Im Chatroom
1
Über die Autobahn brauchten sie nach Leicester nur zwanzig Minuten. Seth saß neben der schweigenden Alicia auf der Rückbank des Wagens. Zum ersten Mal seit langer Zeit entspannte er sich. Endlich ergab alles einen Sinn. Nachdem er einen Monat lang rastlos durch Hathern gestreift war, wusste er jetzt, was er zu tun hatte. Er musste so schnell wie möglich nach Malice zurück.
Kurz nachdem sie die Autobahn verlassen hatten und auf der Narborough Road Richtung Innenstadt fuhren, tauchten die ersten Wohnhäuser auf. Auch hier zogen dunkle Wolken über den Himmel. Allerdings gab es keine Hinweise auf einen Gewittersturm, wie er eben noch über Hathern getobt hatte. Dem trockenen Straßenbelag nach zu urteilen, hatte es noch nicht einmal geregnet.
Seth starrte aus dem Fenster auf die vorbeiziehenden Häuserreihen. Trostlose Ziegelgebäude und von Fassaden abblätternder Putz, still vor sich hin modernde Fensterrahmen und vergilbte Gardinen, Chipstüten, die der Wind über den Gehweg trieb, misstrauisch blickende Passanten und Graffiti, die die Häuserwände überzogen wie leuchtend bunte Spinnweben. Er spürte das vertraute Unbehagen in sich aufsteigen, das ihn immer überkam, wenn er in einer größeren Stadt war. Überall nur Beton und Asphalt, die ihn erdrückten und ihm das Gefühl gaben, eingesperrt zu sein.
»Du kannst uns da vorne rauslassen.«
Lemar hielt vor dem Haus, auf das Alicia deutete, und sie stiegen aus.
»Bist du sicher, dass du klarkommst?«, fragte Lemar seine Schwester und warf Seth einen warnenden Blick zu. Er wusste, dass Seth etwas damit zu tun hatte, dass Alicia ihre Pläne geändert hatte, und es passte ihm ganz offensichtlich nicht, nicht zu wissen, was dahintersteckte. »Soll ich dich nicht doch lieber zu Sally fahren?«
»Mach dir keine Sorgen«, sagte Alicia. »Und sag Dad, dass ich ihn nachher anrufe.«
»Okay«, knurrte ihr Bruder widerwillig. »Dann also bis später. Und vergiss nicht, ihm zu erklären, wie das mit dem Wagen passiert ist und dass ich nicht schuld daran bin.«
»Natürlich nicht.«
Lemar warf Seth noch einen letzten drohenden Blick zu, dann fuhr er los. Alicia seufzte und lächelte Seth entschuldigend an. »Mein Bruder hat einen ziemlich ausgeprägten Beschützerinstinkt.«
»Das hab ich gemerkt.«
»Komm mit.« Alicia ging an dem Haus vorbei, vor dem Lemar sie abgesetzt hatte, und bog an der nächsten Ecke in eine schmale, dunkle Gasse, die zwischen zwei roten Backsteinhäusern hindurchführte. Nach ein paar Metern blieb sie vor einem kleinen Holztor stehen, hinter dem ein ziemlich verwahrloster Garten lag, und öffnete es. »Hier wohnt mein Freund Philip«, erklärte sie, während sie auf eine Hintertür zugingen, in deren Kunststoffrahmen zwei geriffelte Glasscheiben eingesetzt waren. Sie klopfte an eine der Scheiben. »Ich war früher oft zum Spielen hier. Wir waren in der Grundschule ziemlich gut befreundet.«
»Und jetzt nicht mehr?«
»Na ja, jetzt sehen wir uns eigentlich nur noch in der Schule. Er ist in meinem Kunstkurs, deshalb weiß ich auch, dass er so ein Malice-Fan ist. Er redet die ganze Zeit von nichts anderem.«
»Du bist im Kunstkurs?«, sagte Seth überrascht. »Damit hätte ich bei einem Mathegenie wie dir gar nicht gerechnet.«
Alicia warf ihm einen skeptischen Blick zu, als wäre sie sich nicht sicher, ob er sich über sie lustig machte. Als sie sah, dass Seth ehrlich erstaunt war, schob sie seufzend ihre Brille hoch und sagte: »Stimmt. Ich bin wirklich ziemlich gut in Mathe. Und wenn es nach meinen Eltern gehen würde, dürfte ich mich nur auf die naturwissenschaftlichen Fächer konzentrieren. Die träumen nämlich davon, dass ihre Tochter später mal Professorin wird. Mindestens. Aber ich hab Kunst belegt, weil ich Illustratorin werden will. Ganz egal, was meine Eltern sagen.«
Hinter der Glasscheibe ging ein Licht an und Alicia stieß ein warnendes »Schsch!« aus, obwohl Seth gar nichts gesagt hatte. Die Tür wurde von einer dicklichen, etwas schlampig gekleideten Frau geöffnet, die ihre glatten braunen Haare zum Pferdeschwanz gebunden hatte.
