Quer durch die Hauptstadt
1
»Ähem… Kann mir vielleicht mal jemand erklären, was hier los ist?«, fragte Justin ungeduldig.
»Glaub mir, das wüsste ich auch gern«, sagte Kady verdattert. Sie war mindestens so überrascht wie Justin gewesen, als der fremde Junge plötzlich begeistert aufgesprungen und ihr um den Hals gefallen war. Eigentlich hatte sie erwartet, dass er ihnen voller Misstrauen begegnen und ihnen im Flüsterton jede Menge kritischer Fragen stellen würde. Immerhin handelte es sich hier um ein Mitglied der geheimen Untergrundorganisation Havoc.
Sie und Justin versuchten schon seit Wochen Kontakt zu der Gruppe herzustellen. Die Jugendlichen von Havoc hatten es sich zum Ziel gesetzt, Tall Jake zu stürzen, und schafften es durch ihre Sabotageakte immer wieder, ihm empfindliche Schläge zu versetzen. Auf ihren Schultern ruhte die Hoffnung all jener, die Tall Jake in seine todbringende Welt verschleppt hatte.
Ehrlich gesagt hatte Kady sich die Begegnung mit einem der Guerillakämpfer von Havoc etwas beeindruckender vorgestellt.
Der Junge ließ sie los und grinste unsicher. Er war asiatischer Abstammung, sprach mit unverkennbar amerikanischem Akzent und hatte ein offenes, freundliches Gesicht.
»Mann, Kady, sag bloß, du hast mich schon vergessen?« Er schüttelte lächelnd den Kopf. »Dabei ist es doch höchstens ein Jahr her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben! Na gut, vielleicht auch ein bisschen länger, aber was zählen schon ein paar Wochen mehr oder weniger? Jedenfalls freu ich mich total, dass du wieder bei uns bist.« Er schlug ihr freundschaftlich auf den Rücken.
»Aua!« Sie rieb sich die Schulter.
Sein Lächeln erstarb, als er plötzlich begriff, dass sie wirklich keine Ahnung hatte, wer er war. »Mensch, Kady. Ich bin’s– Scotty!«, sagte er. »Scotty Chen!«
Aber Kady war deutlich anzusehen, dass der Name ihr rein gar nichts sagte. »Kenne ich dich von früher?«
»Sag mal, soll das ein Witz sein?«, rief der Junge aufgebracht. »Natürlich kennen wir uns.«
Justin verdrehte die Augen. »Was dagegen, wenn ich mich mal kurz einmische? Vielleicht solltest du ihm sagen, dass du dein Gedächtnis verloren hast, Kady, sonst geht das hier noch ewig so weiter.«
»Sie hat was?«, fragte Scotty.
Kady sah sich nervös in der Trinkstube um. Einige der anderen Gäste waren auf sie aufmerksam geworden und beäugten sie neugierig. »Was haltet ihr davon, wenn wir uns setzen und die Sache in Ruhe besprechen?«, schlug sie vor. »Ich hab da draußen Regulatoren patrouillieren sehen…«
Die beiden Jungs nickten und die drei nahmen am Tisch Platz. Tatyana setzte sich wachsam neben sie.
»Die Regulatoren lassen sich hier drin nie blicken«, beruhigte Scotty sie. »Deswegen hab ich diese Trinkstube auch als Treffpunkt ausgesucht.«
»Okay«, sagte Justin. »Aber wir sollten uns trotzdem etwas unauffälliger verhalten, falls du verstehst, was ich meine.«
»Ach so, ja. Klar«, sagte Scotty kleinlaut. »Tut mir leid, ich hab mich einfach so gefreut, dich wiederzusehen, Kady.« Er sah sie kopfschüttelnd an. »Sag mal, du erkennst mich wirklich nicht wieder, oder?«
»Nein.« Sie zuckte bedauernd mit den Schultern. »Tut mir echt leid.«
Es war ihr ziemlich unangenehm, diesem Jungen gegenüberzusitzen, den sie offensichtlich irgendwann einmal gut gekannt, an den sie jedoch keinerlei Erinnerung mehr hatte. Es gab in ihrem Leben eine Zeitspanne von vier Monaten– den Sommer vor einem Jahr–, während der sie wie vom Erdboden verschluckt gewesen war. In ihrer Erinnerung war diese Zeit völlig ausgelöscht, und sie hatte nur eine vage Vorstellung von dem, was währenddessen passiert sein könnte. Offenbar war sie damals in Malice gewesen und hatte es irgendwie geschafft zu entkommen. Jetzt war sie zum zweiten Mal in der Comicwelt. Vielleicht konnte der Junge– Scotty– ihr sagen, was während ihres ersten Aufenthalts passiert war.
