2.Kapitel

David Namarra stand am Fenster und starrte in die Nacht hinaus, aber er sah nicht den großen Park vor dem Anwesen, sondern seinen Weg von hier fort. Die meisten Leute hätten das prachtvolle Anwesen im Norden Englands als Schloss betrachtet, für ihn war es ein Gefängnis, zwar eines mit goldenen Gitterstäben aber dennoch ein Gefängnis, und zwar eines, in dem er schon sein ganzes Leben eingekerkert war, oder besser gesagt fast sein ganzes Leben. Seit er denken konnte, bestand Davids Leben aus Pflichten. Kaum hatte er das Lesen und Schreiben erlernt, hatte er begonnen die Bücher des Zirkels zu studieren, die Geschichte und die Magie. Sein Vater, der Zirkelherr, hatte ihn selbst unterrichtet und ihm auch seine Verantwortung nahe gebracht, was auch die Leitung des Familienunternehmens betraf. David hatte noch nie in seinem Leben etwas außerhalb dieser strengen von Pflichten behafteten Welt des Zirkels getan, bis auf diese wenigen kostbaren Monate, damals vor fast fünfzehn Jahren. Ihm war schon früh beigebracht worden, dass eine spätere Verbindung zum Wohle des Zirkels zu erfolgen hatte, da der Zirkel sein einziger Lebenszweck war, hatte er das akzeptiert. Seine Magie, sein Wissen und das Geld seiner Familie würden ihn eines Tages zu einem der mächtigsten Männer dieser Welt machen, aber im Grunde genommen war er ein Sklave, ein Sklave des Zirkels. Es wäre ihm nie eingefallen sich dagegen aufzulehnen, dazu war die Stabilität der Magie zu wichtig für diese Welt, und er viel zu pflichtbewusst. Also verbrachte er sein Leben damit, seine magischen Fertigkeiten immer weiter zu verbessern, das Unternehmen seines Vaters immer erfolgreicher zu machen, und natürlich damit, Konkurrenten aus dem Weg zu schaffen. Denn Schwäche war ein Makel, und Makel waren für einen Namarra inakzeptabel, auch das hatte man ihm schon früh beigebracht. Als sein Vater ihm damals mitgeteilt hatte, dass er seine zukünftige Frau kennenlernen würde, hatte er eine weitere unangenehme Pflicht erwartet, bis er sie getroffen hatte, Anna Steiner, seine zukünftige Ehefrau. Er war damals siebzehn gewesen, sie zwei Jahre jünger, und ein richtiger Wildfang. Das hübsche blonde ungestüme Geschöpf hatte sein Herz im Sturm erobert, und das wohl ohne es zu wollen. Man hatte ihm zu verstehen gegeben, dass sie außerhalb des Zirkels aufgewachsen, und noch nicht mit ihren Pflichten vertraut gemacht worden war. Sie hatte vermutlich auch nichts von den Eheplänen geahnt, hatte sie ihn zwar liebevoll aber eindeutig nicht wie einen Mann behandelt. Er war sich nicht sicher, ob sie noch an ihn dachte, er hatte lange nichts von ihr gehört, aber für ihn war die Erinnerung an diese zwei Monate, die er in ihrer Nähe verbracht hatte, sein kostbarster Schatz. War es doch die einzige Zeit seines Lebens, in der er glücklich gewesen war. Er betete sie an, sie war für ihn wie ein voller Brunnen für einen Verdurstenden. Er gestattete sich ein Lächeln, nun war es endlich soweit, gerade eben hatte er die Einladung nach Hopes End erhalten, bald würden sie vereint sein, bald würde er wieder glücklich sein. Er hatte bisher noch nie eine Frau berührt, nicht weil sein Vater dagegen gewesen war, da er es als Ablenkung von den allgegenwärtigen Pflichten betrachtete, sondern einfach weil ihm der Gedanke eine andere Frau zu berühren, wie Verrat an seiner geliebten Anna vorgekommen wäre. Er galt als Eiskönig, den keine Frau reizen konnte, manche tuschelten sogar, er hätte nichts für Frauen übrig, auch wenn niemand es gewagt hätte, ihm das ins Gesicht zu sagen. Der Name Namarra stand sowohl im Zirkel als auch in der Geschäftswelt für Brillanz, Härte, Rücksichtslosigkeit und für Erfolg, er ebenso wie sein Vater wurden gefürchtet, aber Anna würde er dazu bringen ihn zu lieben. Er war kein Narr, es würde nicht leicht werden sie zu erobern, aber er würde es schaffen, egal was es ihn kostete, und wenn sein trostloses Leben ihn auf eines vorbereitet hatte, dann auf das Beseitigen von Hindernissen, Gnade Mutter Erde dem, der sich zwischen ihn und Anna stellen sollte.