»Na so was, Alicia!«, rief sie erstaunt. »Du hast dich ja schon seit Ewigkeiten nicht mehr bei uns blicken lassen.«
»Guten Tag, MrsGormley. Wie geht es Ihnen?«, sagte Alicia höflich. »Ich wollte fragen, ob Philip vielleicht zu Hause ist.«
»Na klar. Der ist doch immer zu Hause.« MrsGormley trat einen Schritt zur Seite, um sie hereinzulassen. »Die Treppe hoch und dann immer dem Maschinengewehrfeuer nach.«
Alicia bedankte sich und trat ins Haus. Seth folgte ihr. Aber kaum war er über die Schwelle getreten, blieb er wie angewurzelt stehen und runzelte die Stirn.
»Was hast du denn?«, fragte Alicia.
Er schüttelte den Kopf. »Nichts«, sagte er. Wie sollte er ihr auch das merkwürdige, bange Gefühl beschreiben, das ihn genau in dem Moment erfasst hatte, als er das Haus betreten hatte, und das sich jetzt wie eine eiskalte Decke über seine Schultern legte?
Seth versuchte sich einzureden, dass er sich das alles bloß einbildete, aber dazu war das Gefühl einfach viel zu real und zu übermächtig.
Am liebsten würde ich sofort umdrehen und wieder gehen, dachte er schaudernd. Doch er folgte Alicia durch die Küche in einen schmalen Flur und ging hinter ihr die Treppe zum ersten Stock hinauf. Tatsächlich war deutlich Maschinengewehrfeuer zu hören, genau wie Philips Mutter es prophezeit hatte. Aus dem Zimmer am Ende des Flurs drangen Schreie und Explosionsgeräusche und durch den schmalen Spalt unter der Tür sickerte das fluoreszierend weiße Licht eines Computermonitors hervor.
Als Alicia klopfte, verstummte das Maschinengewehrfeuer abrupt.
»Was ist denn jetzt schon wieder, Mum?«, ertönte eine genervte Jungenstimme.
»Philip?«, rief Alicia. »Ich bin’s. Alicia.«
»Wer?«
Sie warf Seth einen verlegenen Blick zu. »Alicia Lane«, rief sie.
Seth hörte, wie quietschend ein Stuhl zurückgeschoben wurde und sich Schritte näherten. Kurz darauf drehte sich ein Schlüssel im Schloss und die Tür ging auf.
Vor ihnen stand ein Junge, dessen Silhouette sich scharf vor dem hell leuchtenden Bildschirm seines Computers abzeichnete und den gesamten Türrahmen ausfüllte. Er war fett (Seth fiel kein gnädigeres Wort ein, um ihn zu beschreiben, weil er genau das war: fett). Ein zeltartiges, schwarzes Ramones-T-Shirt verhüllte seinen Körper und zottelige blonde Haare fielen ihm unordentlich in die Stirn. Er strich sich eine Strähne aus dem Gesicht und sah sie verwundert an.
»Äh… Hallo?« Seiner Stimme war anzuhören, dass er äußerst verblüfft war, sie zu sehen.
»Seth, das ist Philip«, stellte Alicia sie einander vor. »Philip, Seth.«
Die beiden Jungen nickten sich zurückhaltend zu. »Bist du nicht auch auf unserer Schule?«, fragte Philip.