»Waren wir beide befreundet?«, fragte sie ihn.
»Kann man so sagen«, antwortete er traurig. »Sogar ziemlich gut. Ich kann einfach nicht glauben, dass du dich wirklich nicht mehr daran erinnern kannst.«
»Nimm’s nicht persönlich, Alter«, tröstete Justin ihn. »Das geht jedem so, der aus Malice fliehen kann. Sobald du draußen bist, ist deine ganze Erinnerung ausgelöscht und du weißt nichts mehr von dem, was hier passiert ist.«
Scottys Augen weiteten sich. »Stimmt das?«, fragte er Kady.
»Ja, leider. Das geht allen so. Was glaubst du, warum bis jetzt noch niemand versucht hat, von der Außenwelt aus etwas gegen Malice zu unternehmen? Keiner kann sich daran erinnert, dass er überhaupt hier war.«
Sie dachte an Seth. War der posthypnotische Befehl, den sie seinem Unterbewusstsein erteilt hatte, stark genug, um seine Erinnerungen zu reaktivieren? Oder hatte er sie womöglich auch für immer vergessen?
Nein! Das konnte und wollte sie nicht glauben. Seth hatte ihr versprochen zurückzukommen und er hatte noch nie ein Versprechen gebrochen.
Scotty saß stumm da. Offenbar musste er das Gehörte erst einmal verdauen. »Das erklärt einiges«, sagte er schließlich. »Kein Wunder, dass nie jemand zurückgekommen ist.« Er sah die beiden hilflos an. »Verdammt. Das haben wir nicht gewusst.«
»Natürlich nicht.« Justin lachte bitter. »Wer hätte es euch denn auch sagen sollen? Nur so kann Malice auf Dauer funktionieren. Nur dadurch bleibt es geheimnisvoll.« Und dann fügte er noch trocken hinzu: »Aber eins muss man denen lassen. Die Idee ist ziemlich genial.«
»Genial?«, rief Scotty angewidert.
»Justin spinnt. Der behauptet sogar, er würde gern in Malice leben!« Kady bedachte ihren Begleiter mit einem nachsichtigen Lächeln, als würde sie ihn für unzurechnungsfähig halten.
»Hier ist es auf jeden Fall besser als in Kilburn, wo ich aufgewachsen bin«, sagte Justin. »Was hauptsächlich daran liegt, dass mein Alter nicht hier ist.« Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und deutete mit einer ausholenden Handbewegung auf die bunt zusammengewürfelte Gästeschar in der Trinkstube. »Ich meine, schaut euch die Einheimischen doch an. Dass sie langweilig sind, kann man ihnen jedenfalls nicht vorwerfen.«
Dagegen konnte Kady nichts einwenden. Sie als nicht langweilig zu bezeichnen, war sogar noch stark untertrieben. Seit sie in der Hauptstadt von Malice angekommen waren, die von allen einfach nur »Die Stadt« genannt wurde, war sie aus dem Staunen über ihre Bewohner nicht mehr herausgekommen. Hier lebte die verrückteste Mischung von Geschöpfen, die man sich überhaupt nur vorstellen konnte. Manche von ihnen waren äußerlich nicht von normalen Menschen zu unterscheiden, aber die meisten hatten nicht die geringste Ähnlichkeit mit ihnen. Einige bewegten sich wie Tiere auf allen vieren fort, andere hatten Körper, die mit vielen kleinen Schuppen bedeckt waren, Schwänze, unzählige Augen oder lange, schmale Köpfe mit weichen Nüstern. Kady war muskelbepackten Ogern mit mechanischen Armen begegnet und Wesen, die sich explosionsartig auflösten, sobald man sie ansprach. Andere wechselten so rasend schnell ihre Gestalt, als würde man im Sekundentakt durch Fernsehkanäle zappen.
