Als das Mädchen ihn erstaunt ansah, stellte er fest, dass er es aus der Schule kannte. Sie hieß Alicia Lane und war eine Klasse über ihm.

»Fahr los!«, brüllte er dem Jungen am Steuer zu.

Der drehte sich um. »Hey, was…?«

»Fahr schon!«

Der Junge stieg aufs Gaspedal. Der Wagen machte einen Satz und schoss schlingernd an der Bestie vorbei, die gerade wieder aufgesprungen war. Als sie an ihr vorbeirasten, erhellte ein weiterer Blitz den Himmel. Alicia drückte sich an die Fensterscheibe und blickte hinaus, bis das Tier nicht mehr zu sehen war. Dann wandte sie sich vom Fenster ab und sah Seth mit vor Schreck geweiteten Augen an. Er erwiderte ihren Blick stumm, ließ sich ins Polster zurücksinken und stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus.

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