»Ich bin eine Klasse unter dir.«
»Ach ja, stimmt.«
Einen Moment lang standen sie sich unbehaglich gegenüber, bis Alicia die Sache schließlich selbst in die Hand nahm und ohne Umschweife zum Thema kam. »Wir sind hier, weil wir dich fragen wollten, ob du uns einen Gefallen tun kannst«, sagte sie. »Es geht um Malice. Du hast mir doch erzählt, dass du dich ziemlich viel damit beschäftigst…«
Etwas trippelte über den Dachboden, winzige Klauen, die über Holzdielen scharrten. Seth sah erschrocken zur Decke und spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. Irgendetwas Bedrohliches ging in diesem Haus vor sich.
»Das sind bloß Mäuse«, sagte Philip, der seinen Blick bemerkt hatte. Dann sah er Alicia an. »Was ist mit Malice? Ich hab keine Ausgabe hier, falls du das fragen wolltest.«
»Nein, darum geht es nicht. Du hast mir doch mal erzählt, dass es im Internet so eine Seite gibt, auf der du manchmal bist. Irgendein Forum, in dem Leute sich über Malice austauschen oder so was in der Art.«
»Das ist kein Forum«, korrigierte er sie, »sondern ein Channel auf IRC.« Als er Seths verständnislose Miene bemerkte, erklärte er: »IRC steht für Internet Relay Chat. Das ist so was wie der Instant Messenger oder Skype, nur dass eben mehrere Leute gleichzeitig posten können. Ein Chatroom, klar?«
»Ähm… klar«, sagte Seth, obwohl er nur eine vage Ahnung hatte, wovon Philip sprach. »Sorry, aber mit Computern kenne ich mich ehrlich gesagt nicht besonders gut aus«, entschuldigte er sich.
»Könntest du uns dieses Forum, äh, den Channel mal zeigen?«, fragte Alicia.
Philip runzelte die Stirn. »Sagt mal, worum geht’s hier eigentlich konkret?«
»Alicia hat mir erzählt, dass du dich ziemlich für Malice interessierst, stimmt das?«, fragte Seth.
Philip nickte
»Na ja, also… ich war vor Kurzem dort.«
Philip schnaubte ungläubig. »Ja klar.«
»Doch, wirklich.«
»Glaub ich dir sofort.«
»Wenn ich es dir doch sage. Und ich muss dringend wieder dorthin zurück.«
»Na sicher.«
Alicia stöhnte ungeduldig. »Bitte, Philip! Wir wollen doch nur, dass du uns mal diesen IRC-Channel zeigst.«
Philip schlurfte zu seinem Computer und ließ sich ächzend in den durchgesessenen Bürostuhl fallen. »Meinetwegen, kommt rein«, brummte er. »Aber schließt die Tür hinter euch ab, sonst platzt meine Mutter ständig hier rein.«
In dem großen Zimmer herrschte ein unglaubliches Chaos. Überall standen benutzte Gläser, Tassen und Teller mit Kekskrümeln herum, der Boden war mit Comicheften und Klamotten übersät, das Bett ungemacht und die Vorhänge waren so dicht zugezogen, dass nicht der kleinste Lichtstrahl hereindrang. Es roch muffig nach Schweiß und Käsefüßen, aber Philip schien davon nichts zu bemerken. Oder es störte ihn nicht.
»Ihr könnt euch aufs Bett setzen, Stühle hab ich keine«, brummte er und drehte den Monitor so, dass sie draufschauen konnten. Nachdem Alicia die Tür abgeschlossen hatte, ließ sie sich vorsichtig neben Seth auf der Bettkante nieder. Der hatte bereits die Verpackungen mehrerer Schokoriegel und Minisalamis im überquellenden Mülleimer entsorgt.
Philip öffnete ein Programm und klickte sich durch verschiedene Menüs. »Es kann aber auch sein, dass ich den Channel gar nicht finde«, warnte er sie. »Der Typ, der ihn moderiert, wechselt ständig den Namen, sodass man manchmal stundenlang umsonst sucht, und dann ist er plötzlich wieder da. Total seltsam. Bei den anderen Channels passiert das nie.« Er klickte sich durch ein paar Fenster und lächelte dann triumphierend. »Hey! Scheint euer Glückstag zu sein. Ich hab ihn gefunden.«
2
* Now talking in
#Grendel
* Topic »nur posts über malice. tippt /umode-mH für privatchats
bzw. /leave, wenn ihr den channel verlasst. aol-er können gleich
draußen bleiben, ihr nervt.«
* Set by angel_buster on Sun Oct12
16:11:56
* jester_003 (tongkay@121.120.7.aM475=) Quit (Ping
Timeout)
<angel_buster> bist du dir sicher?