Seltsamerweise hatte sie sich schon bald an die fremdartigen Geschöpfe gewöhnt, obwohl sie vor nicht allzu langer Zeit noch nicht einmal daran geglaubt hatte, dass diese Welt überhaupt existierte. Sie hatte Malice für ein albernes Gerücht gehalten, das Jugendliche aus Langeweile auf dem Schulhof verbreiteten. Aber jetzt saß sie hier in dieser verdreckten Trinkstube in einem der heruntergekommensten Viertel der Stadt– mitten in Malice– und alles war genauso real wie in der Welt, aus der sie kam: der Duft von Zigarren und Grillfleisch, der die Luft schwängerte. Die lauten Stimmen und das Lachen der Leute, die an den Tischen saßen oder an der Theke lehnten. (Kady benutzte den Begriff »Leute« mittlerweile sehr weit gefasst.) Die Wärme der verschwitzten Körper und des Feuers aus der Küche.
Sie selbst war so absurd angezogen, dass man sie in Kalifornien, wo sie ursprünglich herstammte, ausgelacht hätte. Hier wunderte sich niemand über ihren bizarren Aufzug.
Es war eine Tatsache. Sie lebte jetzt in einem Comicheft.
Justin stützte die Ellbogen auf die Tischplatte und beugte sich vor. »Bevor wir hier groß Wiedersehen feiern, würde ich gern was klären«, sagte er leise zu Scotty. »Kannst du uns zu Havoc bringen oder nicht?«
»Na klar.« Scotty sah Kady lächelnd an. »Ich freu mich schon auf die Gesichter der anderen, wenn sie dich sehen. Die werden sich total freuen, dass du wieder da bist.«
»Dass ich wieder da bin?«, fragte Kady überrascht. »Heißt das, ich war schon mal Mitglied bei Havoc?«
Scotty sah sie an, als hätte sie einen Witz gemacht. »Mitglied? Du warst unsere Anführerin!«
Kady war sprachlos. Justin klappte die Kinnlade herunter.
Plötzlich sprang Scotty auf und sagte mit sachlicher Stimme: »Hört zu. Ich erkläre euch alles Weitere auf dem Weg zu unserem Versteck, okay? Aber jetzt sollten wir lieber losgehen. Unter den gegebenen Umständen können wir uns die übliche Aufnahmeprüfung für neue Rekruten wahrscheinlich sparen.« Er ging in gebührendem Abstand um Tatyana herum und beäugte sie misstrauisch. »Hübscher Tiger übrigens, den ihr da mithabt.«
»Sag mal, Scotty?« Kady war eine Idee gekommen. »Bei euch hat sich in letzter Zeit nicht zufälligerweise ein Junge namens Seth gemeldet, oder? Könnte sein, dass er nach mir gefragt hat.«
Scotty schüttelte den Kopf. Er hatte den Namen offensichtlich noch nie gehört. »Tut mir leid. Einen Seth gibt es bei Havoc nicht.«
Kady sah einen Moment lang traurig aus, dann rang sie sich ein Lächeln ab. »Na ja, hätte ja sein können«, sagte sie.
2
Ein ganzer Monat war vergangen, seit Kady sich in Skarlas Wohnhöhle von Seth verabschiedet hatte.
Es war schrecklich gewesen. Sie hatte sich in den Nebenraum geflüchtet, um ihre Tränen zu verbergen und weil sie einfach nicht mit ansehen konnte, wie ihr bester Freund durch die runde Holztür verschwand und in die Welt zurückkehrte, aus der sie kamen. Aber für Abschiedsschmerz war keine Zeit geblieben. Sobald Seth gegangen war, hatte die Wahrsagerin Skarla sie und Justin zum Aufbruch gedrängt. Das Wesen, das halb Mensch, halb Pflanze war und in einer grausamen Unterwelt namens Oubliette lebte, hatte sie durch ein labyrinthartiges Tunnelsystem zurück an die Oberfläche geführt. Skarla kannte sämtliche geheimen Abkürzungen, um sie an den blutrünstigen Ungeheuern und tödlichen Fallen vorbeizuführen, die den Weg nach unten so beschwerlich gemacht hatten und die sie beinahe das Leben gekostet hätten. Oben angekommen, hatte die Wahrsagerin ihnen den Weg zur Stadt gewiesen, sie zur Vorsicht gemahnt und ihnen viel Glück gewünscht. Danach war sie eilig wieder unter der Erde verschwunden.
