Vorbereitungen
1
Auf dem langen Rückweg durch den Regenwald waren sie ungewöhnlich still. Jeder von ihnen hing eigenen Gedanken nach, und wenn sie etwas sagten, dann drehte sich das Gespräch meist um die bevorstehende Schlacht. Wer würde daran teilnehmen und auf welche Weise konnten sie dazu beitragen? Sie waren keine Krieger. Kady sagte, sie würde nicht zulassen, dass die Jugendlichen von Havoc sich an der Schlacht beteiligten, wenn sie keine vernünftigen Waffen hätten, um sich gegen Tall Jakes Regulatoren und seine Kreaturen aus dem Haus des Todes zur Wehr zu setzen.
»Ach, da finden wir schon was«, warf Justin händereibend ein. »Ich freu mich jedenfalls schon darauf, ein paar Schädel einzuschlagen.«
Seth schwieg die meiste Zeit.
Er fragte sich, wie es nach der Schlacht weitergehen würde. Kady schien überhaupt nicht mehr an das zu denken, was sie in jener Nacht in Akropolis zu ihm gesagt hatte, aber er hatte es nicht vergessen. Sie war fest entschlossen, nach Hause zurückzukehren. Keine Diskussion. Wie er dazu stand, schien ihr egal zu sein.
Es kränkte ihn, dass sie noch nicht einmal versuchte, seinen Standpunkt zu verstehen. Dabei wusste sie doch, wie sehr ihn das eintönige Leben zu Hause langweilte. Warum fand sie die Vorstellung, jeden Morgen zur selben Zeit in die Schule oder später zur Arbeit zu gehen, nicht genauso erdrückend wie er? Hier in Malice musste man keinen Gedanken daran verschwenden, ob man gute Noten schrieb, damit man später mal einen Job fand. Malice war eine Welt voller Wunder und Abenteuer und… ja, auch voller Gefahren. Zu Hause gab es davon nicht viel. Dass Kady trotzdem zurückwollte, nahm er ihr übel. Sie zwang ihn dazu, sich zwischen ihr und Malice zu entscheiden.
Seine Gedanken wanderten zum Shard, den sie in der Obhut der Königin der Katzen zurückgelassen hatten. Seth war erleichtert, von dieser Bürde befreit zu sein, gleichzeitig aber auch stolz, dass sie es geschafft hatten, Tall Jakes Feinden eine so mächtige Waffe zur Verfügung zu stellen. Sie würden wissen, wie sie den Shard einzusetzen hatten. Allerdings wusste er, dass es damit noch nicht vorbei war. Der Schrecken würde erst dann ein Ende finden, wenn Tall Jake ein für alle Mal besiegt war.
Er dachte an Alicia und fragte sich, wie sie auf die Nachricht reagiert hatte, die er ihr auf die Mailbox gesprochen hatte, bevor er zum Bahndepot gegangen war. Hatte sie etwas unternommen? Wenn er ehrlich war, glaubte er es nicht. In der kurzen Zeit, die sie miteinander verbracht hatten, hatte er sie als nettes, hilfsbereites Mädchen kennengelernt, aber auch gemerkt, dass sie jemand war, der ungern Risiken einging. Vermutlich hatte sie sich seine Nachricht angehört und anschließend gleich wieder gelöscht.
Die drei Freunde folgten dem Führer, den ihnen die Königin der Katzen zur Verfügung gestellt hatte,– einem Jaguar– durch den Regenwald. Die Route war beschwerlich und an vielen Stellen mussten sie sich mit Macheten den Weg durchs Dickicht frei schlagen. Justin überlegte laut, ob Stöpsel wohl immer noch im Lager auf ihre Rückkehr wartete oder sofort das Weite gesucht hatte, nachdem sie aufgebrochen waren. »Na ja, wenigstens haben wir uns seinen halben Lohn gespart!« Er lachte.
Seth war nicht nach Lachen zumute. Ihn hatte eine merkwürdige Wehmut erfasst. Vielleicht war es der Gedanke daran, dass er und Kady sich bald trennen würden und dass ihr gemeinsames Abenteuer dann unweigerlich vorbei sein würde. Aber insgeheim wusste er, dass es noch etwas anderes war. Er hatte die Laq wochenlang in sich getragen und jetzt war sie nicht mehr da. Zusammen mit ihr hatte er seinen sechsten Sinn verloren und würde auch diese fremdartige Energie, die ihm so viel Kraft verliehen hatte, nie mehr spüren. Vor seinem geistigen Auge tauchte ihr schönes kaltes Gesicht auf.
Auf seltsame Weise vermisste er sie.
2
In der Tauchstation wurden sie mit großem Jubel empfangen. Die meisten der Havoc-Mitglieder hatten sich fast schon damit abgefunden, dass sie nicht mehr zurückkehren würden. Justin erzählte ihnen in den schillerndsten Farben vom Angriff der Mosaikmonster und genoss es sichtlich, so im Mittelpunkt zu stehen. Die Tatsache, dass er nur knapp dem Tode entronnen war, schien ihn für manche der Mädchen plötzlich sehr attraktiv zu machen.