<griff> er muss die doch iwo haben
<griff> hallo? das is n comicladen
<angel_buster> sollte man meinen
* jester_003 (tongkay@121.120.7.aM475=) has joined
#Grendel
<jester_003> scheiße, leute, mein router klinkt sich auf
diesem chan regelmäßig aus.
<jester_003> gremlins
<angel_buster> aber ich glaub nicht, dass es so
funzt
<angel_buster> das ist nicht so, als würde man hulk-hefte
kaufen
<saffron> gremlins
<ka_787> gremlins
<griff> i-jemand muss doch eins besorgen können
<saffron> du darfst deinem router eben nach mitternacht
nichts mehr zu fressen geben
<ka_787> und ihn auf keinen fall zu heiß baden
<jester_003> haha
* jester_003 *augen verdreh*
* tintype (benaQi@117.47.81.vT256=) has joined #Grendel
<tintype> waaaaaasgeeeehtaaaaaab, leeeude????
<saffron> haaaaalttttsmaaaaaaul!
<tintype> *schnief* :(
<saffron> muah!!!
Seth und Alicia sahen sich mit fragend hochgezogenen Augenbrauen an.
»Verstehst du irgendwas von dem, was die da schreiben?«, fragte Alicia Philip.
Philip lachte. »Am Anfang ist es ein bisschen gewöhnungsbedürftig. Man muss sich darauf konzentrieren, wer was sagt und wer worauf antwortet. Meistens finden zwei oder drei Chats gleichzeitig statt. Und das ganze technische Gelaber muss man ignorieren, das ist nur was für Computerfreaks.« Er schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte. »Tja, das ist er jedenfalls. Der berühmte Malice-Channel bei IRC. Seid ihr beeindruckt? Wahrscheinlich eher nicht, was?«
»Kannst du denen auch Fragen stellen?«, fragte Seth.
»Klar. Was willst du wissen?«
»Ich würde gern wissen, wie ich nach Malice komme.«
»Hä? Das weiß doch jeder.«
»Nein, ich meine ohne das Ritual.«
Philip dachte kurz nach. »Ich hab gehört, dass man mit dem Zug hinkommt, wenn man ein bestimmtes Ticket hat. Jedenfalls suchen die Jugendlichen im Comic angeblich immer nach diesen Tickets, die überall versteckt sind, um rauszukommen. Ich nehme an, das funktioniert umgekehrt genauso.«
Mit dieser Vermutung hatte er zwar vollkommen Recht, Kady war Seth auf diese Weise nach Malice gefolgt, aber leider hatte er keine Ahnung, wo er so ein weißes Ticket herbekommen sollte. »Kannst du die mal fragen, wie ich an so ein Ticket rankommen kann?«
Philip musterte ihn mit seinen dunklen Augen. »Du glaubst doch nicht etwa ernsthaft an den Quatsch, oder?«
»Du etwa nicht?«, fragte Seth erstaunt. »Immerhin scheinst du dich ziemlich gut mit Malice auszukennen.«
»Na ja, schon… ich finde die Gerüchte spannend und hätte nichts dagegen, mal eine Ausgabe in die Finger zu bekommen, um zu sehen, was wirklich dran ist. Aber… glaubst du, ich nehme dir ab, dass du wirklich dort warst…? In Malice?« Er winkte lachend ab.
Seth versuchte gar nicht erst, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Er fand es aber extrem merkwürdig, dass so viele Menschen fest an etwas glaubten, in letzter Konsequenz dann aber doch nicht davon überzeugt waren. So als würden sie sich nicht trauen, den letzten, entscheidenden Schritt zu gehen, wenn es ernst wurde. Und wahrscheinlich wollten sie in ihrem tiefsten Inneren auch gar nicht, dass es wahr war. So wie Leute, die theoretisch an die Existenz von Geistern glaubten, aber sofort zum Therapeuten rannten, wenn sie dann tatsächlich mal einen sahen. Mit der Religion war es im Prinzip genau das Gleiche. Seth war sich sicher, dass Jesus, falls er ein zweites Mal auf der Erde erscheinen würde, nur ausgelacht werden würde, sobald er behauptete, der Sohn Gottes zu sein.