Kady und Justin hatten sich auf einer Wiese unter einem fahlgrauen, wolkenverhangenen Himmel wiedergefunden. Einsame Hügel und Wälder beherrschten die Landschaft, die von einer geradezu melancholischen Schönheit war. Nach all dem Grauen, das Kady in der Oubliette erlebt hatte, wirkte der Anblick auf sie unglaublich friedlich und beruhigend.
Um keine kostbare Zeit zu verlieren, machten sie sich sofort Richtung Stadt auf, deren Türme sie in der Ferne aufragen sahen. Nach einer Weile gelangten sie zu einem Dorf, dessen Bewohner sie freundlich aufnahmen. Sie gaben ihnen zu essen und warnten sie eindringlich davor, im Dunkeln weiterzuwandern. Also übernachteten sie in der Scheune, die man ihnen als Schlafplatz angeboten hatte, und setzten ihren Weg erst am nächsten Morgen fort. Die Freundlichkeit der Dorfbewohner ließ Kady wieder ein bisschen Hoffnung schöpfen. Vielleicht gab es in Malice ja doch noch mehr als nur Tod, Grauen und Verzweiflung.
Bereits an ihrem ersten Tag in der Stadt fand Justin eine Arbeit für sich und Kady. Da er in London aufgewachsen war, hatte er keine Schwierigkeiten gehabt, sich in der Metropole von Malice zurechtzufinden. Er suchte zielstrebig nach einer Reparaturwerkstatt und beeindruckte den Meister innerhalb kürzester Zeit so sehr, dass er ihn sofort als Lehrjungen einstellte. Justins Vater war Kfz-Mechaniker und Justin hatte von klein auf an Autos und Motorrädern herumgeschraubt. Dabei hatte er sich Fähigkeiten angeeignet, über die die Arbeiter in der Werkstatt nur staunen konnten.
Als der Meister– ein Mann namens Shaddly Bletch, der am ganzen Körper mit Lumpen und Bandagen umwickelt war– Justin die Hand reichte, um den Vertrag zu besiegeln, schlug dieser begeistert ein– und riss ihm dabei gleich den ganzen Arm ab. Aber Bletch lachte nur gutmütig und beruhigte seinen zu Tode erschrockenen neuen Lehrling. Er müsse sich keine Sorgen machen, der Arm würde innerhalb von ein paar Tagen nachwachsen.
Shaddly Bletch war ein freundlicher Mann, auch wenn sein Äußeres zunächst erschreckend wirkte. Ständig fielen irgendwelche Körperteile von ihm ab oder waren gerade dabei nachzuwachsen– mal war es die Nase, dann wieder die Ohren oder eine Hand. Er nannte die Krankheit, unter der er litt, regenerative Lepra. Anscheinend war sie aber ziemlich selten, was Kady extrem erleichterte.
Bletch stellte sie ebenfalls ein. Sie sollte Reparaturaufträge annehmen, Botengänge machen und das Mittagessen für die Handwerker zubereiten. Kady, die noch nie zuvor einen Job gehabt hatte, stellte schon bald fest, dass die Arbeit ihr großen Spaß machte. Die Handwerker waren freundlich, und auf ihren Botengängen konnte sie gleichzeitig die Stadt erforschen und ihre Bewohner kennenlernen. So freundete sie sich zum Beispiel mit Nibscuttle, dem Bäcker, an, bei dem sie allmorgendlich die Brötchen für das Mittagessen besorgte. Nibscuttle hatte sechs Beine und zwei Köpfe. Kady unterhielt sich allerdings lieber mit seinem linken Kopf, der rechte war meistens schlecht gelaunt und hatte ständig irgendetwas zu motzen.