Aber nachdem die Begeisterung über ihre Rückkehr sich wieder etwas gelegt hatte, mussten sie sich von Neuem der harten Realität stellen. Die meisten aus der Gruppe freuten sich auf die Schlacht gegen Tall Jake, obwohl dem einen oder anderen durchaus die Angst davor anzumerken war. Kady besprach mit Dylan und Scotty, zu welchen anderen Rebellengruppen sie Kontakt aufnehmen könnten, um sie für den Plan zu gewinnen. Dylan war sich sicher, dass die meisten bereit sein würden, in den Kampf zu ziehen. Fast jeder Bewohner von Malice hatte einen Grund, sich an Tall Jake zu rächen. Wahrscheinlich gab es so gut wie keinen, der nicht einen Verwandten oder Freund hatte, der ins Haus des Todes verschleppt oder von den Regulatoren hingerichtet worden war. Alle kannten jemanden aus einem der Dörfer, die dem Erdboden gleichgemacht worden waren. Tall Jake hatte sich während der Zeit seiner Herrschaft unzählige Feinde gemacht.
»Aber womit sollen wir kämpfen?«, fragte Kady zweifelnd.
»Gute Frage. Mit Stöcken und Ästen können wir schlecht in die Schlacht ziehen«, sagte Justin.
»Kommt mal mit.« Dylan grinste. »Ich zeig euch was.«
Kady und Justin folgten ihm in das Untergeschoss der Tauchstation, wo Dylan eine schwere Stahltür öffnete, die in einen kleinen Raum führte.
»Meine Schatzkammer«, verkündete er stolz.
Kady sah sich staunend um. Der nur spärlich beleuchtete Raum war bis zur Decke mit allen möglichen Utensilien gefüllt. Helme von Regulatoren, Rüstungen, die nicht aussahen, als wären sie für Menschen bestimmt, mechanische Geräte für die unterschiedlichsten Zwecke, Dampfzylinder von Lokomotiven und diverse Maschinenteile. In den Regalen entdeckte sie Camping-Kochgeschirr und Vorratsdosen und an den Wänden stapelten sich Holzkisten.
»Wo hast du das ganze Zeug her?«, rief Justin und sah sich begeistert um. Für ihn als leidenschaftlichen Mechaniker gab es nichts Schöneres als alte Maschinen und Ersatzteile.
»Getauscht, geklaut, gekauft oder erbettelt«, erzählte Dylan. »Ich tausche schon seit einiger Zeit Sachen mit den anderen Gruppen aus der Gegend und in der Stadt gibt es haufenweise Händler.«
»Ich weiß nicht, ob es so viel bringt, wenn wir Tall Jakes Armee in der Schlacht mit Müll bewerfen«, meinte Kady skeptisch.
»Hey! Das ist kein Müll!« Justin tauchte mit empörtem Gesicht hinter einem Haufen alter Getriebe und Zahnräder auf.
»Erinnert ihr euch noch an die Blocker, die wir im Terminus eingesetzt haben?«, fragte Dylan. »Das sind nicht die einzigen Waffen, die wir haben. Vor einer Weile haben wir einen Waggon mit Nachschub für Tall Jakes Sicherheitsdienst gekapert und eine ganze Menge nützlicher Sachen erbeutet.«
»Ich hab davon gehört!«, rief Justin. »Ihr habt damals einen Teil der Gleisstrecke lahmgelegt und euretwegen musste der gesamte Zugverkehr eingestellt werden. Ich war mit Seth noch im Uhrenturm, als es passierte!«
Dylan zuckte mit den Schultern. »Davon weiß ich nichts. Aber ich weiß, dass wir die hier haben!«
Er nahm etwas von der Wand, was aussah wie eine mittelalterliche Lanze aus Metall. Nur war sie kürzer und mit einem Griff versehen, aus dem dicke Kabel hingen, die in einem schweren Tornister endeten.
»Was ist das? Ein Flammenwerfer?«, fragte Justin mit leuchtenden Augen.
»Schön wär’s. Das ist eine Elektrolanze. Ich hab insgesamt zwölf Stück davon, also ungefähr eine für jedes Mitglied von Havoc, dem ich zutraue, auf dem Schlachtfeld zu kämpfen. Die anderen sollten zur eigenen Sicherheit lieber hierbleiben.«
»Und was können die Dinger?«, fragte Justin, der sich gleich einen den Tornister umhängte und die Lanze in die Hand nahm.
»Im Inneren des Griffs befindet sich ein Auslöser, wenn du den drückst, kannst du deinem Gegner einen elektrischen Schlag verpassen, der ihn sofort bewusstlos macht.«
»Für wie lange?«
»Einer der Jungs, der auf dem Raubzug dabei war, hat sich aus Versehen damit in den Fuß geschossen. Der war für vierundzwanzig Stunden ausgeschaltet.«
»Wieso haben wir die damals nicht im Terminus eingesetzt?«, fragte Kady.