Philip hatte sich wieder über die Tastatur gebeugt. »Mein Nick ist übrigens Breaker, also nicht wundern.«
»Nick?«
»Mein Nickname.« Philip seufzte. »Du hast ja echt gar keine Ahnung.«
<breaker>
hi leute
<jester_003> was geht?
<saffron> hey hey
<breaker> hier ist ein noob, der behauptet, er war in malice
und ist wieder rausgekommen
<saffron> klaaaar
* griff kratzt sich am kinn*
<ka_787> ist das wahr?
<griff> türlich nicht. lass dich doch nicht
verarschen
<ka_787> ok ok, komm wieder runter
* jester_003 (tongkay@121.120.7.aM475=) Quit (Ping
Timeout)
<breaker> er will wissen, wie man da wieder
hinkommt
<breaker> ohne das ritual
* jester_003 (tongkay@121.120.7.aM475=) has joined
#Grendel
* jester *mit hammer auf router einschlag*
<mim> wer ist der noob?
<mim> alter, geschlecht, ort?
<tintype> ogott, ihr habt mim geweckt
<tintype> dachte schon, sie wäre eingeschlafen
<mim> ich schlafe nie
<breaker> IRGENDWELCHE VORSCHLÄGE?
<saffron> bä bäbäbä bä
* griff *ruhe bitte*
<mim> also, wer ist er?
<tintype> kann mir jemand einen gefallen tun und ihr die
finger abschneiden?
<saffron> ein typ, den ich kenn, hat mir mal
erzählt
<saffron> dass es da so ne verlassene fabrik gibt
<saffron> wo iwie unheimliche sachen abgehen
<saffron> ein typ ist mal nachts mit seiner freundin drin
gewesen
<saffron> als er zurückkam, war er voll panisch und sein
gesicht war total zerkratzt
<saffron> freundin ist nie wieder aufgetaucht
<saffron> polizei und alles
<saffron> er hat gesagt, da waren im keller iwelche
unheimlichen gestalten
<saffron> die hätten seine freundin verschleppt
<saffron> polizei konnte in der fabrik nichts finden, die
haben ihn verhaftet
<saffron> in seiner tasche haben sie ein ticket
gefunden
<saffron> ein WEISSES ticket
<saffron> er hat gesagt, er hat es in der fabrik
gefunden
* jester_003 (tongkay@121.120.7.aM475=) Quit (Excess
Flood)
<ka_787> uaaaaaah
<Griff> und der typ, dem das passiert is, war bestimmt ein
”freund von einem freund von einem freund”, stimmts? ;-)
* jester_003 (tongkay@121.120.7.aM475=) has joined
#Grendel
<jester_003> aaaaaaaargh
<saffron> ich geb bloß weiter, was ich gehört hab
<saffron> ich hab das gefühl, in letzter zeit passieren immer
öfter solche sachen
<angel_buster> du meinst wie im alten u-bahn-depot in
lewisham?
<saffron> genau
<tintype> da sind zwei jugendliche umgebracht
worden
<mim> hey, noob, wie heißt du?
<tintype> die sahen aus, als wären sie von hunden zerfleischt
worden
<tintype> aber bei der autopsie wurde festgestellt, dass es
keine hundebisse waren
<tintype> sondern MENSCHENBISSE
* ka_787 *zittert vor angst*
<mim> noob. hey, noob. nooooob.
<saffron> @breaker, sag deinem freund, er solls da mal
versuchen
Philip ließ sich in seinem Stuhl zurückfallen und schwang zu Seth und Alicia herum. »Die tauschen die ganze Zeit solche Gruselgeschichten aus«, sagte er. »Man hört ja immer wieder, dass Tall Jake hinter dem plötzlichen Verschwinden von Jugendlichen steckt. Manche Leute sind so besessen von Malice, dass sie alles damit in Verbindung bringen, was irgendwo passiert.«
»Dabei sind es wahrscheinlich nur moderne Großstadtlegenden«, sagte Alicia. »So wie die von dem Mädchen, bei dem immer so ein unheimlicher Typ anruft, wenn es allein zu Hause ist. Es lässt den Anruf zurückverfolgen und dabei wird festgestellt, dass er…«
»…aus dem Inneren ihres Hauses kommt!!!! Aaaaaahhhhhh!« Philip kreischte und schlug sich mit gespieltem Entsetzen die Hände vors Gesicht, als hätte er Todesangst. Dann wurde er wieder ernst. »Ja. Genauso schätze ich das auch ein.«
»Was bedeutet Noob?«, fragte Seth, nachdem er das Chatprotokoll noch einmal aufmerksam durchgelesen hatte. »Warum nennen die mich alle Noob?«
»Das heißt, dass du ein Anfänger bist, ein Newbie«, erklärt Alicia.