Obwohl es ihr in der Stadt gefiel, vermisste sie ihre Eltern und Marlowe, ihren Kater. Auch ihr Computer, an dem sie oft stundenlang gesessen hatte, um im Netz herumzusurfen, fehlte ihr. Sie hätte gern bei Facebook nachgeschaut, was ihre Freunde so trieben, oder wieder mal ein paar Runden CounterStrike gespielt. Sie sehnte sich sogar ein bisschen danach, in die Schule zu gehen. Schule war so schön normal. Und in Malice gab es nicht sonderlich viel, was normal gewesen wäre.
In ihrer freien Zeit streiften Kady und Justin durch die Stadt und holten Erkundungen über Havoc ein. Sie hatten mit Seth beim Abschied vereinbart, die Widerstandsgruppe zu suchen und sich ihr anzuschließen. Falls es ihm gelang, nach Malice zurückzukehren, sollte er ebenfalls versuchen, Havoc zu finden– es war ihre einzige Chance, wieder zusammenzukommen.
Auf ihren Streifzügen setzten sie sich in Straßencafés und Trinkstuben, schnappten Klatsch und Tratsch und Gerüchte auf und stellten jede Menge Fragen. Zunächst ohne Erfolg. Bis schließlich eines Tages doch jemand auf sie zukam, der mitbekommen hatte, dass sie sich nach Havoc erkundigt hatten. Jemand, der sogar ein Treffen für sie arrangieren konnte. Und so war es gekommen, dass sie Scotty kennengelernt hatten.
3
Kady hätte am liebsten auf der Stelle alles über Havoc erfahren, aber Scotty meinte, es sei zu gefährlich, auf der Straße darüber zu sprechen. »Zu viele Augen und Ohren«, raunte er. Justin musste grinsen, als fast im gleichen Moment jemand mit acht Augen und vier riesigen Fledermausohren an ihnen vorbeischlurfte.
»Wo er Recht hat, hat er Recht«, sagte er und kicherte über seinen eigenen Witz. Das Geschöpf blieb stehen, warf ihm einen wütenden Blick zu und schlurfte dann weiter.
Durch das Tor der Grind-Höfe traten sie auf die Straße und gingen in Richtung Cog Park. Sie befanden sich in einem der Elendsviertel der Stadt, aber mit der gefährlich aussehenden Säbelzahntigerin an ihrer Seite konnten sie es gefahrlos durchqueren. Allmählich sahen die Straßenzüge wieder sauberer und gepflegter aus, die Gebäude waren nicht mehr ganz so heruntergekommen, und auch die Leute, die ihnen begegneten, wirkten wieder vertrauenswürdiger. Sie passierten eine kleine Einkaufsstraße mit hübschen Geschäften und Lädchen, die ihre Ware in bunt dekorierten Schaufenstern feilboten. Immer wieder rumpelten Kutschen an ihnen vorüber und einmal knatterte sogar ein mechanisches Auto die Straße entlang.
Während Kady und Justin Scotty durch das Straßengewirr folgten, gab es für sie jede Menge Neues zu entdecken. Besonders beeindruckte sie der Feuergarten. Dicht an dicht wuchsen fremdartig schöne Drachenblumen, die, wie Scotty ihnen erklärte, allabendlich beim Einsetzen der Dämmerung in lodernde Flammen aufgingen. In der Ferne sahen sie die Labyrinth-Hügel, in denen die Werhunde hausten. Dahinter ragte der mächtige Gipfel des Nebelbergs auf, von dessen Hängen in manchen Nächten die schaurige Musik der Geister herüberwehte.
Schließlich blieb Scotty vor einem kleinen Bahnhof stehen. Die Cog-Park-Station ruhte auf einer von vier massiven Pfeilern getragenen Stahlkonstruktion, die sich über die Dächer der Stadt erhob. Wendeltreppen schraubten sich in die Höhe und führten in die mit einem Kuppeldach versehene Bahnhofshalle. Außer ihnen wartete auf dem Bahnsteig nur noch eine Handvoll anderer Fahrgäste auf die Hochbahn, die sämtliche Viertel der Stadt miteinander verband.