Die gute Neuigkeit hatte Anna ihre Pläne für ihren ersten Abend in Freiheit gründlich verdorben. Statt in die Stadt oder zu ihrer Freundin zu gehen, hatte sie den Rest des Abends in der Bücherstube der Steiners verbracht und sich die Prophezeiung der Salia herausgesucht. Die hatte ihre Laune zwar nicht verbessert, aber dafür einiges an Klarheit in ihr Leben gebracht. Da ihre Eltern sie für dieses Erdenkind aus der Prophezeiung hielten, und die Verbindung mit einem Mann, sprich eine Ehe oder zumindest dauerhafte Beziehung so großen Einfluss auf die Magie haben sollte, war ihr klar geworden, warum ihre Eltern jeden potenziellen Ehemann verscheucht hatten, und warum sie auf die Ehe mit David bestanden. Sie hielten den Briten wohl für die richtige Wahl, und nachdem ihre Wut sich erst mal abgekühlt hatte, musste sie zugeben, dass sie recht haben könnten. Auch ihre Vision, die sie seit Monaten verfolgte, begann Sinn zu machen. Der Brand und die Blutflut standen vermutlich für das Schicksal der Magie, falls sie die falsche Wahl treffen sollte. Es war nie ratsam den Rat der Magie zu missachten, oder ihre Regeln, darum hatte sie damals ihrer Freundin auch nur mit dezenten Hinweisen geholfen, damit die Regeln wenigstens nur verbogen und nicht gebrochen wurden, aber diesmal würde sie nicht so leicht davonkommen. Ob David tatsächlich die richtige Wahl war, wusste sie nicht, aber sie hoffte auf ein Zeichen der Magie, wenn er erst mal da war. Sollte so ein Zeichen allerdings bekunden, dass er der Falsche war, hatte sie erst recht Probleme, denn davon würde sie den Zirkel oder auch nur ihre Eltern nie überzeugen können. Sie rief sich die Zeit damals ins Gedächtnis, David war zwei Jahre älter als sie, also war er jetzt zweiunddreißig, sie hatte keine Ahnung, wie er jetzt aussah, damals war er ein hochgewachsener aber viel zu dünner Junge gewesen, dessen an sich hübsches Gesicht immer viel zu ernst war. Aber sie hatte es geschafft ihn zum Lachen zu bringen, und dazu, ein paar harmlose Regeln zu übertreten. Als sie an seinen Vater, den Zirkelherrn dachte, stieg Mitleid in ihr auf, der Kerl war furchtbar, er hatte nie auch nur ein nettes Wort für seinen Sohn übrig gehabt, egal wie sehr der arme Junge sich bemüht hatte, nie war es genug gewesen. Sie hatte David wirklich gemocht, aber eher wie den älteren Bruder den sie nie gehabt hatte, nicht wie einen Jungen. Sie versuchte sich ihn als Ehemann vorzustellen, er würde vermutlich sehr zuverlässig sein, sehr pflichtbewusst und sehr nett zu ihr, vor einem Jahr wäre das neben ihren kleinen lockeren Geschichten, die sie sich neben ihrem braven Hexenleben im Geheimen genommen hatte, nicht so schlecht gewesen. Aber wenn sie jetzt an einen Partner dachte, tauchte immer das Bild von Lukas und Jess vor ihr auf. Der Gedanke an die innige Liebe und die prickelnde Leidenschaft die ständig um die Beiden in der Luft zu flirren schien weckte Sehnsucht in ihr, und nun da sie ihre Zukunft kannte tiefe Niedergeschlagenheit. Anna, die sich während ihrer Grübeleien fürs Bett fertiggemacht hatte, kniete sich jetzt davor hin, und murmelte: „Bitte Mutter Erde, ich weiß ich bin nicht wichtig im Vergleich mit der Magie an sich, aber bitte hilf mir, ich will so nicht leben.“ Es kam keine Antwort, aber das hatte sie auch nicht erwartet, so funktionierte die Magie nicht, wenn sie überhaupt eine Antwort erhalten sollte, dann würde sie eine Vision haben, und diesmal hoffentlich nicht nur wieder diesen bescheuerten Albtraum.“