»Wer ist diese Mim?« Seth deutete auf den Monitor. »Meinst du, die kann mir irgendwie weiterhelfen?«
Philip stöhnte. »Lass dich bloß nicht auf Mim ein. Die ist immer online und geht allen tierisch auf die Nerven, weil sie ständig versucht, einen dazu zu überreden, sich im Real Life mit ihr zu treffen, um Infos über Malice auszutauschen. Ich glaub, die ist ziemlich einsam und hat keine Freunde.«
»Kannst du mal fragen, wo diese Fabrik genau ist?«, bat Seth ihn.
<breaker>
saf, wo ist diese fabrik?
<griff> hallo? das is doch alles bloß AUSGEDACHT! kapiert ihr
das denn nicht? nur der COMIC is real, der rest ist
FANTASIE!
<saffron> schrei nicht so rum, griff, oder log dich am besten
gleich bei FunChat ein
<saffron> mackenzie street in birmingham
<griff> und ihr fallt alle darauf rein, ihr loser.
* angel_buster sets mode +b Griff*!*@*.*
* Griff wurde von angel_buster rausgekickt (ächtet die
zweifler!!!)
<angel_buster> der typ langweilt
* ka_787 *applaudiert*
<mim> hey, noob, ich wette, ich kann erraten, wie du
heißt
<saffron> aber geh nachts hin
<saffron> oder noch besser: gar nicht
<saffron> der typ, von dem ich gehört hab, war jedenfalls
nachts da
<ka_787> ja! ja! namenraten. geil! ich mach mit
<ka_787> breaker, du musst es uns aber auch ehrlich sagen,
wenn wir richtig getippt haben
<ka_787> ich wette, du heißt… paul!
<mim> ich wette, er heißt seth. seth harper
Seth zuckte zusammen. Im selben Moment ertönte über ihnen auf dem Speicher wieder das leise Trippeln und Scharren. Philip drehte sich verblüfft in seinem Stuhl zu Seth um.
»Ist das dein Nachname– Harper?«, fragte er.
Seth nickte stumm.
»Kann sie uns etwa sehen?«, fragte Alicia erschrocken. »Läuft deine Webcam?«
»Ich hab gar keine Kamera«, sagte Philip.
Alicia beugte sich zum Bildschirm vor. Die Sätze auf dem Monitor spiegelten sich in den Gläsern ihrer Brille wider. »Warum hat sie ihn dann erkannt?«
Philip tippte etwas ins Dialogfenster. Seth sprang auf, um ihn daran zu hindern– ihm war plötzlich ein entsetzlicher Verdacht gekommen. »Nicht!«, rief er. Aber da hatte Philip schon auf »Eingabe« geklickt.
<breaker>
du scheinst hellseherin zu sein
<ka_787> omg
<ka_787> mim, woher wusstest du, wie er heißt?
<mim> hallo, Seth
<mim> ich habe eine botschaft für dich
<ka_787> moment– wieso kennst du
ihn?
* ka_787 (moomin@219.64.126.TR69=) Quit (Excess Flood)
* saffron (saffypoo@121.97.202.Fr384=) Quit (Excess
Flood)
* jester_003 (tongkay@121.120.7.aM475=) Quit (Excess
Flood)
* angel_buster (angelo008@125.163.11.DM554=) Quit (Excess
Flood)
* tintype (optimustwine@219.159.67.Rg523=) Quit (Excess
Flood)
<mim> du kannst nicht vor uns fliehen, seth
<mim> du hast etwas, was uns gehört
<mim> und wir werden jeden töten, der auch nur versucht, dir
zu helfen
<mim> wir werden dich finden
<mim> und dann werden wir
<mim> DIR
<mim> DIE
<mim> AUGEN
<mim> AUSSTECHEN
* Disconnected
Seth starrte wie betäubt auf den Bildschirm. Er bekam kaum noch Luft. Das Trippeln über ihnen wurde immer lauter. Ihm war plötzlich eiskalt und seine Beine begannen zu zittern.