Scotty griff in die Tasche und zog drei schwarze Tickets hervor. »Mit denen kann man innerhalb von Malice…«
»…überall hinfahren«, fiel Justin ihm leicht genervt ins Wort. »Nur zu deiner Information: Wir sind selbst schon eine Weile in Malice und kennen uns aus. Die schwarzen gelten nur innerhalb von Malice, mit den weißen kommt man überallhin. Sogar nach Hause.«
»Wo hast du die her?«, fragte Kady, als Scotty ihr ein Ticket in die Hand drückte.
»Gekauft«, antwortete er achselzuckend. »Die schwarzen kriegt man ohne Probleme. Die weißen dagegen…«
»Ach?« Kady sah ihn erstaunt an. »Ich wusste gar nicht, dass man sie einfach kaufen kann.«
»Ich hab gedacht, ihr wärt schon eine Weile hier.« Scotty warf Justin einen triumphierenden Blick zu. Der schnaubte nur und sagte gar nichts.
»Und was ist mit Tatyana?«, fragte Kady und kraulte die mechanische Raubkatze unter dem Kinn. Tatyana fing an zu schnurren, was bei ihr klang, als würde ein Traktor vorbeifahren.
»Die braucht keins. Sie ist ja bloß eine Maschine.«
Scotty sprang erschrocken zur Seite, als Tatyana fauchend zu ihm herumwirbelte. Aus ihren Augen blitzte blanke Empörung.
»Tatyana ist nicht ›bloß‹ eine Maschine«, sagte Kady streng.
Scotty streichelte der Säbelzahntigerin besänftigend über den Kopf aus Stahlblech. »Tut mir leid. So hab ich das nicht gemeint. Ich wollte damit nur sagen, dass sie kein Ticket braucht, weil sie nun mal kein… na ja, weil sie eben nicht als Lebewesen gilt. Jedenfalls nicht bei den Leuten, die darüber entscheiden, wer ein Ticket braucht und wer nicht.«
Justin grinste. »Verstehe. Sie wird quasi als Handgepäck betrachtet.«
»Hey, genau!« Scotty schnippte zustimmend mit den Fingern.
»Schon mal was von Taktgefühl gehört?« Kady kniete sich neben Tatyana und streichelte ihr tröstend über den Hals. Die Tigerin knurrte gereizt. »Beachte die beiden gar nicht«, flüsterte Kady ihr zu. »Sie können nichts dafür. Jungs sind von Natur aus Trampel.«
»Warum regst du dich denn so auf?«, sagte Justin. »Sei doch froh, dass sie kostenlos mitfahren kann.«
Ein paar Minuten später fuhr der Zug quietschend in den Bahnhof ein: ein Rauch spuckendes, von schwarzem Ruß überzogenes Stahlungeheuer mit einer Art Dornenpanzer und seitlich angebrachten Schießscharten. Die Lokomotive schob eine stachelige Riesenschaufel vor sich her, die an einen Schneepflug erinnerte. Kady lief es bei diesem albtraumhaften Anblick kalt über den Rücken. Als sie das letzte Mal mit einem solchen Zug unterwegs gewesen war, hatte er sie in die dunklen Verliese der Oubliette gebracht. Einen Ort, den sie am liebsten für alle Zeiten aus ihrer Erinnerung streichen wollte.
»Alle Mann an Bord«, rief Justin gut gelaunt.
Die vier kletterten in einen der Waggons. Er hatte Bullaugen statt Fenster und die Sitzbänke glichen eher Metallpritschen. Zusammen mit ihnen stiegen nur noch zwei weitere Passagiere ein, die jedoch am anderen Ende des Wagens Platz nahmen. Ansonsten war niemand zu sehen. Die Türen schlossen sich zischend, und im nächsten Moment setzte der Zug sich auch schon wieder schwerfällig in Bewegung. Scotty und Kady setzten sich, während Justin sich noch umblickte.
»Wo steckt denn der unheimliche Schaffner? Ich wette, er ist irgendwo ganz in der Näh… Aaahhh!« Er schrie erschrocken auf, als er sich umdrehte und plötzlich dem Fahrkartenkontrolleur gegenüberstand. Wie aus dem Nichts war er hinter ihm aufgetaucht und starrte ihn aus den dunklen Augenhöhlen einer gruseligen weißen Maske ausdruckslos an.
»Die Fahrscheine bitte.«