Als ob die Magie sie verhöhnen wollte, war sie schon wieder in dem brennenden Wald, sie rannte wieder auf den alten Baum zu. Wie immer begann es auf dem Weg dorthin, Blut zu regnen. Als sie aber am verkohlten Stumpf ankam, veränderte sich die Vision. Neben dem Stumpf stand ein Mann, er war groß, gut trainiert, wenn auch eher auf schlanke sehnige Weise, sein Haar war hellbraun, aber seine Augen völlig untypisch für diese Haarfarbe hellblau. Es waren diese Augen, an denen sie ihn erkannte, obwohl er über ein Jahrzehnt älter geworden war. „David“, flüsterte sie, er lächelte sie an, streckte ihr die Hand entgegen und sagte zärtlich: „Anna, ich habe so lange auf dich gewartet, komm zu mir.“ Dabei sah er sie so voller Liebe und Sehnsucht an, dass sie instinktiv die Hand ausstreckte, um seine zu ergreifen. Aber kurz bevor ihre Finger sich berührten, erklang aus der Ferne ein klagendes Heulen. Anna fuhr herum, um die Quelle zu finden. Sie fand sie einige Meter hinter sich, ein Wolf stand mitten in der abgebrannten Landschaft und starrte sie an. Ihr erster Gedanke galt dem Mann ihrer Freundin, aber er war es nicht, denn das Fell dieses Wolfes war rot, und ein schneeweißer Streifen zog sich vom Kopf bis zu seinem Schwanz über das ganze Fell. Als sie ihn nun endlich ansah, heulte er noch mal kurz auf, es klang wie eine Auforderung, dann wandte er sich um und begann zu laufen. Sie verstand nicht warum, aber sie musste, dem Wolf folgen, als sie begann ihm nachzulaufen schrie David hinter ihr gequält auf: „Anna, verlass mich nicht.“ Anna zögerte kurz, der Schmerz in Davids Stimme berührte sie, aber das Verlangen dem Wolf zu folgen war stärker. Sie lies den Mann zurück und folgte dem Wolf. Sie rannten über den kahlen blutbesudelten Boden, er immer knapp vor ihr, durch die Stadt, die Landstraße, bis sie bei dem Truckstopp zwei Meilen vor der nächsten Stadt ankamen. Dort öffnete sich die Tür, und der Wolf schlüpfte ins Gebäude. Mit ihm verschwand auch das unwiderstehliche Bedürfnis ihm zu folgen. Anna blieb stehen und sah sich um, aber da war nur der Parkplatz und die abgestellten Autos, sonst nichts, was immer die Magie ihr zeigen wollte, war in dem Gebäude. Gerade als sie den ersten Schritt auf die Tür zu machte, erklang plötzlich Davids schmerzliche Stimme hinter ihr, „Warum willst du ihn? Du gehörst zu mir, das musst du doch wissen. Wir werden die Welt verändern, wir werden den Zirkel verändern, du und ich.“ Anna war herumgefahren und sah, dass er so knapp bei ihr stand, dass sie ihn fast berührte und sie sah die Tränen auf seinem Gesicht. Sie streckte die Hand aus um sie wegzuwischen, aber sie berührte nur Stoff, denn in diesem Moment wachte sie auf. Anna schüttelte sich, um wieder ganz zu sich zu kommen, so intensiv war die Vision gewesen. Da hatte sie ihre Antwort, das Dumme daran war nur, sie wurde nicht schlau daraus. David spielte in ihrer Zukunft zweifellos eine Rolle, aber warum war sie zum Truckstopp geführt worden, von einem Wolf? Schlimmer noch, diesmal endete die Magie nicht mit der Vision, sie verspürte wieder den Drang in den Truckstopp zu gehen. Die Magie rief sie und Anna beschloss ihr zu folgen.