»Ich muss los«, presste er hervor.
»Hey, warte– weiß Mim irgendwas?«, fragte Philip verwirrt. »So was hat sie noch nie ge…«
»Ich muss los!«, sagte Seth noch einmal und stand auf. Er hatte das erstickende Gefühl, die Wände und die Decke des Zimmers würden bedrohlich näher rücken. Alicia stand ebenfalls auf. Ihre Miene war voller Sorge.
»Was habt ihr denn auf einmal?«, fragte Philip verdattert. »Diese Mim ist doch bloß irgendeine Spinnerin. Glaubt mir, die Frau ist total verrückt.«
Seth sah ihn ernst an. »Ich würde an deiner Stelle nicht mehr in diesen Channel gehen. Und ich würde mich von Mim fernhalten.«
»Ach was«, schnaubte Philip. »Vor einer wie der hab ich doch keine Angst.«
»Solltest du aber«, sagte Seth.
»Klar.« Philip zuckte nur mit den Achseln.
Seth ging zur Tür und schloss sie auf. Alicia verabschiedete sich hastig von Philip und folgte ihm. In der Tür blieb Seth noch einmal stehen, drehte sich um und fragte: »Warum glaubst du nicht daran?«
»Weil ich das Ritual gemacht hab und dreimal darfst du raten, was passiert ist– nichts!« Philips Stimme klang verbittert, als würde er sich reingelegt fühlen. »Ich hab Wochen gebraucht, bis ich endlich den Mut hatte, es zu machen. Aber jetzt weiß ich, dass es nichts weiter als ein blödes Kindermärchen ist.«
Wieder war das leise Trippeln über ihren Köpfen zu hören. Seth blickte schaudernd zur Decke.
»Wann hast du die Ratten auf dem Speicher eigentlich zum ersten Mal gehört?«
»Mäuse«, korrigierte Philip ihn stirnrunzelnd. »Keine Ahnung. Ich glaub, das war ungefähr zur selben Zeit. Warum?«
Seth schüttelte den Kopf, drehte sich ohne ein weiteres Wort um und ging. Es hatte keinen Sinn, Philip überzeugen zu wollen, er würde ihm sowieso nicht glauben. Dafür wusste Seth jetzt wenigstens, weshalb ihn so ein mulmiges Gefühl beschlichen hatte, als er das Haus betreten hatte. Philip hatte Tall Jake gerufen. Bis jetzt hatte er ihn noch nicht nach Malice geholt, vielleicht würde er sehr viel später kommen, erst in zehn Jahren oder vielleicht auch niemals. Aber sobald man sechsmal den Spruch gesagt und das Ritual durchgeführt hatte, stand man unter seinem Bann– und das bedeutete, dass er jederzeit kommen konnte. Seth war sich sicher, dass Philip in Malice keine Stunde überleben würde.
Er war zum Tode verurteilt. Er wusste es nur noch nicht.
In dem Moment, in dem Seth zur Haustür hinaustrat, fiel eine zentnerschwere Last von ihm ab. Er ging eilig weiter, ohne sich umzudrehen, und setzte sich am Ende der Straße auf eine niedrige Gartenmauer, wo er erst einmal tief durchatmete.
»Was ist los, Seth?«, fragte Alicia, die ihm hinterhergelaufen war. »Warum wolltest du so schnell weg?«
»Hast du es denn nicht gespürt? In dem Haus war etwas… Böses.«
Alicia sah ihn hilflos an. »Nein. Ich hab nichts gemerkt.«
»Philip hat Tall Jake gerufen und dadurch eine Verbindung zu ihm hergestellt. Ich hab sie ganz deutlich gespürt. Eines Nachts wird er einfach verschwinden… und keiner kann etwas dagegen tun.« Seine Angst wich ohnmächtiger Wut. Es war ein so grausames und gemeines Spiel, das Tall Jake mit den Jugendlichen trieb.