Dylan schüttelte den Kopf. »Die Teile sind ziemlich auffällig. Man kann sie nicht einfach unter den Klamotten verstecken.«
»Und warum hast du mir die Kammer nicht schon längst gezeigt?«
Dylan zuckte mit den Schultern. »Ihr wart so sehr damit beschäftigt, eure Reise nach Akropolis zu planen.«
Plötzlich schoss ein greller Blitz durch den Raum. Kady und Dylan zuckten zusammen und hielten sich die Hände vor die Augen. Als sie es wagten, sie wieder runterzunehmen, sahen sie, dass um einen der Kistenstapel blaue Stromblitze zuckten. Justin setzte die Lanze vorsichtig ab.
»Ups«, sagte er und grinste verlegen. »Na ja. Jetzt wissen wir wenigstens, dass sie funktionieren.«
3
In den darauffolgenden zwei Wochen ging Kady mit Dylan von Ort zu Ort und versuchte möglichst viele Unterstützer zusammenzutrommeln, die bereit waren, gegen Tall Jake in den Kampf zu ziehen. Gelegentlich kehrten die beiden kurz zur Tauchstation zurück, um zu schlafen und sich über den Stand der Vorbereitungen zu informieren. Seth sah seine Freundin nur noch selten. Er verbrachte die meiste Zeit mit Justin und fühlte sich immer elender.
Es dauerte lange, bis er begriff, was der Grund für seine deprimierte Stimmung war. Es war weder die Angst vor der bevorstehenden Schlacht noch der Verlust der Laq oder das Wissen, dass seine und Kadys Wege sich trennen würden. Der wahre Grund für seine Unruhe war ein ganz anderer.
Es war Justin, der ihn schließlich darauf brachte. »Alter, du bist schlecht drauf, weil du nicht willst, dass es vorbei ist. Du würdest am liebsten für immer hierbleiben. Aber keiner weiß, wie es mit Malice weitergeht, wenn wir Tall Jake geschlagen haben.«
Sie saßen in dem kleinen Labor der Tauchstation. Justin hockte am Untersuchungstisch und schraubte an einer Maschine herum, die er aus Dylans Schatzkammer heraufgeholt hatte, während Seth am Fenster saß und trübsinnig auf die Fische im See hinausblickte.
»Du hast Recht«, sagte Seth. »Was passiert, wenn wir ihn besiegen? Wird der Comic dann sofort eingestellt? Und wenn ja, was passiert dann? Ohne den Comic gibt es auch keine Leser. Aber wenn niemand mehr den Comic liest, wird auch niemand mehr daran glauben. Bedeutet das, dass Malice dann verschwindet?«
»Tja, frag mich was Leichteres. Aber die Laq hat gesagt, dass es Malice schon vor dem Comic gegeben hat. Dieser Grendel hat Malice erschaffen. Okay, wenn der stirbt… ich weiß nicht, was dann passiert. Aber ehrlich gesagt glaub ich nicht, dass Malice verschwindet, solange er lebt. Ich meine, schau dich um– Malice existiert, es ist real.«
Seth nickte, obwohl er immer noch nicht wirklich überzeugt war. Er ertrug den Gedanken nicht, dass er den Ort, an dem er glücklich sein konnte, vielleicht schon bald wieder verlieren würde. Er hatte Angst davor, dass das Abenteuer bald zu Ende sein würde.
Scotty wählte eine kleine Gruppe aus, die mit den Elektrolanzen trainieren sollte. Keiner wusste, was sie in der Schlacht erwarten würde, aber Scotty wollte, dass sie bestmöglich vorbereitet waren. Wie Dylan bereits gesagt hatte, gab es letztendlich nur zwölf Mitglieder von Havoc, die sich zutrauten, im Kampf zu bestehen– darunter Kady, Seth, Justin und Scotty selbst. Tatyana würde natürlich auch mitkommen. Die Übrigen waren zu jung, hatten zu viel Angst oder waren zu schwach, um die schweren Tornister mit den Batterien auf dem Rücken zu tragen.
Seth trainierte jeden Tag stundenlang mit den anderen, bis die Batteriepacks leer waren und mithilfe des Generators wieder aufgeladen werden mussten. Das Training tat ihm gut, weil es ihn von seinen schwermütigen Gedanken ablenkte.
Kady nahm zwar auch an den Trainingseinheiten teil, war aber in der übrigen Zeit mit anderen Dingen beschäftigt, sodass sie sich nur selten sahen. Sie fragte Seth nicht, ob er Lust hatte, sie auf ihren Expeditionen zu begleiten, und er fragte sie nicht, ob er mitkommen durfte. Es hatte fast den Anschein, als würden sie sich aus dem Weg gehen. Und ohne dass sie darüber gesprochen hätten, war beiden bewusst, dass ihre Beziehung nicht mehr so eng war wie früher.
Eines Tages kam Andersen über den See geschwommen. In seinem Halsband steckte eine Nachricht. Scotty nahm sie heraus, las sie, sah Seth an und nickte ernst.
Es war so weit.