Alicia sah ihn erschrocken an. »Du meinst, man kann es nie mehr rückgängig machen? Wenn man den Spruch einmal gesagt hat, ist es für immer zu spät?«
Seth nickte düster. »Und genau deswegen müssen wir ihn aufhalten.«
Alicia setzte sich neben ihn auf die Mauer. Sie ließ den Kopf hängen, sodass ihr die dunklen Locken ins Gesicht fielen. Mittlerweile war die Dämmerung hereingebrochen und um sie herum lag alles im gelblichen Schein der Straßenlaternen.
Ein älteres Pärchen kam den Gehweg entlanggeschlendert. Die Frau warf ihnen im Vorbeigehen einen missbilligenden Blick zu, als vermutete sie, dass sie gerade dabei waren, irgendetwas Verbotenes auszuhecken. Na klar. Weil alle Jugendlichen ja nichts als Unfug im Kopf hatten.
Seth musste an die Begegnung mit Miss Benjamin denken, an den Moment, als der Blitz für eine Sekunde die dämonische Fratze zum Vorschein gebracht hatte. Was, wenn es mehr von ihrer Sorte gab, die ihn verfolgten und ihn jetzt genau in diesem Augenblick beobachteten?
»Schwör mir, dass du dir das alles nicht ausgedacht hast«, sagte Alicia plötzlich.
»Wie bitte?«, fragte Seth verwirrt.
»Schwör mir, dass du das nicht bloß sagst, um mir Angst zu machen. Dass du wirklich in Malice gewesen bist. Dass Tall Jake wirklich existiert.« In ihrer Stimme schwang ein panischer Unterton mit, der Seth verwunderte.
»Ich schwöre es«, sagte er. »Ich weiß, dass es sich verrückt anhört, aber Malice existiert wirklich und ich bin dort gewesen.«
Alicia holte tief Luft und stand entschlossen auf. Sie griff in ihre Tasche, zog ein Haargummi heraus und band sich die Locken zu einem Pferdeschwanz. »Es ist noch relativ früh am Abend. Wir haben also noch genug Zeit, um nach Birmingham zu fahren.«
Seth brauchte einen Moment, bis er begriff, was sie gerade vorgeschlagen hatte. »Du meinst… wir sollen uns diese Fabrik anschauen?«
»Ich würde sagen, uns bleibt gar nichts anderes übrig.«
Er schüttelte den Kopf. »Mir vielleicht nicht, aber dir schon«, sagte er mit fester Stimme. »Du hast mir wirklich schon genug geholfen. Und die haben gedroht, jeden umzubringen, der mir hilft, du hast es ja selbst gelesen. Ich kann nicht zulassen, dass du meinetwegen dein Leben riskierst.«
Alicia sah ihn an. »Ich habe Tall Jake auch gerufen«, sagte sie.
Seth schloss verzweifelt die Augen.
»Es war eine Mutprobe. Ich hab bloß aus Quatsch mitgemacht. Aber das ändert wahrscheinlich nichts.«
»Nein, leider nicht.«
Alicia sah mit zusammengekniffenen Augen die Straße hinunter. Sie hatte wahnsinnige Angst, gab sich aber alle Mühe, sie nicht zu zeigen.
Doch Seth merkte, dass ihre Entschlossenheit nur gespielt war. Sie wollte nicht in diese Sache hineingezogen werden. Viel lieber hätte sie sich umgedreht, wäre nach Hause gegangen und hätte alles vergessen, was sie jemals über Malice erfahren hatte. Aber dazu war es jetzt zu spät. Sie hatte die mörderische Bestie gesehen, die ihn verfolgt hatte, und die entsetzlichen Drohungen auf dem Bildschirm gelesen– das genügte. Sie glaubte ihm, und Seth wusste, was das bedeutete: Sie war dazu verdammt, den Rest ihres Lebens Angst zu haben, dass Tall Jake kommen und sie holen könnte.
Entweder lebte sie mit dieser Angst oder sie versuchte, etwas dagegen zu unternehmen.
»Bist du dir ganz sicher, dass du das tun willst?«, fragte er ernst.
»Natürlich will ich es nicht tun, was glaubst du denn!«, stieß sie hervor. »Deshalb schlage ich vor, dass wir uns beeilen, bevor ich es mir wieder anders überlege. Von hier aus sind wir mit dem Zug in einer Stunde in Birmingham.«
Seth glitt von der Mauer und setzte sich wieder seinen Rucksack auf. Der Shard fühlte sich schwer wie Blei an.
»Dann los«, sagte er.